60. Eurovision Song Contest: Die Türkei wieder reif für den ESC?

Seit drei Jahren will der türkische Sender TRT nicht mehr beim ESC mitmachen. Grund: moralische Bedenken – und Conchita Wurst.

Moralisch verwerflich, findet die Türkei: Conchita Wurst. Bild: dpa

Noch beim Eurovision Song Contest musste die Türkei zufrieden sein. Ihr vom Staatssender TRT entsandter Kandidat Can Bonomo belegte mit einem hübschen Lied („Love Me Back“) den guten siebten Rang – aber nach diesem ESC war es mit der türkischen Zufriedenheit vorbei. Schon für das jährliche Popfestival 2013 in Malmö zog man die Meldung zurück, ebenso war man nicht in in Kopenhagen im Vorjahr dabei. Und für Wien, wenn die European Broadcasting Union die 60. Auflage dieses erfolgreichsten europäischen Entertainments feiert, wird TRT nicht mit von der Partie sein.

Neulich las man jedoch eine Meldung, derzufolge TRT wenigstens für 2016 sein Comeback avisiert. Sie geht auf die französische Nachrichtenagentur AFP zurück.

Wörtlich heißt es: „Nach dreijähriger Abstinenz wird die Türkei 2016 wieder am Eurovision Song Contest teilnehmen. Nach massiver Kritik seines Landes am Wettbewerb habe es bedeutende Verbesserungen gegeben. 'Unsere Forderungen werden erfüllt, und deshalb kehren wir zurück', sagte der Leiter des staatlichen Fernsehsenders TRT, Senol Göka, der Zeitung Milliyet. Göka fügte hinzu, es habe nicht nur Probleme mit dem Auswahlverfahren gegeben, sondern auch mit den 'moralischen Standards'. Die Türkei hatte zuletzt 2012 teilgenommen. Im Dezember des Jahres verkündete sie ihren Ausstieg – nach offiziellen Angaben wegen niedriger Einschaltquoten und der Regel, dass Großbritannien, Deutschland, Frankreich, Italien und Spanien automatisch einen Platz im Finale bekommen.“

Erst unterschriebene Verträge

Allerdings ist an dieser Geschichte so gut wie nichts wahr. Bei der European Broadcasting Union (EBU) in Genf sowie in der Reference Group des ESC (dem Lenkungsausschuss des ESC durch die EBU) heißt es einmütig: Die Türkei sei wie in allen Jahren seit 2013 herzlich willkommen beim Song Contest, aber solange die Anmeldeverträge für den 61. ESC 2016 im September dieses Jahres nicht unterzeichnet seien, schenke man Meldungen wie diesen keinen besonderen Glauben.

Bizarr ist die offenbar vom TV-Sender TRT lancierte Nachricht ohnehin. Nach Conchita Wursts Sieg voriges Jahr in Kopenhagen wurde in türkischen Medien wütend auf den ESC eingedroschen: eine Show des moralischen Bankrott, hieß es alles in allem. Viele Medien in Europa haben das Comeback von TRT jedoch verbreitet, große wie die FAZ, Spiegel Online, die österreichische Zeitung Die Presse, auch ESC-Foren im Internet oder die englischsprachige Internetausgabe der türkischen Zeitung Hürriyet.

Übersetzt ins Deutsche heißt es dort erläuternd: TRT habe die moralischen Standards beim ESC missbilligt – unter anderem weil beim ESC 2013 in Malmö zwei männliche Tänzer während der Proben sich geküsst hätten. Der türkische EU-Minister Volkan Bozkir erklärte zu Conchita Wurst: „Jedes Mal, wenn ich die Österreicherin, die gewonnen hat, sehe, sage ich 'Danke, wir nehmen ja nicht mehr teil.'“

Irritierend an diesem Statement war vor allem, dass die Beiträge von TRT zum ESC gerade in Hinsicht auf die weiblichen Künstlerinnen stets von textiler Freizügigkeit waren.

Keinen Wünschen entsprochen

Der Eindruck der Verworrenheit der Gründe des Senders TRT, dem ESC fernzubleiben, wird von vielen Experten, auch in Genf, geteilt. Viele, ohne namentlich zitiert zu werden, führen an, dass die islamische Regierungselite um Präsident Erdogan keine Show ausgestrahlt sehen will, die so deutlich jenen Wertvorstellungen widerspricht, für die diese Regierung eintritt.

Alarmiert habe ich auf die (falschen) Meldungen vom Wochenende reagiert, weil dort ein neuer TRT-ESC-Verantwortlicher, Senol Göka, zitiert wird. Der sagt, die EBU sei den türkischen Wünschen entgegengekommen. Meine Recherche bei den Verantwortlichen besagt aber: Nichts davon ist wahr. Weder sei im Spiel, TRT künftig zu den finalgesetzten Ländern zu zählen, sodass aus den „Big Five“ eine Runde der „Big Six“ würde, noch treffe zu, dass der ESC künftig Performer wie Conchita Wurst oder andere ausschließen werde, damit TRT zufrieden ist.

Liveübertragung aus Wien?

Sietse Bakker, Sprecher des ESC bei der EBU, antwortete auf Anfrage: „Da diese Information über die Medien kommt, und da wir bislang nicht offiziell über eine Wiederkehr (von TRT, d. Red) informiert wurden, sind wir nicht sicher, welche Art von Wünschen (dieser Sender, d. Red) sie (für den ESC, d. Red) haben. Deshalb kann ich es nicht weiter kommentieren.“

Tatsächlich hat sich die EBU seit dem Herbst 2012 mit einer Fülle von diplomatisch gesinnten Reisen in der Türkei für die Rückkehr des Landes zu dieser Europameisterschaft des Pop ausgesprochen. Stets vergeblich, so heißt es seitens der EBU in Genf. Das sei auch deshalb bedauerlich, weil 2015 vor 40 Jahren die Türkei erstmals beim ESC dabei war und 2003 in Riga erstmals auch gewinnen konnte. Sertab Erener gelang dies nach Einschätzung von türkischen ESC-Experten nur, weil sie als Star in ihrem Land durchsetzen konnte, nicht in der Landessprache singen zu müssen, sondern in der lingua franca des Pop, auf Englisch.

Immerhin, so wird in der Türkei lanciert, werde man das Finale am 23. Mai aus Wien übertragen. Womöglich aber doch nicht: Armenien wird ein Lied in die österreichische Hauptstadt tragen, das der Erinnerung an den Völkermord an den ArmenierInnen vor 100 Jahren gewidmet ist. Sollte der Text dieses Beitrags aus Eriwan allzu politisch ausfallen, würde er ohnehin nicht zugelassen. Wäre er nur in diesem Sinne werblich befördert, wäre die TRT aus Staatsräson gezwungen, das Finale nicht zu übertragen.

Die Entscheidung, wie politisch inspiriert das armenische Lied ausfallen wird, wird im März bekanntgegeben.

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