100 Jahre Dada: Zem Firm Am Ent

Das Züricher Cabaret Voltaire ist der Geburtsort des Dada. Lange vergessen, wird dort nun das Jubiläum gefeiert. Mit allen Widersprüchen.

Innenansicht aus dem cabaret voltaire

Das Cabaret Voltaire fröhnt der Erinnerung an die eigene Geschichte. Foto: dpa

ZÜRICH taz | Übrig geblieben ist nur eine grau-blaue, leicht angeschlagene Säule aus Stein und Gusseisen. Sie steht noch immer im hinteren Raum des Cabaret Voltaires in der Spiegelgasse 1, wo die Dadaisten einst ihr Publikum herausforderten. Gemäß Überlieferungen waren die Wände schwarz und die Decke blau bemalt. Vor dieser Säule trafen 1916 vom Ersten Weltkrieg geflohene Dichter und Künstler aus Deutschland und Rumänien aufeinander – Hugo Ball, Emmy Hennings, Tristan Tzara, Richard Huelsenbeck, Hans Arp –, probierten sich aus und fassten ihre Antikunst als „Dada“ zusammen.

Sie liebten den Zweifel und hassten Definitionen, sie sangen und stampften, gern auch im Pappkarton, um in Ekstase zu geraten. Unterdessen führt nur noch der Notausgang direkt auf die Spiegelgasse hinaus. Lenin wohnte nur wenige Hausnummern weiter oben, auf seinem Heimweg vom Lesesaal der Museumsgesellschaft an der Limmat kam er unweigerlich am Eingang zum Cabaret Voltaire vorbei, sah womöglich hinein – ob er selbst auch Publikum war, ist dagegen unbestätigt (Hans Arp: „Einige meiner Freunde behaupteten, ihn im Cabaret Voltaire gesehen zu haben.“).

Heute sitzt hier rund um die Säule auf harten Holzstühlen eine Schulklasse, die sich einen Mini-Hugo-Ball in grauem Pappkarton durchreichen und Dada erklären lässt. Die Vorbereitungen für das Jubiläum laufen auf Hochtouren, unten in der Krypta, vermutlich dem ehemaligen Weinkeller der Meierei, zimmern Techniker eine Bühne zusammen für eine Veranstaltungsreihe mit Una Szeemann, der Tochter des legendären Schweizer Kurators, der sich in den Sechzigern mit Dada auseinandersetzte. Oben im Saal liegt der Stadtplan mit Dada-Orten auf der Theke.

Es gibt viele Orte in Zürich, die einen Bezug zu Dada haben, nicht an allen Gebäuden hängt eine Gedenktafel wie am Cabaret Voltaire. Einige Orte würde man niemals wiedererkennen, etwa die Fassade des Hotels Elite, wo einst das Gruppenfoto von Arp, Tzara und Richter entstand. Den pausbäckigen Jüngling, der als Fassadenrelief im Hintergrund genauso schelmisch wie die drei Dadaisten in die Kamera blickte, sucht man vergebens.

Touristen auf Spurensuche

Im Cabaret Voltaire, diesem uralten, schiefen Haus mit pastellig orangefarbener Fassade, dagegen quetschen sich Touristengruppen durch das enge Treppenhaus in den ersten Stock, um dann ein bisschen verloren in diesem Raum zu stehen und zu fotografieren, was es zu fotografieren gibt: unverputzte Wände mit ein paar gerahmten Bildern, zwei Säulen (die eine, die grau-blaue eben, nicht wirklich erkennbar historisch), bunt zusammengewürfeltes Holzmobiliar und Kabel unter der Decke. Hier stand also Hugo Ball und sprach sein erstes Lautgedicht „Gadji beri bimba“.

Die Geschichte des historischen Cabaret Voltaire, das die Dada-Bewegung begründete, beschränkt sich auf wenige Monate: Hugo Ball und Emmy Hennings, die Ende Mai 1915 nach Zürich kamen, lernten die „Meierei“ und deren Wirt Jan Ephraim an der Spiegelgasse kennen. Im Januar 1916 handelten sie aus, den oberen kleinen Saal der Meierei vorübergehend als „Künstlerkneipe“ zu nutzen.

Um ein dadaistisches Gedicht zu machen, empfahl der rumänische Schriftsteller und Dichter Tristan Tzara (1896-1963): Nehmt eine Zeitung/Nehmt Scheren./Wählt in dieser Zeitung einen/Artikel von der Länge aus, die/Ihr Eurem Gedicht zu geben/Beabsichtigt./Schneidet den Artikel aus./Schneidet dann sorgfältig jedes/Wort dieses Artikels aus und gebt/Sie in eine Tüte./Schüttelt leicht./Nehmt dann einen Schnipsel nach/Dem anderen heraus.

Das Grundmaterial des Dadaismus ist also die Zeitung. Deshalb feiern wir den 100. Geburtstag der künstlerischen und literarischen Bewegung am 5. Februar 2016 mit einer Dada-taz.

Und hier im Internet? Einfach die Anleitung von oben befolgen: Wörter zusammensetzen Mit der dem die neu aus Bildschirm dann Schere schneiden und schütteln. Hch. U.

Am 19. Januar wurde dem Polizeivorstand ein entsprechendes Gesuch eingereicht, kaum zehn Tage später wurde es „auf Zusehen“ bewilligt. Worauf ab dem 5. Februar bis zum Sommer „täglich außer freitags“ Veranstaltungen stattfanden, die schnell für Furore sorgen sollten (Emmy Hennings: „Ich gehe morgens früh nach Haus.“).

Anfänglich finanzierten Hennings und Ball diese durch Garderobeneinnahmen, später durch Eintrittskarten, die im Reisebüro Kuoni am Bahnhofplatz vorverkauft wurden. Im Juni war der Spuk vorbei, die Dadaisten zogen weiter, hinunter zum Münsterhof, wo sie im Zunfthaus zur Waag Dada-Manifeste verlasen, ein paar Jahre später weiter ins Tessin, nach Paris oder nach New York. Die Meierei wurde wieder zur Meierei, später zu einem Pub, danach zu einem Puff und geriet so langsam, aber sicher in Vergessenheit.

Wiederaneignung durch Besetzung

Unterdessen heißt das Cabaret Voltaire wieder Cabaret Voltaire. Seit 2004 finden hier kuratierte kulturelle Veranstaltungen statt, die durchaus auch von UBS-Mitarbeitern besucht werden. Während sich im vorderen Bereich Jugendliche betrinken, weil das Bier 50 Rappen günstiger ist als anderswo. An der Theke begegnen sich zuweilen beide Gruppen, was den Organisatoren recht ist, schließlich berufen sie sich auf den Charakter des „Künstlertreffs“ von einst, auch wenn hier mittlerweile kaum noch ein Künstler sein Bier trinkt.

Das heutige Cabaret Voltaire hat in Zürich keinen leichten Stand: Entstanden ist es durch eine legendäre Besetzung der Entourage um den tschechisch-schweizerischen Künstler Mark Divo mit Jahrgang 1966, der sich selbst als Neo- oder Antidadaist beschreibt und von anderen gern auch als „König des Dada“ beschrieben wird. Ihm schien es vonnöten, „der Zürcher Szene den Dadaismus näher zu bringen,“ wie er in einem Buch rückblickend die Besetzung erläuterte.

2002 hatte Divo vom Leerstand des Gebäudes erfahren. Die Besetzer verkleideten sich als Geschäftsleute und Buffetdamen in Anzügen, erzählten der Polizei, sie hätten das Haus „sozusagen“ geerbt und boten den Beamten zu Grammofonklängen Häppchen an. Damit waren die ersten Internationalen Dada-Festwochen geboren und Zürich erlebte seinen ersten kleinen Dada-Boom nach 1916. „Wir betrieben im Cabaret Voltaire ein Begegnungszentrum mit Gästebetrieb, in dem kollektiv gelebt, veranstaltet und an dem Potenzial der unlogischen Zone geforscht wurde“, erinnert sich Pastor Leumund an jene Tage.

Die Stadt brauchte ihre Zeit, bis sie die Zusammenhänge verstand und reagierte. Der Sohn des Swatch-Gründers und damit Millionär, Nick Hayek, mischte sich ein und unterstützte nach der Hausbesetzung mit neuen, jetzt offiziell ausgewählten Kuratoren den Betrieb, damit das Cabaret als öffentlicher Kulturort betrieben werden konnte. Die Stadt übernahm per Volksentscheid die Miete und erteilte einen kulturellen Leistungsauftrag zur Vermittlung und Aktualisierung von Dada heute.

Seit dem Wegfall von Swatch und ausbleibender Unterstützung von privaten Stiftungen fehlt jedoch seit 2011 das Geld, um diesen Auftrag umzusetzen. Und mit der Idee des Widerstands und dem interdisziplinären Ansatz ist Dada nicht unbedingt das, was sich besonders gut mit offizieller Kulturpolitik verbinden lässt. Was Nora Hauswirth vom Cabaret Voltaire, zuständig für Kommunikation und Marketing, durchaus als Widerspruch sieht, aber auch pragmatisch zusammenfasst: „Wir können nicht laut sein, wir werden erzogen.“ Auch aus diesem Grund werden die Besucher des Cabaret zuerst durch einen sauber ausgeleuchteten Shop geschleust, der nicht nur Literatur von und über Dada verkauft, sondern auch allerhand Scherz- oder Designartikel.

Jubiläum feiern

Für das Jubiläumsjahr wurde vor vier Jahren der Verein dada100zürich2016 gegründet – in richtig schweizerischer Manier, wie Kurator Juri Steiner schmunzelnd erzählt, der ihn leitet. Er vernetzte Institutionen, um gemeinsam das Dada-Jubiläum zu begehen. „Groß überreden mussten wir dazu niemanden“, sagt er. Dabei streiten sich jene, die sich mit Dada auskennen darüber, inwiefern die Dada-Bewegung beerbt werden soll, ob überhaupt und welche Rolle dabei die quasi stadteigene Tourismusabteilung spielen soll.

Fragt man die Besetzer, die seit 2002 regelmäßig Dada-Festwochen organisiert haben, erfährt man, dass Zürich trotz Jubiläumsjahr so „un-dadaistisch wie noch nie“ sei. Mark Divo illustriert diese Aussage mit gut gespielter Entrüstung, mit einer Anekdote seines Swiss-Fluges, während dem er im Magazin der Airline von skurrilen Zusammenschlüssen wie „Dada Ambassadors“ (das Zürcher Luxushotel Ambassador zeigt vom Dada-Kurator persönlich gemalte Porträts von Dada-Persönlichkeiten) und der Crowdfunding-Aktion für Dada-Feiertage las.

Genau deswegen hätten sie damals bei der Besetzung vorausschauend mehrmals insgesamt 6.000 Franken in Form von Einfränklern zum Fenster hinausgeworfen, erzählt Mark Divo weiter, um aufzuzeigen, dass mit einer Institutionalisierung schlicht nur Geld zum Fenster hinausgeworfen würde. Schnalzt laut mit der Zunge, ruft seine Hunde, die er in Prag gerade spazieren führt, und beendet das Telefonat, weil er weitermuss.

Auch Pastor Leumund, der wieder in Berlin lebt, wird für das Dada-Wochenende zwar nach Zürich reisen und sieht durchaus ein, dass jemand die Miete zahlen muss, stellt aber gleichzeitig in konsequent dadaistischer Manier das Jubiläum per se infrage: „Dada wird immer die angewandte Infragestellung des herrschenden Systems bleiben. Solange die Profiteure von Krieg und Stumpfsinn weiterhin unseren Horizont bestimmen, bleibt Dada Zement am Firmament. Für mich ist die Frage nicht, was ist von Dada übrig, sondern, was ist seit Dada von der Wirklichkeit übrig.“

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