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1.344 Tage Krieg in der UkraineGefallene in Würde bestatten

Oleksandra Borschtsch aus Bila Zerkwa ist Freiwillige bei „Bulldozer“. Die Organisation holt die Leichen gefallener Soldaten von der Front nach Hause.

Ukrainische Fahnen auf einem Soldatenfriedhof in Kyjiw, Juni 2025 Foto: SOPA Images/ZUMA Wire/imago

E s war ein gewöhnlicher Samstag in einem Land im Krieg. Russische Angriffe sind in der Ukraine nie ganz ausgeschlossen. Doch an diesem Tag im Frühling hatte es in Bila Zerkwa südlich von Kyjiw nicht einmal Luftalarm gegeben, als ein fünfstöckiges Wohnhaus explodierte.

„Direkt vor dieser Explosion war ich ins Bad gegangen“, erinnert sich Oleksandra Borschtsch, die im vierten Stock gelebt hatte. „Und mein Mann, der erst kurz zuvor von der Front im Donbass zurückgekommen war, schlief nebenan auf der Couch.“ Als sie wieder zu sich kam, öffnet Olekandra die Badezimmertür und sah nur Leere: Der Rest der Wohnung war eingestürzt.

Anna Klochko

Die ukrainische Journalistin berichtet über Krieg, Kulturerbe und Landwirtschaft aus der Ukraine und dem Ausland. Als Mitglied der Ukrainischen Vereinigung professioneller Fotografen (UAPP) untersucht sie die Folgen von Konflikten, Vertreibung und Resilienz – oft durch die Linse der interkulturellen Psychologie und der visuellen Erzählweise. Die Autorin war Teilnehmerin eines Osteuropa-Workshops der taz Panter Stiftung.

Halbnackt kletterte sie die Treppe hinunter und begann, nach ihrem Mann zu suchen. Wie durch ein Wunder war er noch am Leben. Mitsamt seiner Couch war er zwei Stockwerke tiefer gelandet und nur leicht verletzt. Er sprang sofort auf, um das Gas im Haus abzustellen. Die Ursache der Explosion wird noch von Experten untersucht.

„Ich glaube, dass wir von denen beschützt werden, um die wir uns gekümmert haben. So mystisch das auch klingen mag“, sagt Oleksandra. „Es gibt zu viele Zufälle, dank denen, die alle aus unserem Team noch am Leben sind.“

Wenn Oleksandra „wir“ sagt, meint sie die Freiwilligen der humanitären Organisation „Bulldozer“, die sich um Rückführung gefallener Soldaten kümmert. „Bulldozer“ arbeitet im Rahmen der humanitären Initiative „Evakuierung 200“ der ukrainischen Streitkräfte. Der Transport wird durch Spenden finanziert.

über leben

Für die Menschen in der Ukraine ist der Krieg zum Alltag geworden. Trotz der Todesangst vor Luftangriffen und Kämpfen geht das Leben weiter: Die Menschen gehen zur Arbeit, zur Schule und zur Uni. Sie lieben, lachen, heiraten, bekommen Kinder, machen Urlaub. Sie trauern, sorgen sich – und hoffen auf Frieden. ➝ zur Kolumne

Oleksandra Borschtsch weiß aus eigener Erfahrung: Selbst ein oder zwei Tage auf einen geliebten Menschen zu warten, ist eine Qual. Ein Abschiedsritual ist wichtig. Sie selber wartete fast eine Woche, um den Leichnam ihres Verlobten Mykola abzuholen. Er war als Sanitäter im Juli 2020 bei der Evakuierung eines Gefallenen in der Ostukraine ums Leben gekommen.

Leichentransport in gekühlten Wagen

„Wir holen die Gefallenen in mit Kühlgeräten ausgestatteten Autos aus den Leichenhallen in Frontnähe ab und bringen sie nach Hause. Dann können ihre Familien sie würdig bestatten und die entsprechenden Zahlungen erhalten“, erklärt Oleksandra. Das „Bulldozer“-Team besteht aus Fahrern mit Kampferfahrung, von denen einige aus gesundheitlichen Gründen aus dem Dienst ausgeschieden sind. Alle sind außerdem berufstätig.

„Spenden sammeln ist unser Alltag“, sagt Oleksandra. „Es gibt Sponsoren für einzelne Fahrzeuge und regelmäßige Spender. Aber manchmal müssen wir auch einfach nur schnell Geld für Benzin auftreiben.“

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Das Thema der Rückführung sei schmerzhaft und werde oft verdrängt, sagt sie. Es sei einfacher, den Lebenden Waffen zu geben, als sich um die Toten zu kümmern. „Die größte Unterstützung kommt von verantwortungsbewussten Unternehmern, der Diaspora, aber auch von Witwen, Familien der Gefallenen und sogar von Frontsoldaten.“ Doch es gibt nicht viele Menschen, die bereit sind, sich um solche Transporte zu kümmern.

Verzweifelte Reaktionen von Angehörigen

Die Reaktionen der Familien der Verstorbenen sind unterschiedlich: Viele sind so verzweifelt, dass sie Unmögliches verlangen. Sie wollen dann nicht verstehen, dass „Bulldozer“ die Leichen aus den Leichenhallen nach Hause transportiert und sie nicht vom Schlachtfeld holt. „Ich habe sogar an meinem Geburtstag Anrufe erhalten, in denen ich beschimpft wurde“, sagt Oleksandra. „Ich erkläre dann: Wenn das Team dazu in der Lage wäre, hätte es die Leichen bereits abgeholt. Aber selbst die ‚graue Zone‘, das Gebiet zwischen den Fronten, ist für die Lebenden lebensgefährlich.“

Trotz allem macht „Bulldozer“ weiter.

„Der Tod eines Menschen ist eine Tragödie für viele. Unsere Hilfe ist eine Frage der Liebe und der Erinnerung: Aus Respekt vor denen, die nicht mehr da sind, tut man Gutes für diejenigen, die denselben Schmerz durchleben“, fasst sie ihr Engagement zusammen.

Aus dem Ukrainischen Gaby Coldewey

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