100 Tage Merz-Regierung: Kein Rezept gegen rechts
Das Versprechen von Schwarz-Rot war, unaufgeregt zu regieren und ein Schutzschirm gegen die AfD zu sein. Bisher ist beides misslungen.
D ie Welt ist aus den Fugen. Nach Corona kam der Ukrainekrieg, danach Inflation und drei Jahre Rezession. Das Versprechen der Merz-Regierung, die nun 100 Tage amtiert, ist es, diese Krisen handhabbar zu machen und eine Art bundesdeutsche Normalität wiederherzustellen. Das war die Botschaft von Friedrich Merz’ forscher Ansage, dass die Deutschen schon im Sommer die segensreichen Wirkungen seiner Regierung bemerken würden.
Dabei hat Schwarz-Rot in der Tat ein ziemliches Tempo vorgelegt. Die lähmende Schuldenbremse wurde weitgehend gelöst. Der Staat investiert in Verteidigung und Infrastruktur. Merz steht für die kulturkonservative Reinszenierung der Republik ohne Gendersternchen und refugees welcome. CSU-Innenminister Alexander Dobrindt setzt auf eine Abschottungspolitik bis über die Grenzen des Legalen hinaus. Die SPD spielt etwas verhuscht die Rolle als Wächter des Sozialen und des Garanten, dass das konservative Rollback im bundesdeutschen Normalmaß bleibt. Eine selbstgewählte Überschrift für Schwarz-Rot nach 100 Tagen wäre: Sicherheit.
Raison d’être von Schwarz-Rot ist (oder muss man sagen: war?) das Versprechen, professionell und unaufgeregt zu regieren. Da ist die Bilanz eher ernüchternd. Der Kanzler und seine Vertrauten Jens Spahn, Carsten Linnemann und Thorsten Frei verfügen über wenig Regierungserfahrung. Das Versagen des Kanzleramts bei der Stromsteuer, Merz’ erratisch wirkende außenpolitischen Schwenks und Spahns dröhnende Unfähigkeit beim Eklat um die gescheiterte Kandidatur von Frauke Brosius-Gersdorf für das Amt der Verfassungsrichterin waren trotzdem verblüffend.
Das mag Lehrgeld gewesen sein. Regieren ist ja auch ein Handwerk. Schwerer wiegt, dass ein zentraler Grund für Schwarz-Rot bröckelt – nämlich ein Schutzschirm gegen rechts zu sein. Der Fall Brosius-Gersdorf hat gezeigt, wie hilflos die Union auf Angriffe von rechts reagiert. Die AfD will die Union mit Kulturkampf-Kampagnen spalten. Bei Merz und Frei ist diese Gefahr noch gar nicht angekommen – von Gegenstrategien ganz zu schweigen. Die einzige Idee ist bislang das Modell Dobrindt, also der Versuch, die AfD mit harter Anti-Migrations-Politik auf ihrem eigenen Feld zu schlagen. Die SPD feiert sich gern als Bastion des Antifaschismus. Aber solche moralbetonten Selbstinszenierungen verdecken eher, dass die SPD kein Rezept gegen rechts hat.
Ein schneller Zerfall von Schwarz-Rot ist unwahrscheinlich. Die Alternativen sind zu abschreckend, das diszipliniert. In der alten Bundesrepublik war die Mitte Hort des Pragmatischen, Effektiven, Sicheren. Das ist vorbei. Die Mitte wackelt.
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