200 Jahre Völkerschlacht: Wilde Reiter, zahme Gäste

Nach dem Sieg über Napoleon sind wir im Ural verschwunden, sagt der Baschkire Irek Baischew. Jetzt sind die Reiter wieder da.

Wie Wespenschwärme kamen die Baschkiren 1813 aus der Deckung geschossen und haben die Feinde bedrängt. Am Sonntag blieben sie allerdings friedlich Bild: dpa

MARKKLEEBERG/SCHWARZA taz | Der Abend des 17. Oktober ist genauso verregnet wie vor 200 Jahren, als hier die Entscheidungsschlacht gegen Napoleon tobte. Soldaten aus vielen Völkern Europas kämpften gegeneinander. Der Regen tropft auf die Zelte im Biwak. In einem, das unter Bäumen errichtet wurden, werfen drinnen im Licht der Stalllaternen hohe Backenknochen Schatten auf die Gesichter, Mandelaugen leuchten im Halbdunkel.

Mit geschnitzten Löffeln nehmen zehn Krieger aus Schüsselchen einen Salat aus Rote Bete, Zwiebeln und Tomaten zu sich. Fast könnte man sich in einer Novelle des 19. Jahrhunderts wähnen: Zu Gast im „Wilden Baschkortostan“, im östlichsten Gebirge Europas, im Ural.

Doch das Zelt steht in der Stadt Markkleeberg südlich von Leipzig, im Kavalleriebiwak für die Nachstellung der Völkerschlacht, die am Wochenende stattfinden wird und die den Höhepunkt der Feierlichkeiten zum 200. Jahrestag dieser Schlacht bildet. Die zehn Baschkiren sind Mitglieder des militärhistorischen Klubs „Erstes Baschkirisches Reiter-Regiment Ljubisar“.

Völkerschlacht: Die Völkerschlacht bei Leipzig von 16. bis 19. Oktober 1813 war die Entscheidungsschlacht der Befreiungskriege. Die Truppen der Verbündeten Russland, Preußen, Österreich und Schweden kämpften gegen die Truppen Napoleons. Baschkirische Reiter waren Teil der russischen Verbände.

Baschkiren: Die Baschkiren sind ein turksprachiges Volk aus dem Ural. Insgesamt gibt es weltweit 1,8 Millionen Baschkiren, die meisten leben in der russischen Teilrepublik Baschkortostan (Hauptstadt Ufa), wo sie nach Tataren und Russen heute nur die drittstärkste Bevölkerungsgruppe bilden.

Ihre persönlichen Vorfahren kämpften hier vor 200 Jahren mit Pfeil und Bogen. Die Hälfte der anwesenden Männer lebt heute in Ufa, der Hauptstadt der industriell geprägten russischen Teilrepublik Baschkortostan. Die übrigen leben in anderen Teilen Russlands, in Polen oder eben in Deutschland, wie Irek Baischew, Unternehmensberater aus Leipzig. Er erklärt nun die hier getragenen Trachten. Am längsten verweilt er bei einer Jacke, die nicht mehr genäht wird.

Sechs Hengste müssen sterben

Um eine dieser Lederjacken anzufertigen, die einst im Kampf getragen wurden, mussten sechs junge Hengste geschlachtet werden. Ihre Mähnen arbeitete man entlang der Längsnähte ein, stand der Träger still, hingen die Haare herab. Wenn aber ein baschkirischer Krieger ritt, schwirrten die Mähnen im Wind und erweckten die Illusion, er flöge. „Und das“, schließt Irek Baischew, „bringen wir heute nicht mehr übers Herz, sechs Pferde für eine einzige Jacke zu töten.“

Wegen der Flügel und den Pfeilen und Bögen verliehen die Franzosen den Baschkiren den Spitznamen „Amours du Nord“, sinngemäß Amorgötter des Nordens. Doch ganz im Gegensatz zu den niedlichen Putten löste der Anblick der Baschkiren auf dem Schlachtfeld bei den gegnerischen Soldaten Schrecken aus. Mit ihren langen Pfeilen seien diese Kämpfer auf ihren kleinen Pferden aus den Büschen hervorgeschossen wie Wespenschwärme, berichteten Soldaten.

Die Baschkiren fungierten vor allem als Kundschafter, schnelle Melder und Pioniere. Wurden sie gefangen, konnten sie nichts verraten, denn sie kannten keine einzige europäische Sprache. Russisch sprach nur der Anführer. Nicht dass die Baschkiren um 1813 zu ungebildet für den Umgang mit Feuerwaffen gewesen wären, die Zaren hatten es ihnen verboten – zu hoch schätzten sie die Gefahr ein, die von dem Volk ausgehen konnte.

Ein Mullah auf Zeit

Ein Mann Anfang vierzig mit einer windbeutelförmigen Kopfbedeckung mischt sich ins Gespräch ein. Julaj Galiualin wohnt mit seiner Familie in der baschkirischen Hauptstadt Ufa in einem Plattenbau und arbeitet als Werbefachmann. Weil auf dieser Reise einige wichtige Gebete gesprochen werden müssen, erhielt er den Segen, hier als Mullah zu fungieren.

Einen großen, von Baschkiren angezettelten oder unterstützten Aufstand habe es in Russland ab 1662 etwa alle zwanzig Jahre gegeben, das gesamte 18. Jahrhundert hindurch, berichtet er. „Ein Kind, wenn es alt genug war, um nach seinem Vater zu fragen, bekam über Generationen immer die eine Antwort: Er ist beim Aufstand gestorben.“ Der Grund sei stets derselbe gewesen: Man beschnitt das Land der Baschkiren. „Ursprünglich bestand unser Volk aus 49 Geschlechtern, und die Territorien einiger waren größer als die Schweiz.“

Anders als die Baschkiren waren ihre Nachbarn, die Kosaken, kein indigenes Volk, sondern bildeten einen besonderen Wehrstand innerhalb der russischen Gesellschaft. Als buntes Gemisch aus Russen, Tataren und anderen hatten sie sich verpflichtet, die Grenzen des Reichs zu bewachen. Dafür garantierte ihnen der Zar den dauerhaften Besitz ihrer Ländereien. Im Jahre 1798 schlossen sich die Baschkiren daher den Kosaken an.

Es ist spät geworden. Still treten die Männer, einer nach dem anderen, von der Tafel ab und legt sich auf ein schmales Lager im Zeltinneren. Der Wodka ist geflossen, aber niemand hat sich betrunken. Alle Baschkiren hier bekennen sich zum Islam, die Hälfte von ihnen lehnt Alkohol konsequent ab.

Baschkirische Amazonen

In 28 Kosakenregimentern kämpften Baschkiren vor zweihundert Jahren in ganz Europa gegen Napoleon. Die Hälfte von ihnen kam dabei um. Fünf der Regimenter standen bei Leipzig. In ihnen kämpften und überlebten auch drei baschkirische Frauen. Das Gesicht des Mullahs belebt sich. „Unsere baschkirischen Mädchen konnten schon immer gut reiten und schießen. Ein reicher Baschkire durfte damals drei Frauen haben. Und wenn die Lieblingsfrau nun nörgelte und nörgelte, sie wolle mit, dann hat er es ihr eben ermöglicht.“

Galiualin liefert ein Beispiel für die seiner Ansicht nach weitreichenden Rechte der baschkirischen Frauen. Jede verwaltete das von ihr mit in die Ehe gebrachte Vermögen an Vieh und anderen Reichtümern selbst. Das konnten bis zu dreißig Kilo Silber an Schmuck und Kleidungsverzierungen sein. „Doch 1928 hat die Sowjetmacht dies alles beschlagnahmt,“ beendet der Mullah seinen Vortrag.

Am Nachmittag des nächsten Tages, zweihundert Kilometer südwestlich vom historischen Biwak, schwebt im Dorf Schwarza im Thüringer Wald eine Hebebühne am Kirchturm gen Himmel. Besetzt ist sie mit Pfarrer Michael Thurm, dem Kunstschmied Ralf Gerhardt und einem Bauarbeiter. In 29 Metern Höhe stülpen sie auf die Turmbekleidung sachte den restaurierten Turmknauf. In ihm leuchtet weithin sichtbar ein seit heute vergoldeter Baschkirenpfeil. Die Klänge der Baschkirenflöte, der Kurai, vermischen sich mit dem Glockenläuten. Auf dem Dorfanger begrüßen Damen des Spinnvereins in Trachten die baschkirischen Reiter.

Der Pfeil im Kirchturm

Die Erinnerung an eine besondere Episode der Befreiungskriege hat die Baschkiren hierher geführt. Denn als die siegreichen preußisch-russische Regimenter 1814 aus Paris heimkehrten, kamen sie auch nach Schwarza, mit dabei vier baschkirische Reiter mit Pfeil und Bogen. Weil die Thüringer über diese Ausrüstung nur lächelten, kam es zu einer Wette, wie gut die Baschkiren mit ihrem Gerät umgehen könnten? Augenblicke später steckte ein Pfeil im Turm.

Er wurde restauriert, später ausgetauscht. „Vor zweihundert Jahren sind wir im Ural verschwunden, und heute kommen wir wieder hervor“, sagt Irek Baischew. „Es macht mich sprachlos, dass die Deutschen hier die ganze Zeit über das Andenken an unser Volk bewahrt haben.“

Die Nachkommen der Zweifler freuen sich jetzt über Pfeil und Besuch. Eine junge Frau malt sich im breitesten Thüringisch die Szene aus: „Sicherlich hat nich nur eener geschossen, sondern alle viere. Von den Pfeilen, die vorbeigingen, sin dort hinten en paar Hiehner umgefalln.“

Die Baschkiren bringen an der Kirche eine Gedenktafel aus Porzellan an. Danach exerzieren sie selbstvergessen mit ihren Säbeln und verteilen Geschenke, Medaillen und Urkunden.

Der Pfarrer gibt seinen Segen

Pfarrer Michael Thurm verfolgt das Treiben gelassen. „Ich bin durch und durch Kriegsgegner“, sagt er. Warum hat er dann aber zugestimmt, dass Muslime an seiner Kirche eine Tafel anbringen und der Pfeil vergoldet wurde? „Ich bin bewusst Christ, weil ich in dieser Religion etwas finde, das mir in anderen fehlt: Liebe und Vergebung“, erklärt Thurm.

Bei den Kriegen der Vergangenheit, die angeblich um des Glaubens willen geführt wurden, sei es keiner Seite wirklich um Religion gegangen. Es ging um Macht, Hybris und Größenwahn. „Bei der Feier heute verherrlichen wir keine Gewalt, sondern gedenken unserer Väter und bewahren deren Spuren. Wer keine Vergangenheit hat, der hat keine Zukunft.“

Um ihre Zukunft sorgt sich das Volk der 1,8 Millionen turksprachigen Baschkiren in der Welt und in der eigenen Republik, wo es auch nur noch eine Minderheit ist. Doch keineswegs aus politischen Gründen habe er diese Deutschlandreise für seine Freunde organisiert, schwört Baischew.

Dicke deutsche Gäule

In ihrer eigenen Sprache nennen sich die Baschkiren „Pferdemenschen“. Doch ausgerechnet die Pferde erregen Unmut. Morgen sollen sie für die Darstellung der Schlacht abgeholt werden, der Mietpreis für zwei Tage: 650 Euro pro Tier. Zu viel, finden die Reiter. Aber Baschkiren ohne Pferde? „Wir nehmen die dicken Gäule, weil ein Baschkire ja nicht zu Fuß gehen kann“, beschließt Irek Baischew das leidige Thema.

Am nächsten Tag ist die Gruppe wieder auf dem Biwakgelände in Markkleeberg. In diesem Jahr entspinnt sich ein seltsames Spiel um die nationale Zugehörigkeit. So viele wie nie zuvor bei diesen Treffen wollen Franzosen sein. Darsteller aus Kanada, Schottland und Russland, Männer und Frauen, strömen zu Napoleons Fahnen – viele aus Liebe zum französischen Essen oder Kino. Den Baschkiren liegt so etwas fern. Sie sind nicht gekommen, um jemanden darzustellen, sondern um sie selbst zu werden.

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