6 Monate nach Anschlag in Oslo und Utøya: Der Tag, der alles veränderte

Lailia Gustavsens Tochter wurde bei den Anschlägen in Oslo schwer verletzt. Trotzdem plädiert die Abgeordnete weiter für eine offene Gesellschaft.

"Wir wissen noch gar nicht, was wirklich passiert ist": Trauer in Oslo im Juli 2011. Bild: dapd

OSLO taz | Vor dem Dom im Stadtzentrum steckt ein herzförmiger roter Luftballon, der an einem Holzstab befestigt ist, im Boden. Daneben liegen Tannengebinde, Blumen und bereits etwas vergilbte Fotos, die immer noch der Feuchtigkeit und den kalten Temperaturen trotzen. Die Aufnahmen zeigen einige der Opfer von Utøya.

Auf der kleinen Insel hatte Anders Breivik am 22. Juli vergangenen Jahres 69 Teilnehmer eines sozialdemokratischen Jugendlagers mit gezielten Schüssen regelrecht niedergemetzelt. Wenige Stunden zuvor hatte der rechtsradikale Fanatiker und selbsternannte Retter Norwegens einen Bombenanschlag im Osloer Regierungsviertel verübt. Dabei waren acht Menschen getötet und mehrere Dutzend verletzt worden. Im November wurde der 32-Jährige in einem umstrittenen rechtspsychiatrischen Gutachten für unzurechnungsfähig erklärt.

Ein hoch aufgeschossener schlanker Mann in einer schwarzen Lederjacke tritt mit gesenktem Kopf vor die Gedenkstätte. Plötzlich beginnt er zu zittern, Tränen laufen ihm über das Gesicht. Kurze Zeit später in einer nahe gelegenen Kneipe und nach dem ersten Schnaps, dem innerhalb der nächsten 30 Minuten noch mehrere folgen, bricht aus Aage, wie er sich vorstellt, seine ganze Verzweiflung heraus.

Immer wieder von Weinkrämpfen geschüttelt erzählt er vom 22. Juli - dem Tag, an dem seine Nichte Nura auf Utøya ihr Leben verlor. Mehrmals in der Woche komme er in den Dom, um sie zu betrauern. Das verschaffe ihm Erleichterung.

Dann hält er inne. "Ich kann nicht verstehen", sagt der 49-Jährige, "warum jemand das Leben so vieler junger Menschen einfach auslöscht. Ich darf das nicht denken, aber am liebsten würde ich Breivik umbringen." Opfer und Hinterbliebene seien überwiegend sich selbst überlassen, das Hilfsangebot für seine Schwester habe sich auf einen einzigen Anruf beschränkt.

"Das Schlimmste aber ist", sagt er und sein Körper verkrampft sich, "wir wissen noch gar nicht, was am 22. Juli wirklich passiert ist. Und die Politiker lügen, um die Polizei zu schützen. Ich will aber endlich die ganze Wahrheit wissen."

Größte Katastrophe seit dem II. Weltkrieg

Mit diesem Ansinnen steht Aage nicht allein. Der 22. Juli 2011 ist in Norwegen zu einer Chiffre geworden und steht für die größte nationale Katastrophe seit dem Zweiten Weltkrieg. Zwar bemüht sich derzeit eine Untersuchungskommission um eine Klärung der Vorgänge. Dennoch bezweifeln viele Norweger, dass sie jemals in allen Einzelheiten erfahren werden, was sich tatsächlich am 22. Juli abgespielt hat.

Dabei ist die Frage, warum der Attentäter Anders Breivik über eine Stunde lang auf Utøya unbehelligt wüten konnte, bevor die Polizei eingriff, nur eine von vielen, die die Menschen umtreiben. Debattiert wird über eine Bewaffnung der Polizei, den Einsatz des Militärs im Landesinneren zum Schutz von Regierungsgebäuden, mehr Befugnisse für die Geheimdienste, eine stärkere Überwachung des Internets sowie eine Einschränkung von Bürgerrechten.

Kurzum: Auf dem Prüfstand steht das ganze Konzept einer größtmöglichen Offenheit der Gesellschaft, für das der sozialdemokratische Ministerpräsident Jens Stoltenberg unmittelbar nach dem "Massaker" bei seinen Landsleuten noch so vehement geworben hatte.

Am Anfang teilnahmslos

"Damit hat er den Nerv der norwegischen Gesellschaft getroffen. Das ist unser Kern: Offenheit, Respekt und Toleranz", sagt Lailia Gustavsen. Die kleine, etwas vollschlanke Frau mit kurz geschnittenem schwarzem Haar, die viel und gerne lacht, sitzt für die Sozialdemokratische Arbeiterpartei im norwegischen Parlament. "An diesem Credo habe ich niemals gezweifelt und das tue ich auch heute nicht."

Ob das die Mehrheit der Norweger auch jetzt noch so sehe, da sei sie sich jedoch nicht mehr sicher. "Es ist menschlich nachvollziehbar, in einer Situation wie nach dem 22. Juli Wut und Hass zu empfinden", sagt die 39-Jährige. Doch dürften negative Gefühle in der Politik nicht die Oberhand gewinnen.

Wut und Hass zu empfinden, dazu hätte auch Lailia Gustavsen selbst allen Grund. Ihre 18-jährige Tochter Magda wurde bei dem Attentat auf Utøya durch zwei Schüsse in den Rücken schwer verletzt. Sie verlor eine Niere, wurde mehrfach operiert und sitzt jetzt im Rollstuhl. "Aber sie trainiert jeden Tag und ich bin optimistisch, dass sie irgendwann wieder laufen kann", sagt Lailia Gustavsen.

Der persönliche Schicksalsschlag habe sie anfangs zur Beobachterin politischer Debatten gemacht, berichtet sie. Es sei ihr absurd vorgekommen, über Verkehrswegepläne und eine Verbesserung der Infrastruktur zu diskutieren. "Aber jetzt bin ich wieder zurück", sagt sie. Und fügt nach einer kurzen Pause hinzu: "Seit dem 22. Juli engagieren sich viel mehr Menschen als vorher politisch. Der Begriff Demokratie hat jetzt mehr Inhalt."

Politisierung der Jugend

Die plötzliche Politisierung vor allem junger Norweger als Folge der Anschläge macht sich auch bei der sozialdemokratischen Jugendorganisation AUF (Arbeidaranes Ungdomsfylking) bemerkbar. Die AUF ist Veranstalterin des alljährlichen Jugendsommerlagers auf Utøya. Die Spitze des linken Nachwuchses residiert im zehnten Stock eines Hochhauses in der Youngstorget 2 A im Zentrum Oslos.

Der Chef der AUF, Eskill Pedersen, bittet in sein Zimmer. Der 27-Jährige studierte Politikwissenschaftler, der einem Journal für erfolgreiche junge Führungskräfte entsprungen sein könnte, kann nur mühsam verbergen, dass er Treffen wie dieses als lästigen Pflichttermin empfindet. "Seit dem 22. Juli sind über 4.000 neue Mitglieder zu uns gestoßen. Das ist großartig, wir können da von einer echten Politisierung sprechen", sagt er und beginnt routiniert sein Programm abzuspulen.

Die meisten Norweger seien zu einem normalen Alltagsleben zurückgekehrt, Norwegen solle eine offene Gesellschaft bleiben, gleichzeitig gelte es jetzt aber Diskussionen zu führen, die Politiker hätten ihr Augenmerk bisher zu wenig auf den Terrorismus von rechts gerichtet.

Schreiben als Selbsthilfe

Bei der Frage, wie sich die Anschläge auf ihn persönlich ausgewirkt hätten, bröckelt die selbstsichere Fassade. "Ich fühle jeden Tag eine große Trauer und muss akzeptieren, dass der 22. Juli einen Großteil meines Lebens ausmacht. Ich glaube jedoch, dass ich fast so bin wie vorher, und das ist mein größter Sieg", sagt Pedersen.

Er selbst befand sich am 22. Juli auf Utøya und gehört zu den wenigen, die noch in Sicherheit gebracht werden konnten - ein Umstand, den norwegische Medien teils mit Empörung kommentierten. Er berichtet von einer Flugshow aus Anlass des 200. Geburtstages der Universität Oslo. "Ich hörte einen großen Lärm, sah aber zunächst nicht, dass Flugstaffeln ganz tief über der Stadt flogen. Und dann war plötzlich nur noch Angst."

Fünf Minuten Fußweg von der AUF-Zentrale entfernt erhebt sich das Regierungsviertel oder vielmehr das, was davon noch übrig ist. Viele Fassaden sind von Rissen überzogen, geborstene Fensterscheiben durch Holzplatten ersetzt. Das Areal ist weiträumig mit Eisengittern abgesperrt, darin stecken vereinzelt Blumen.

Die Zukunft des Viertels ist unklar. Während manche für eine Wiederinstandsetzung plädieren, weigern sich viele Regierungsmitarbeiter, an ihren alten Arbeitsplatz zurückzukehren. Wieder andere sprechen sich dafür aus, die Gebäude in ihrem halb zerstörten Zustand zu belassen, als Mahnmal für den 22. Juli.

Ein Buch über die Erfahrungen

"Dieser Tag war der schlimmste meines Lebens, obwohl er für mich noch gut endete", sagt Erik Sönstelie, ein mittelgroßer Mann mit grauen Haaren, der langsam und pointiert spricht und durch seine zurückhaltende Art besticht. Der Mitarbeiter eines Verlags war nach den ersten Meldungen über den Anschlag in Oslo gerade auf dem Weg in das Regierungsviertel, als ihn ein Anruf seiner Tochter aus Utøya erreichte. Sie teilte ihm mit, dass auf der Insel geschossen werde. Sönstelie hielt das zuerst für einen schlechten Scherz.

Nach einem zweiten Anruf seiner Tochter, sie laufe um ihr Leben und versuche sich durch einen Sprung ins Wasser zu retten, raste er in Richtung Utøya. Geschlagene zwei Stunden wartete er mit rund 60 Müttern und Vätern auf dem Festland, bis er endlich Gewissheit bekam: Seine Tochter Siri Marie hatte das Attentat unverletzt überlebt.

Die junge Frau hat inzwischen in Großbritannien ein Studium aufgenommen und versucht, einen neuen Lebensabschnitt zu beginnen. "Sie hat regelmäßig Albträume, dass auf sie geschossen wird. Und sie fühlt sich schuldig, weil sie überlebt hat, viele ihrer Freunde jedoch getötet wurden", sagt Sönstelie.

Unter dem Titel "Jeg lever pappa. 22. Juli - dagen som foraudret oss ("Ich lebe, Papa. Der 22. Juli, der Tag der alles veränderte") haben er und seine Tochter ihre Erfahrungen und die von 50 weiteren Betroffenen in einem Buch beschrieben.

Viele der überlebenden Opfer hätten unmittelbar nach dem Attentat versucht, Stärke zu zeigen. Jetzt, Monate danach, zeige sich, wie tief die Wunden seien, wie allgegenwärtig Albträume und Schuldgefühle. Für Sönstelie ist dieses Projekt eine Art Selbsttherapie gewesen. "Das, was am 22. Juli passiert ist", sagt Sönstelie, "war sinnlos. Jetzt geht es darum, diesem Sinnlosen doch noch einen Sinn zu geben."

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