440. Todestag von „Don Quijote“-Autor: Was von Miguel de Cervantes bleibt

Vor 400 Jahren verstarb Miguel de Cervantes. Ist der Dichter des „Don Quijote“ noch kurz vor seinem Tod zum katholischen Reaktionär geworden?

Gebeine von „Don Quijote“ Autor Miguel de Cervantes liegen nebeneinander

Cervantes hinterließ seine Romane – und wohl diese Überreste. Erst 2015 wurde sein Grab in einer Kapelle identifiziert Foto: dpa

Anseinem Lebensabend – er sollte am 23. April 1616 sterben – war Miguel de Cervantes nach einem abenteuerlichen Leben einer geistlichen Bruderschaft beigetreten und hatte mit Mühe sein letztes Werk, den Roman „Die Mühen und Leiden von Persiles und Segismunda“, abschließen können. Das Buch beschreibt die Reise eines Paars aus dem äußersten Norden nach Rom, dem Sitz des Vatikans.

Dieses letzte, ein Jahr nach seinem Tod gedruckte Buch ist als Bekenntnis zum katholischen Glauben und zum Zeitalter der Gegenreformation gelesen worden. Sollte der große Dichter am Ende tatsächlich den Humanismus seiner früheren Jahre hinter sich gelassen und seinen Frieden mit einem monolithischen Denken gemacht haben, das alles Fremde ausgrenzen wollte und die Menschen sich von der Welt abkehren und am Jenseits ausrichten hieß?

Cervantes muss wohl anders erinnert, und er muss neu gelesen werden, damit er als Gestalt begriffen werden kann, die für Offenheit gegenüber dem Anderen steht, am Diesseits orientiert ist und eine berührende Menschlichkeit vermittelt. Eine der eindrücklichsten Szenen im „Don Quijote“, seinem Hauptwerk, setzt die Begegnung zwischen Sancho Panza, dem Knappen des Ritters von der traurigen Gestalt, und dem Morisken Ricote in Szene.

Ricote gehört zu jenen maurischen Mitbürgern, die 1609 aus Spanien vertrieben wurden. Nun ist er mit anderen Pilgern verkleidet in die alte Heimat zurückgekehrt, um Almosen zu erbetteln. Auf offenem Feld kreuzen sich ihre Wege, und Sancho und Ricote erkennen sich nach einem Zögern wieder: Sie waren einst gute Nachbarn gewesen.

Utopie der Verständigung

Die Wiederbegegnung ist bewegend, weil Ricote nach wie vor an Spanien hängt und das ehemalige Zusammenleben der verschiedenen Kulturen dem Leser nun wie ein fernes Glück erscheint. Die Pilger laden Sancho zu einem Mahl unter freiem Himmel ein, der Einheimische und die Fremden verbrüdern sich; sie sind compañeros im etymologischen Wortsinn: Sie teilen untereinander das Brot. Zum Schluss brechen sie in unterschiedliche Richtungen auf, aber der Dichter hat noch einmal die Utopie einer Völkerverständigung aufblitzen lassen. Thomas Mann hat in seinem Essay „Meerfahrt mit Don Quijote“ diese Szene wortreich bewundert.

Cervantes’Roman ist insbesondere darum von epochalem Rang, weil er die unweigerliche Heraufkunft der Neuzeit ins Bild setzt. Es ist ein durch Handel und Wandel bestimmtes, wissenschaftliches, auf Empirie bedachtes Zeitalter. Don Quijote begegnet unterwegs auch einer Gruppe von Händlern, die in Murcia Seide kaufen wollen, und fordert die Verdutzten auf, ein Bekenntnis abzulegen, dass seine Herzenskönigin, Dulcinea del Toboso, die anmutigste Schönheit sei. Die Händler begehren ein Bild von ihr zu sehen, aber Don Quijote, in seiner Verranntheit in die Idee, besteht darauf, dass sie glauben, ohne zu sehen. Cervantes – und das wurde vielleicht erst viel später deutlich – zeigt auf, dass der alte Glaube, die alte Metaphysik einen Riss erhalten hat. Er registriert die neue, säkular gewordene Zeit, setzt ihr gleichwohl doch auch Wehmut entgegen. Es schmerzt, dass die nüchterne Wirklichkeit dabei ist, die Ideen des Guten und Wahren zu verdrängen. Mit dieser Zerrissenheit schuf der Dichter ein die Jahrhunderte überdauerndes Symbol für das Menschsein.

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Cervantes behauptet, einen Großteil seines Manuskripts aus der Schrift des arabischen Historikers Cide Hamete Benengeli übernommen zu haben. Obwohl dieser einer feindlichen Kultur angehört, gewährt der Spanier dem Fremden die zeitweilige Federführung. Dabei kommt es zu der für den Dichter so zentralen Figur der Reflexion, die später Friedrich Schlegel am „Quijote“ insbesondere hinsichtlich des Verhältnisses des zweiten Teils des Romans zum ersten hervorheben sollte. Der Name Cide Hamete Benengeli bedeutet auf Arabisch einen Hinweis auf den Hirschen, der auch im Namen Cervantes steckt; der Dichter spiegelt sich im Anderen, in der Transgression bewahrt sich sein Ich. Schon am Ursprung ist Reflexion, wie ja der Roman insgesamt dadurch ausgezeichnet ist, dass er als Gespräch zwischen den beiden Hauptfiguren angelegt ist. Cervantes will das Monolithische sprengen; er respektiert den Anderen und setzt das Individuum in eine intersubjektive Struktur. Das macht seine tiefe Humanität aus.

In diesem Werk sind die Menschen oftmals unterwegs, übernachten unter freiem Himmel oder treffen sich mit anderen in einer Schenke an der Wegekreuzung; so zum Teil auch in den ebenfalls klassischen „Exemplarischen Novellen“. Leichtes Gepäck und Reisegefühl.

Gegen die eigene Epoche

Beim ersten Ausritt als frischgebackener Caballero lässt Don Quijote sich treiben, sein Pferd Rocinante wählt den Weg. Er setzt kein Ziel mehr, steuert nicht mehr, und dieses kleine Detail zeigt, wie der Autor sich gegen die eigene Epoche sperrt, in welcher der Run auf das Gold der Neuen Welt eingesetzt hat und die bürgerliche Gesellschaft sich – vor allem im nördlichen Europa – immer entfesselter an der Vermehrung von Tauschmittel und Kapital orientiert. Was später die kapitalistische Gesellschaft in ihrer Gier und Jagd nach Expansion stets konterkarieren und ihr die nötige Luft zum Atemholen verschaffen wird, der Raum der Kunst – das eröffnet und behauptet Cervantes in seinem noch einmal nostalgisch auf das Goldene Zeitalter zurückblickenden Meisterwerk.

Auch in seinem letzten Roman, den „Mühen und Leiden von Persiles und Segismunda“, setzt der Dichter noch einmal der verloren gegangenen intellektuellen Offenheit und Multikulturalität ein Denkmal. Mitten in die fromme Pilgerfahrt nach Rom bricht irrlichterndes erotisches Begehren, das auch bestehende Paare bedroht, und die säkulare Verstrickung der Individuen ein.

Die Gesetze des menschlichen Geschmacks, heißt es einmal, sind am Ende stärker als diejenigen der Religion. Die aus dem Norden stammende Reisegruppe trifft auf ihrer Fahrt in Lissabon ein. Unter den Portugiesen bietet sie ein pittoreskes Schauspiel. Mit den Pelzen wilder Tiere bekleidet, blenden die Frauen und Töchter mit ihren weiblichen Reizen. Der zum Christentum bekehrte Barbar Antonio trägt Wolfsfälle und ist an Armen und Beinen nackt. Die unter falschem Namen und als Geschwister reisenden beiden Liebenden entstammen einem protestantischen Gebiet, können aber auch von Katholiken ob ihrer unvergleichlichen Schönheit und Wohlgestalt angestaunt werden. „Alle zusammen und jeder einzelne für sich riefen Erschrecken und Verwunderung bei denen hervor, die sie sahen.“

In seinem Abschiedswerk hat der Dichter noch einmal eine Weite erstehen lassen, die längst im Begriffe stand verloren zu gehen. Er wendet sich gleichsam noch einmal um zur vergangenen Epoche des Humanismus, in der er aufgewachsen war, bevor deren Ideen auf unabsehbare Zeit der Restauration zum Opfer fallen würden.

Cervantes etabliert die Priorität des Menschlichen. Friedrich Schlegel hat notiert, man könne ihn, wie Shakespeare, nie zu Ende denken. So spricht er zu unserer Gegenwart, wie er auch noch zu kommenden Generationen sprechen wird.

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