1.333 Tage Krieg in der Ukraine: Wenn nachts der Hornhecht ruft
Angeln im Schwarzen Meer ist gefährlich, wegen der Minen. Aber unser Autor kommt aus Odessa – und seine Lust auf frischen Fisch ist stärker als die Angst.
J eden Herbst findet sich an den Stränden von Odessa eine stetig wachsende Zahl von Menschen in Windjacken ein. Sie schwenken ihre Angelruten in der Hoffnung, in der rauen See etwas zu fangen – die Meeresfischerei hat Hochsaison. Selbst der Krieg konnte die Leidenschaft der Fischer nicht dämpfen.
Für die Menschen in der Ukraine ist der Krieg zum Alltag geworden. Trotz der Todesangst vor Luftangriffen und Kämpfen geht das Leben weiter: Die Menschen gehen zur Arbeit, zur Schule und zur Uni. Sie lieben, lachen, heiraten, bekommen Kinder, machen Urlaub. Sie trauern, sorgen sich – und hoffen auf Frieden. ➝ zur Kolumne
Seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine ist es verboten, mit Fischerbooten das Schwarze Meer zu befahren. Berufsfischer haben sich in Flussmündungen und Seen zurückgezogen. Doch selbst im ersten Kriegsherbst kehrten Hobbyangler trotz Beschuss an ihre vertrauten Küsten zurück. Die Strände waren vermint und die Piers geschlossen, doch von einigen Uferabschnitten aus war das Fischen weiter möglich. 2022 ignorierten die Patrouillen diese Verrückten und versuchten lediglich, sie von den Piers fernzuhalten. Jetzt wimmelt es sogar dort von Fischern.
Was gibt es Schöneres als Fischen an einem klaren Herbsttag? Auf der einen Seite erklingt Musik – das Delphinarium ist geöffnet. Auf der anderen Seite machen Gesundheitsbegeisterte Yoga. Auch unter ihnen finden sich Fischer. Sie haben ihre eigenen meditativen Übungen: Auswerfen und Einholen, Auswerfen und Einholen.
Hornhecht, Grundel und Steinbutt
So fangen sie auch Hornhechte – eine Fischsorte, die ortsanssäsige Feinschmecker wegen ihres köstlichen Geschmacks besonders schätzen. Auch Meeräschen, Heringe und Grundeln werden hier gefangen. Später am Tag kommen dann die Stockangler, da die Fische nach Sonnenuntergang am besten anbeißen. Doch in der zweiten Novemberhälfte, wenn der Wind heult und Stürme einsetzen, sind die Strände in der Hand von Steinbuttspezialisten.
Freiberuflicher Journalist und lokaler Produzent aus der ukrainischen Hafenstadt Odessa. Seit Beginn der russischen Großoffensive in der Ukraine begleitet er ausländische Journalisten, unter anderem in die Frontgebiete. Der Autor war Teilnehmer eines Osteuropa-Workshops der taz Panter Stiftung.
Ist das gefährlich? Natürlich! In der Ukraine ist jetzt alles gefährlich. Es ist gefährlich, an unbewachten Stränden zu schwimmen, weil man auf eine Mine treten könnte. Es ist gefährlich, draußen unterwegs zu sein und den Luftalarm zu ignorieren.
Das Leben generell ist gefährlich, denn man könnte sterben. Doch niemand möchte nur noch innerhalb der engen Grenzen eines Luftschutzbunkers leben. Man möchte den Sonnenaufgang sehen, Meeresluft atmen und frischen Fisch genießen. Unter der Bedrohung durch Minen, inmitten des Lärms von Flugabwehrgeschützen, die Drohnen abschießen, neben patrouillierenden Marineschiffen, legen Fischer ihre Angelruten aus. Und dort tummeln sich auch Urlauber und schwimmende Kinder.
Artem Perfilov, Odessa
Als Kind bin ich auch im Meer geschwommen und habe über die seltsamen Leute mit den Angelruten auf den Piers gestaunt. Jetzt stehe ich auf dem Pier und wundere mich über die seltsamen Leute, die schwimmen gehen. Ich bin übrigens auch einer dieser Angler. In jeder Herbstnacht kommt es mir so vor, als würde irgendwo draußen auf dem Meer ein Hornhecht nach mir rufen. Und ich folge diesem Ruf. Ich wache auf und betrachte die ukrainische Flagge am benachbarten Hochhaus. Der Wind ist schwach und kommt nicht von Süden, es ist teilweise bewölkt, gute Bedingungen also.
In Maismehl gewendet – und dann ab in die Pfanne
Ich komme am Lansheron-Strand an, begrüße die einheimischen Fischer, werfe meine Angel einmal aus, zweimal … beim dritten Mal beißt einer an – ein Hornhecht. Und da kommt auch schon der zweite! Urlauber mit Kindern nähern sich. Sie erkundigen sich nach dem Fang und bestaunen die exotische Unterwasserwelt. „So etwas können wir bei uns in Cherson nicht fangen!“, sagen sie. Ich antworte: „Selbst in Odessa weiß nicht jeder, was hier gefangen wird.“
Dieser Artikel wurde möglich durch die finanzielle Unterstützung des Recherchefonds Ausland e.V. Sie können den Recherchefonds durch eine Spende oder Mitgliedschaft fördern.
Bis zum Abend werden es fünfzehn oder zwanzig Fische (sie sind klein). Dann gehe ich nach Hause, säubere die Hornhechte, wende sie vor dem Braten in Maismehl und schenke mir ein Glas regionalen trockenen Weißweins ein. Und plötzlich scheint es, als ob es ihn nicht gebe, diesen Krieg …
Aus dem Russischen Barbara Oertel
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