30 Jahre Pogrome in Hoyerswerda: Geschichte vom verlorenen Stolz

Hoyerswerda war DDR-Arbeiteridyll und wurde zur braunen Zone. Im Buch „Kinder von Hoy“ lässt Grit Lemke die Boheme der Stadt zu Wort kommen.

Ostdeutsche Plattenbauten in Reih und Glied

Und die schmutzige Wäsche wurde abgeholt: Plattenbausiedlung in Hoyerswerda, 1991 Foto: imago

Womöglich ist er der berühmteste Sohn der Stadt: der Liedermacher mit den dünnen Haaren und der Mitropa-Aschenbecher-Brille. Die Rede ist von Gundermann, der in Grit Lemkes dokumentarischem Roman „Kinder von Hoy“ zwar eine Nebenrolle, aber doch eine wichtige spielt.

Lemke erzählt von einem Hoyers­werda, das man so gar nicht kennt: als Stadt der sozialistischen Zukunft, die in den 50ern aus dem Lausitzer Boden gestampft wird, in der es an Stelle von Kohleöfen und Außentoiletten Wasserklosetts, Zentralheizungen und geräumige Familienwohnungen gibt. Einer Stadt auch, die ganz im Rhythmus der wechselnden Schichten des nahegelegenen Kraftwerks Schwarze Pumpe funktioniert.

Für die Kinder ist diese Stadt ein Ort der Freiheit trotz allgegenwärtiger kontrollierender Blicke. Die eigenen Eltern mögen gerade auf Arbeit sein, aber irgendein Erwachsener wird nach der Schicht schon aus dem Fenster schauen und die Kinder, sollten sie doch einmal etwas aushecken, zurechtweisen: „Es war ein sehr viel weitläufigeres Behütet-Sein, mit vielen unterschiedlichen Menschen. Kinderkrippenerzieherinnen und Kindergärtnerinnen. Der Spielplatz. Die Nachbarn. Der Block, der Wohnkomplex, der Schulweg. Keine Sorge der Eltern, dass man über die Straße gehen muss. Sehr viel Vertrauen aller Erwachsenen in die Dinge, die da kommen – und in die Kinder. Ich bin schon zum Kindergarten alleine gegangen.“

Das sagt Schudi, eine der zahlreichen Stimmen, die Lemke zu Wort kommen lässt. Darunter auch der mosambikanische Vertragsarbeiter David. Sie werden, gemeinsam mit der Erzählstimme, im Modus einer filmischen Reportage collagiert. Hier merkt man, dass Grit Lemke bereits als ausgezeichnete Dokumentarfilmerin von sich reden machte. Nämlich in ihrem Film „Gundermann Revier“, der nicht nur den baggerfahrenden Liedermacher beleuchtet, sondern auch eine Braunkohleregion im Umbruch.

Grit Lemke: „Kinder von Hoy“. ­Suhrkamp, Berlin 2021. 256 Seiten, 16 Euro

Gewiss könnte „Kinder von Hoy“ auch als Vorlage eines Dokumentarfilms dienen. Die Bezeichnung „Roman“ aber deutet an, dass es einen Willen zur Form, auch zur Verdichtung des Stoffs gibt. Vielleicht auch die Freiheit auszumalen. Ausmalen ist das Stichwort! Vielleicht zum ersten Mal haben wir es da mit einer Erzählung von Hoyerswerda zu tun, die bunt ist. Die nicht nur von tristem Vorwendegrau und schauerlichem Nachwendebraun erzählen will.

Der eigene Dialekt

In den Originaltönen, die man ja nur lesen, nicht hören kann, klingt der so typische Hoy-Sound an: Weder so richtig Sächsisch noch Brandenburgisch, mit verschliffenem Binnen-G, ganz weich und buttrig, wie Käsekuchen, und dem Ö, das wie ein langes E klingt. Mal mehr, mal weniger stark dringt das Dia­lek­tale aus dem Text: Es ist eine Mischung aus Dia- und Soziolekt. Denn immer auch geht es um die gemeinsame, die geteilte Sprache, in der Hoyerswerda zu Hoy (für andere Sachsen auch Hoywoy) wird, und Schwarze Pumpe einfach nur Pumpe ist.

Der dialektale Einschlag wird immer dann stärker – so jedenfalls hat man den Eindruck – wenn es ums Emotionale geht. Wie den Wegfall der Arbeit, der Orbeet: „Auf einmal wird etwas zur Währung, was bis jetzt nichts anderes war als Frühling, Sommer, Herbst und Winter, wie Ausziehn Waschen Bette: Orbeet. Sie war etwas, was unweigerlich eintrat – ob man wollte oder nicht. Nun lernen wir, dass die Welt sich teilt in solche, die Arbeit nehmen, und andere, die sie geben.“

Davor, in den 70er und 80er Jahren, ist Hoyerswerda auch demografisch eine ganz besondere Stadt. In den eilig hochgezogenen Plattenbauvierteln lebt eine überdurchschnittlich junge Stadtbevölkerung: Arbeiter und ihre Kinder. Die Schulen sind übervoll, und auf jeder der zahlreichen Etagen der Wohnkomplexe gibt es Spielkameraden für die Kinder.

Kinder im Kollektiv

Für die einen mag es eine Utopie sein, für die anderen ein Schreckensbild: Aber die Kinder sind von Anfang an Teil eines Kollektivs; die Arbeiterkinder werden weniger von einer intensiven Beziehung zur Mutter geprägt als zu jener zu den Omas, Erzieherinnen oder Lehrerinnen.

Auch für die Mütter hat Hoyerswerda seine Vorzüge. Einmal wöchentlich wird die schmutzige Bettwäsche vom VEB Schwanenweiß eingesammelt und gereinigt – die werktätigen Frauen sollen sich damit nicht auch noch abmühen müssen. Gott bewahre, dass der Mann sich der mühseligen Aufgabe des Wäschewaschens ohne Waschvollautomat widmen muss!

Lemkes Stimmen sind Arbeiterkinder, die sich vor und nach der Wende in einem avantgardistischem Künstlermilieu bewegen. Noch versuchen die Protagonisten, dem Rechtsruck und den enormen Umbrüchen nach 1989 Kreativität und gemeinschaftliche Aktionen entgegenzusetzen. Umso unbegreiflicher wirken dann die Ereignisse, die am 17. September 1991 ihren Anfang nehmen. Lemkes Protagonisten sind nah dran an den Rechten, die auf einem Markt vietnamesische Händler angreifen und später vor die Wohnblocks der als „Asylanten“ verschrienen vietnamesischen und mosambikanischen Vertragsarbeiter ziehen.

Entsetzen und Unverständnis

Als „Kinder aus Hoy“ auf die pogromartigen Ausschreitungen zu sprechen kommt, merkt man den Stimmen ein bis heute anhaltendes Entsetzen und Unverständnis an. Nein, der Rechtsruck habe nicht mit der Wende begonnen; schon vorher habe sich eine rechte Szene entwickelt. Im Moment des Mauerfalls mit dem Wegbrechen einer staatlichen Ordnungsmacht und der raschen Veränderung der gesellschaftlichen Strukturen gerät etwas ins Rutschen. Es ist wie im Bergbau. Die Welle ist nicht mehr aufzuhalten.

Viel ist in den 30 Jahren „seit Hoyerswerda“ (die Pogrome sind auf eine Minimalformel geschrumpft) gerätselt wurden, was den „Rechtsruck“ in den Neuen Bundesländern, für den Hoyerswerda zum Menetekel und Symbol wurde, bewirkt haben mag. Vom „Töpfchenzwang“ über den nicht aufgearbeiteten Nationalsozialismus und einer vorzeitigen Exkulpierung der Bürger auf dem Staatsgebiet als Antifaschisten mussten viele Gründe herhalten.

Lemke enthält sich klugerweise jeder Deutung, sie lässt die O-Töne unkommentiert. Sie will darstellen; der Leser soll sich schon selbst eine Meinung bilden. So erscheint die Entwicklung von der beinahe idyllisch anmutenden, wenn auch kohlestaubgesättigten Stadt zur braunen Zone umso rätselhafter.

Dadaistisch angehaucht

Als es nach den Ausschreitungen erste zaghafte Versuche zivilgesellschaftlicher Proteste gibt, rücken westdeutsche Demonstranten an und formieren einen schwarzen Block. Als die westdeutschen Protestler beginnen, das frische Straßenpflaster zur Bewaffnung aufzureißen, regt sich ostdeutscher Widerstand.

„Einer der Umstehenden wagt sich zu den Vermummten und redet auf sie ein. Seine Brigade hätte die Steine grade erscht diese Woche verlegt. Wofür man sie rausreißen müsse? Höhnisches Gelächter. Faschistenschweine! Sie werden es so oft sagen, bis alle Hoyerswerdschen, die demonstrieren wollten, sich entfernt haben.“

Lemke erzählt entlang einer doppelten Differenz: Das da­dais­tisch angehauchte Avantgardemilieu ihrer Protagonisten bricht mit dem elterlichen Arbeitermilieu, ist aber anders als jenes im Westen. Aber auch die ostdeutschen Arbeiter sind ­andere; anders jedenfalls als ihre Pendants im Westen: „Bei uns aber war man nicht Bergmann in dritter Generation. Man fuhr nicht mit dem Aufzug unter Tage, sondern mit dem Mannschaftswagen in den Tagebau oder mit dem Schichtbus nach Pumpe“, heißt es mit Blick auf die Kohlekumpel im Ruhrgebiet.

Ende der Braunkohle

Tatsächlich schreibt Lemke über eine Gesellschaft der Diskontinuitäten, in der man sich des Vergangenen entledigt und zunächst zuversichtlich in die Zukunft blickt. Dass die Wende als „Bruch“ diese disruptionserfahrenen Menschen so erschüttert haben soll, glaubt man danach nicht mehr so recht. So entpuppt sich das gängige Ost-Nachwende-Narrativ einmal mehr als unvollständig, vereinfacht.

Etwas aber spürt man: den Verlust von Stolz auf eine Stadt, die buchstäblich dafür lebt, Energie fürs ganze Land, fürs System zu produzieren. Auch dann noch, als anderswo längst das Ende des Systems herbeiprotestiert wird. Womöglich versteht man auch gegenwärtige Kämpfe um das Ende der Kohleförderung in der Lausitz besser, nachdem man Lemkes Buch gelesen hat.

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