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100 Jahre Frantz FanonMythen waren nicht sein Ding

Frantz Fanon wurde oft verklärt als Held oder als Gewaltprediger. Philipp Dorestal zeigt in einer Neubetrachtung, wie aktuell sein Denken bleibt.

In nur 36 Jahren Lebenszeit schuf Frantz Fanon ein beeindruckendes Werk Foto: Kharbine-Tapabor/imago

Erinnerungen an Frantz Fanon tendieren immer dazu, ins Mythische zu kippen. Mal werde er als prophetischer Befreier verehrt, mal als Gewalt­apostel verdammt. Das schrieb der postkolonalistische Theoretiker Homi K. Bhabha in den 1980er Jahren. Der Historiker Phi­lipp Dorestal hat sich dagegen eine „nüchterne Relektüre“ vorgenommen, um sich dem Denker und Aktivisten der Dekolonisierung zuzuwenden. Die ist ihm gelungen.

Obwohl das gar nicht so einfach ist, denn Frantz Fanon hat alles Zeug zum Mythos: Geboren und aufgewachsen auf Martinique, kämpfte er im Zweiten Weltkrieg als französischer Soldat gegen die Wehrmacht, studierte in Paris, arbeitete später als Psychiater in Algerien, wo er in die antikoloniale Widerstandsbewegung hineinwuchs und zu einer wichtigen Stimme der antikolonialen Bewegungen in Afrika und weltweit wurde. Er ist Autor grundlegender Werke über die Funktionsweisen des Rassismus („Schwarze Haut, weiße Masken“, 1952) sowie über die psychologischen Auswirkungen der kolonialen Herrschaft und Strategien des antikolonialen Kampfes („Die Verdammten dieser Erde“, 1961). Und das in nur 36 Lebensjahren. 1925 geboren, starb er 1961, im Jahr vor der algerischen Unabhängigkeit, an Leukämie.

Wurde Fanon in den 1960er Jahren in Befreiungsbewegungen und den aktivistischen Debatten auch der Studierendenbewegungen im Westen diskutiert, fand die Rezeption seiner Werke später verstärkt in universitären Kreisen statt. Cultural Studies und Postcolonial Studies beriefen sich auf seine Schriften, die, wie diese Wissenschaftszweige, selbst interdisziplinär waren. Getrieben von der Notwendigkeit politischer Praxis, bedienen sich Fanons Texte verschiedener Einflüsse aus Philosophie und Soziologie, Psychologie und Literatur.

Von Simone de Beauvoir inspiriert

Die koloniale Situation ist der Dreh- und Angelpunkt von Fanons Denken. Ihn als Denker der Dekolonisierung zu beschreiben, wie ­Dorestal es tut, ist schlüssig. Fanon beschreibt den kolonialen Rassismus als gewaltbasiertes Verhältnis, das sich auch in der Sprache, den Denkweisen und Blicken sowohl der Kolonisatoren wie der Kolonisierten niederschlägt. In Anlehnung an Jean-Paul Sartre analysiert er, wie Menschen durch Blicke zum Objekt gemacht werden.

Frantz Fanon thematisiert die psychologischen Effekte des Rassismus, die Rolle der Körper für seine Reproduktion und die Konstruktion von Minderwertigkeit. Dorestal stellt Fanons Auseinandersetzungen mit den Schriften von Aimé Cesaire (1913–2008) und Albert Memmi (1920–2020) dar und er stellt auch gekonnt Bezüge zur afrodeutschen Debatte der Gegenwart her. Auch dass Fanon von Simone de ­Beauvoirs Beschreibung von Diskriminierungserfahrungen inspiriert war, hebt Dorestal hervor. Zugleich bleiben Frauen aber bei Fanon häufig ausgeblendet. Zwar widmet er sich der veränderten Rolle von Frauen im antikolonialen Befreiungskampf in Algerien, die Schwarze deutsche Theoretikerin, Aktivistin und Poetin May Ayim (1960–1996) fragte aber nicht ohne Grund in Richtung Fanon: „Wo bleibt die schwarze Frau?“

Als Psychiater, Revolutionär und Theoretiker verstand Fanon seinen Antirassismus auch als Weiterentwicklung der Marx’schen Entfremdungstheorie. Schwarze bleiben sich demnach selbst gegenüber strukturell fremd. Sie können kaum einen positiven Bezug zu sich als Subjekt entwickeln, weil Schwarzsein historisch mit negativen, rassistischen Charakteristika verknüpft ist. Es gelte, die Kolonisierten auch „von sich selbst zu befreien“, von ihrer Übernahme kolonialer Muster. Es geht Frantz Fanon immer auch um die „Dekolonisierung des Bewusstseins“, auch bei Weißen.

Dass bei Fanon die Bewegung „durch den gewaltsamen Aufstand zum Subjekt“ verläuft, gibt Dorestal unkommentiert wieder. Die Unterdrückten können sich nach Fanon nur befreien, indem sie die durch den Kolonialismus erfahrene Gewalt gegen diesen selbst wenden. Dass die koloniale Gewalt als Bumerang wieder zurückkommt und als antikolonial ausgerichtete Gegengewalt westliche Metropolen trifft, schien unausweichlich. An­ti­im­pe­ria­lis­t*in­nen wie Che Guevara und verschiedene Stadtguerillas haben diesen Prozess aktiv zu fördern versucht.

Die Vielschichtigkeit von Fanons Denken spottet den Versuchen, ihn als Prediger der Gewalt darzustellen

Die ungeheure Vielschichtigkeit von Fanons Denken, das zeigt Dorestals Buch, spottet den Versuchen, ihn als Prediger der Gewalt darzustellen. Dennoch war er auch das. So interpretieren ihn auch nicht nur seine Gegner*innen. Von Jean-Paul Sartres berühmtem Vorwort zu „Die Verdammten dieser Erde“ bis zum neuen Vorwort in Alice Cherkis Fanon-Biografie (2024) von Natasha Kelly und Zaphena Kelly wird er auch von jenen zustimmend als Befürworter von Gewalt beschrieben, die viele seiner Positionen teilen.

Dennoch ist Frantz Fanon, der am 20. Juli hundert Jahre alt geworden wäre, nach wie vor auch für die antirassistische Theorie und Praxis ebenso bedeutend wie es seine Analysen des Rassismus bis heute sind. Nicht zuletzt auch deshalb, weil er Vorstellungen einer glorreichen kollektiven Vergangenheit ebenso ablehnte wie Konzepte, die für rassia­lisierte Gruppen irgendwelche Wesensgleichheiten behaupten. Mythen waren nicht sein Ding.

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3 Kommentare

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  • Die Verdammten dieser Erde. Wenn ich heute in Frantz Fanons wichtigstem Werk blättere, einer Gewohnheit folgend wieder einmal von hinten nach vorne, stoße ich im Kapitel 'Kolonialkrieg und psychische Störungen' auf diese Stellen, die auf ausführliche Fallbeispiele folgen:



    "Unter den Charakterzügen des algerischen Volkes, wie sie der Kolonialismus geschaffen hatte [!], können wir eine erschreckende Kriminalität festhalten. [...] Der Algerier, behauptete man, ist ein geborener Krimineller. [...] Die bevorzugte Waffe ist das Messer. Die Richter, 'die das Land kennen', haben sich eine kleine Philosophie über dieses Thema zusammengebastelt. [...] Diese Richter, Polizisten und Ärzte halten ganz ernst gemeinte Reden über die Beziehungen der islamischen Seele zum Blut."



    Früher haben wir 'L'Etranger' von Albert Camus im Schulunterricht lesen lassen, das Psychodrama eines messerstechenden Einzeltäters: hohe Literatur für eine kleine Elite... Heute sollten wir uns stattdessen Auszüge aus 'Die Verdammten dieser Erde' von Frantz Fanon vornehmen.



    Nachbemerkung: Parallelen zwischen Demagogen im kolonialen Algerien früher und der AfD heute sind nicht zufällig, sondern absichtlich

  • empfehle



    Frédéric Ciriez / Romain Lamy



    Frantz Fanon



    Die von der französischen Kritik begeistert aufgenommene Graphic Novel bietet eine intellektuelle und politische Biografie Frantz Fanons. Sie ist ein so kluges wie originelles Buch über Rassismus, Kolonialismus, Gewalt, Gegengewalt und Befreiung.

    Rom, im August 1961: Simone de Beauvoir, Claude Lanzmann und Jean-Paul Sartre treffen sich zum ersten Mal mit Frantz Fanon. Während der folgenden drei Tage entwickeln sich in Restaurants, Cafés und auf Spaziergängen Gespräche zwischen vier der bedeutendsten intellektuellen Köpfe dieser Zeit.

    Frantz Fanon, Schriftsteller, Psychiater und Vordenker der Dekolonisation, erzählt aus seinem Leben und von seiner Arbeit: 1925 auf der Insel Martinique, einer französischen Kolonie, geboren, kämpfte er freiwillig im Zweiten Weltkrieg gegen das nationalsozialistische Deutschland, studierte in Lyon, arbeitete als Arzt 
und war schließlich für die Nationale Befreiungsfront in Algerien tätig. Zu seinem wichtigsten Buch, Die Verdammten dieser Erde, Analyse des Kolonialismus und Kampfschrift zugleich, verfasst Sartre im Jahr ihres Treffens das Vorwort.



    Über Frédéric Ciriez / Romain Lamy



    Frédéric Ciriez

  • „Die Verdammten…“ war ein Game Changer in meiner Entwicklung, so umfassend und schonungslos die Unterdrückung offen zu legen und bloßzustellen, ist bei eigener Betroffenheit aus verständlichen Gründen von Wut begleitet. Dennoch habe ich ihn nicht als Gewaltprediger empfunden, in meinem Augen predigte er (wenn überhaupt) einen berechtigten Widerstand. Bei den Sprachen, Denkweisen, Objektifizierungen und Konstrukten der Minderwertigkeit – über Jahrhunderte im Patriarchat betrieben und vom Kapitalismus der Kirche abgenommen – sind Frauen ebenfalls von Benachteiligungen betroffen, die gesellschaftlich wesentlich etablierter sind und dank des repressiven Backslashs frischen Aufwind bekommen. So ist die Frage nach der schwarzen Frau nicht unberechtigt und von späteren Autorinnen wie Emilia Roig „Why we matter“ sehr gut aufgearbeitet worden. Simone de Beauvoir umschiffte das Thema leider in ihrer sonst schlüssigen Analyse. Fanon hat nicht an Brisanz verloren und gehört angesichts der politischen Entwicklung in jeden geschichtlichen Unterricht.