34 Jahre Unabhängigkeit in der Ukraine: Unabhängig und erschöpft
Die Ukraine feiert 34 Jahre Unabhängigkeit – doch viel zu bejubeln gibt es nicht: Krieg, Armut und zerfallende Infrastruktur bestimmen das Leben im Land.

Am Sonntag feierte die Ukraine den 34. Jahrestag ihrer Unabhängigkeit. Tags zuvor hatte das Land den „Tag der Nationalflagge“ begangen. In Kyjiw wurde anlässlich dieser beiden Feiertage in der vergangenen Woche eine breite Palette an Veranstaltungen für alle Altersgruppen, mit Fokus auf nationaler Identität, Patriotismus, Kunst und Geschichte, angeboten.
Museen organisierten Ausstellungen, Führungen, Vorträge zur ukrainischen Geschichte und den Kosakenaufständen und künstlerische Projekte, darunter eine historische Ausstellung zu ukrainischem Widerstand, Diaspora, Kunst und Literatur. Es fanden Kunsthandwerksworkshops statt. Bibliotheken boten Lesungen, Gesprächsrunden, Filmvorführungen, Buchpräsentationen, Kinderprogramme, Sprachclubs und kreative Workshops an. Es gab auch eigene Veranstaltungen für Veteranen, Binnenflüchtlinge und Familien.
In seiner Rede gratulierte Präsident Selenskij am Samstag der ukrainischen Bevölkerung zum Flaggentag und machte deutlich, dass die Ukraine keine Gebiete abgeben werde. „Wir verschenken unsere Erde nicht an Okkupanten. … Nur gemeinsam mit der Ukraine kann garantierte Sicherheit der demokratischen Länder erreicht werden“, so der Präsident am Flaggentag.
Wieder fanden sich in Kyjiw Tausende zum Wyschiwanka-Lauf ein. Dabei tragen die Teilnehmer*innen die traditionelle Volkskleidung, ein traditionelles besticktes Hemd oder eine Bluse. In Schytomyr wurde im Kindergarten Nr. 42 ein Flashmob organisiert. „Die Kinder haben Gedichte gelernt und Bewegungen für den Flashmob einstudiert“, zitiert das Portal Suspilne die Lehrerin Tetjana Dmitrenko. „Wir haben mit den Eltern zusammengearbeitet, damit sie nationale Trachten, Luftballons und Bänder vorbereiten konnten. Wir müssen unseren Kindern patriotische Gefühle für ihr Heimatland vermitteln.“ In Lwiw erinnerte man sich in einer von der Militärverwaltung organisierten Veranstaltung an die Gefallenen der Stadt. In drei zeitlich gestaffelten Veranstaltungen gedachte man auf drei Friedhöfen der Gefallenen des russisch-ukrainischen Krieges sowie aller, die für die Unabhängigkeit der Ukraine kämpften.
Kulturelle und patriotische Konzerte
Im Innenhof des Rathauses von Lwiw wurden Militärs posthum ausgezeichnet. Neben dem offiziellen Gedenken gab es ein Philosophisches Frühstück, ein Philharmonie-Konzert „Die Unbesiegbaren“ sowie einen Auftritt des Sängers Artem Pyvovarov für die Streitkräfte.
In Saporischschja fand eine Vielzahl kultureller und patriotischer Konzerte, Ausstellungen, Workshops und Mitmachaktionen statt. Neben dem Konzert „Das gelb-blaue Herz“ mit Solist*innen und Ensembles der Philharmonie bot das Jugendtheater das Konzert „Unabhängigkeit in jedem Herzen“ an. Am Schewtschenko-Boulevard fand ein Flashmob „Spiegelbild der Unabhängigkeit“ statt.
Hier konnte jeder ein Selfie machen und sich fragen: „Was kann ich heute für den Sieg tun?“ Der Journalist Stanislaw Kibalnyk von dem Charkiwer Portal assembly.org.ua vermisst indessen, dass bei den Feierlichkeiten zum Unabhängigkeitstag nicht auf die aktuelle soziale Lage eingegangen wird. „Man darf nicht vergessen, dass die Feiertage vor dem Hintergrund zahlreicher sozialer und wirtschaftlicher Probleme stattfinden, wie sie seit 1943 nicht mehr aufgetreten sind. Wir dürfen auch nicht die vielen alleinerziehenden jungen Mütter in Charkiw vergessen. Schulen und Kindergärten sind geschlossen – Mütter sitzen mit ihren Kindern zu Hause.
Nicht alle haben einen Mann oder eine Großmutter, die ihnen helfen können. Für diese Mütter ist es schon ein Glücksfall, wenn sie hundert Euro verdienen. In der ersten Hälfte des Jahres 2025 lag die Region Charkiw bei der Zahl der Geburten landesweit auf Platz 10 (3.518 Geburten). Gleichzeitig liegt sie bei der Sterblichkeit auf Platz drei in der Ukraine: 17.694 im gleichen Zeitraum. Die Peripherie stirbt noch schneller aus als das Zentrum der Region: So überstieg die Sterblichkeit in Isium im vergangenen Jahr die Geburtenrate um das Zehnfache, wie der Fernsehsender Suspilne am 13. Februar berichtete. Leider habe ich bei allen Feierlichkeiten davon nichts gehört“, so Kibalnyk zur taz.
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