25 Jahre Tschernobyl: Die vergessenen Helfer

Mykola Wlassow und Anatolij Ligun haben die Folgen von Tschernobyl beseitigt und ihre Gesundheit ruiniert. Ihr Lohn? Eine Bahnfahrt zum halben Preis.

Verlassene Häuser in Pripjat in der Ukraine: Die Stadt wurde nach dem Reaktorunglück von Tschernobyl geräumt. Bild: dapd

POTSDAM taz | Mykola Wlassow ist erschüttert, als er in seiner ostukrainischen Heimatstadt Lugansk die ersten Berichte vom Unglück im japanischen Atomkraftwerk Fukushima im Fernsehen sieht. "Ich leide mit ihnen", sagt der 63-Jährige, "aber anders als wir waren die Japaner besser vorbereitet. Sie werden das schon in den Griff bekommen."

Auch Anatolij Ligun empfindet tiefes Mitgefühl. Dennoch könne man Tschernobyl, wo eine mangelhafte Konstruktion und gravierende Fehler des Personals zum Unfall geführt haben, nicht mit Fukushima vergleichen, sagt er. In Japan sei eine Naturkatastrophe der Auslöser gewesen. "Es passieren auch Unfälle in anderen Fabriken und die sind für die Gesundheit der Menschen genauso schädlich. Es muss doch jetzt darum gehen, die Sicherheitsmaßnahmen in den Atomkraftwerken zu erhöhen." Und Wlassow fügt hinzu: "Auf Atomenergie zu verzichten ist unmöglich. Das ist nach wie vor eine der billigsten Möglichkeiten, Strom zu erzeugen."

Die beiden Ukrainer gehören zu den schätzungsweise 600.000 bis 800.000 Liquidatoren, die nach dem Unfall im Block 4 des ukrainischen Atomkraftwerks Tschernobyl am 26. April 1986 zu Lösch-, Aufräum-, Planier- und Sicherungsarbeiten aus allen Teilen der damaligen Sowjetunion zum Reaktor abkommandiert wurden. Tausende sind an den Folgen gestorben, genaue Zahlen gibt es nicht. Wlassow und Ligun sind für einige Tage als Zeitzeugen zu einer Veranstaltung nach Potsdam gekommen.

Zum Zeitpunkt des Unglücks arbeitet der vierfache Familienvater Wlassow in Kiew, der Hauptstadt der Ukrainischen Sowjetrepublik, als Berufsoffizier im Stab für Zivilschutz. Er hat einen direkten Draht zu den Sicherheitsverantwortlichen aller ukrainischen AKWs, hat Tschernobyl mehrfach inspiziert und kennt auch alle Einsatzpläne für den "Ernstfall". Nach einer Besichtigung im November 1985 mit einem Wissenschaftler, der eigens aus Moskau angereist war,kommt dieser zum Ergebnis: Tschernobyl ist eines der sichersten Kernkraftwerke im Land.

"Bloß keine Panik!"

In der Nacht vom 26. auf den 27. April 1986 wird Wlassow telefonisch von der Explosion im Block 4 unterrichtet und trifft wenige Stunden später mit vier weiteren Experten zu einer ersten Bestandsaufnahme in Tschernobyl ein. Dabei ist er direkt am Reaktor ohne Schutzkleidung einer Strahlung von 2.000 Röntgen ausgesetzt. "Als wir das Ausmaß der Zerstörung sahen, war uns sofort klar, dass die Menschen aus der nahe gelegenen Stadt Pripjat evakuiert werden müssen. Das Wetter war schön, die Kinder spielten im Freien und die Erwachsenen wollten angeln gehen", sagt Wlassow.

Doch ein Hilferuf an die Verantwortlichen in Moskau verhallt. Der erforderliche Befehl bleibt aus. "Bloß keine Panik!" lautet die Devise. Obwohl längst alles vorbereitet war, werden die Menschen erst am 28. April mit Bussen aus Pripjat abtransportiert. Wlassow, der fortan zwischen Kiew und Tschernobyl pendelt und über den Stand der Arbeiten Bericht erstattet, wird zu Stillschweigen verpflichtet - auch gegenüber seiner Familie. "Ich verbot meinen Kindern, schwimmen zu gehen, doch sie kümmerten sich nicht darum. Aber ich durfte ihnen doch nicht die Wahrheit sagen", erzählt er.

Erst am 18. Mai informiert die Regierung in Moskau die Bevölkerung im Fernsehen etwas detaillierter über den "Unfall". Zweieinhalb Wochen zuvor waren auch der Offizier Anatolij Ligun aus Tschernigow und die Männer seines Aufklärungsbataillons erstmals grob über das Unglück in Kenntnis gesetzt worden - ohne jedoch auch nur in Ansätzen zu ahnen, "dass wir es mit einer Katastrophe von globalem Ausmaß zu tun hatten", wie Ligun sagt. Obwohl sich Tschernigow nur siebzig Kilometer östlich von Tschernobyl befindet, geht der ältere von Liguns Söhnen weiter zur Schule, Ligun selbst nimmt an der Mai-Kundgebung in Tschernigow teil.

Am 1. Juni bekommen er und sieben weitere Soldaten den Befehl zum Einsatz in der "Sonderzone", das heißt direkt am Reaktor und in einem Radius von zehn Kilometern um den Unglücksort herum. Zwei Tage später trifft Ligun in Tschernobyl ein. Seine Aufgabe ist es in den kommenden vier Wochen, im Dreischichtsystem mit insgesamt 2.250 Einsatzkräften, die er koordiniert, das kontaminierte Gebiet zu "deaktivieren". Das heißt zuallererst, Fenster und Türen mit Blei zu verkleiden sowie den verseuchten Boden mit Betonplatten zu versiegeln. Es hatte sich als ineffektiv erwiesen, ihn einfach abzutragen.

Täglich schuftet er von sieben Uhr morgens bis zehn Uhr abends. "Ein Großteil der Leute arbeitete ohne spezielle Schutzkleidung und mit primitiver technischer Ausrüstung jeweils zwischen fünfzehn Sekunden und drei Minuten. Sie trugen nur einen Mundschutz, der spätestens nach zwei Stunden hätte ausgetauscht werden müssen. Aber es gab nicht genug", erinnert sich Ligun.

Schon bald leidet er unter Halsschmerzen, kurz darauf bleibt die Stimme weg. Er fühlt sich erschöpft. Nach seinem Einsatz hat Ligun Herz- und Kreislaufbeschwerden, kann immer schlechter sehen. 1988 wird der heute 69-Jährige wegen seiner angegriffenen Gesundheit vorzeitig in Rente geschickt. Auch psychisch hat der Einsatz Spuren hinterlassen. Ligun befallen bisweilen Depressionen, er verspürt eine ständige Unruhe. "Wenn ich spreche, bin ich meist aufgeregt und fange wie wild an zu gestikulieren."

Mykola Wlassow glaubte zunächst, er würde glimpflich davonkommen. "Ich war Kampfsportler. Ich dachte, die Strahlung könne mir nichts anhaben", sagt er. Bald stellen sich Herz- und Kreislaufprobleme ein, 1988 werden Wlassow zwei Drittel des Magens entfernt.

In den folgenden Jahren erleben er und Ligun zahllose Tragödien. Sie sehen, dass viele ihrer einstigen Mitstreiter elend zugrunde gehen oder sich das Leben nehmen. Sie erleben, wie Familien auseinanderbrechen - sei es, weil die Männer ihre Potenz verloren haben oder Eltern heillos überfordert sind, weil ihre Kinder mit schweren Missbildungen geboren werden.

"Vor Tschernobyl gab es im Gebiet Tschernigow keinen einzigen Fall von Schilddrüsenkrebs", sagt Ligun. Heute seien daran 158 Kinder von Liquidatoren erkrankt. "Das heißt, wir kämpfen immer noch mit den Folgen von Tschernobyl." Doch bei diesem Kampf sind die Menschen weitestgehend sich selbst überlassen. Zwar gibt es für die Opfer ein Gesetz über soziale Vergünstigungen - etwa Sonderrenten, Zuzahlungen für Lebensmittel, reduzierte Tarife für die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel sowie ein bestimmtes Kontingent von Tagen, um sich kostenlos in einer Klinik behandeln zu lassen. So bekommt Wlassow monatlich 300 Griwna - umgerechnet weniger als 30 Euro - für Lebensmittel und pro Jahr eine Bahnfahrt zum halben Preis. Doch mit der Anwendung des Gesetzes hapert es, fast alle Geschädigten müssen ihre Rechte vor Gericht einklagen.

Demonstration in Kiew

"Nach Tschernobyl ging es für uns nicht nur darum, die Ukraine zu retten, sondern die ganze Welt. Deshalb ist das, was jetzt mit uns passiert, demütigend", sagt Wlassow. Sowohl er als auch Ligun engagieren sich im "Bündnis Tschernobyl Ukraine". Die Organisation versucht, durch Veranstaltungen und die Arbeit mit Schülern die Erinnerung an die Katastrophe wach zu halten sowie die Interessen der Opfer beziehungsweise ihrer Hinterbliebenen zu vertreten. So hat es das Bündnis unter anderem geschafft, dass einmal im Jahr in der Werchowna Rada, dem ukrainischen Parlament, eine Anhörung zu Tschernobyl stattfindet.

"Wenn wir nicht ständig auf das Thema aufmerksam machten, hätte es die Regierung schon längst abgesetzt", sagt Ligun. Damit die Regierung nicht so leicht davonkommt, haben am Sonntag in Kiew wieder rund 2.000 Liquidatoren demonstriert. Sie versammelten sich auf der Prachtmeile Chreschtschatik und forderten eine bessere Pflege, bessere Renten und Hilfen bei der Unterkunft.

Und wie ist die Unterstützung aus der Gesellschaft? "Die interessiert sich nur für Wodka und Brot. Solange beides vorhanden ist, sind alle zufrieden", sagt Ligun. Dann hält er kurz inne. "Der Staat und die Gesellschaft - und das schmerzt mich am meisten - sie alle haben ihre Helden von Tschernobyl vergessen."

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