75 Jahre Münchner Abkommen: Becherbitter und Becherovka

Das Münchner Abkommen besiegelte das Ende der Vorkriegs-Tschechoslowakei. In Ústí nad Labem soll ein „Museum der Deutschen“ entstehen.

Er hat hunderte Zeitzeugen befragt, Exponate gesammelt: Kurator Jan Sicha in den Räumen des zukünftigen Museums. Bild: Alexandra Mostýn

USTI NAD LABEM taz | Noch hängt die Renovierung, die der einstigen Aussiger Bürgerschule ihren alten Glanz zurückgegeben hat, förmlich in der Luft. Die hohen Wände des 1876 im Stil der Neorenaissance erbauten Gebäudes, in dem heute das städtische Museum sitzt, zieren frisch erneuerte Inschriften: „Bildung macht frei“, steht da auf Deutsch. Und: „Gott mit uns.“

Die breiten Treppen und die langen, lichtdurchfluteten Gänge, die früher Heimat für Generationen von Schülern waren, glänzen vor Sauberkeit. Gleich gegenüber des schweren Eingangstores hängt ein lebensgroßes Porträt Franz Josefs I., des österreichisch-ungarischen Kaisers, unter dessen Herrschaft die Elbestadt Aussig zum größten Binnenhafen seines Reichs anwuchs.

Ihm gegenüber wirbt ein Plakat in sattem Altrosa für die Musicalversion von „Drei Nüsse für Aschenbrödel“, irgendwo im benachbarten Sachsen. Und überall, zwischen Franz Josef und Aschenputtel, den frisch verputzten Wänden und gut gewässerten Pflanzen, ist er zu spüren: der Duft des Neuen.

Vor 75 Jahren, in der Nacht vom 29. auf den 30. September 1938, erteilten Frankreich, Italien und Großbritannien Adolf Hitler die Erlaubnis, die von Deutschen besiedelten Grenzgebiete der Tschechoslowakei Deutschland einzuverleiben. Über drei Millionen Deutsche, die seit Jahrhunderten in Böhmen und Mähren lebten, waren nach dem Zusammenbruch Österreich-Ungarns in die Tschechoslowakei eingegliedert worden. Das Verhältnis zwischen dem jungen Staat und seiner Minderheit war von Anfang an gespannt und verschlechterte sich mit der Weltwirtschaftskrise, die die Sudetendeutschen besonders hart traf.

Das war nur ein Anfang: Am 15. März 1939 besetzte Nazi-Deutschland den Rest Böhmens und Mährens und installierte eine Vasallenregierung in der Slowakei. Nach dem Krieg wurden die Deutschen aus der wiederentstandenen Tschechoslowakei vertrieben, nur etwa 200.000 Deutsche durften oder mussten bleiben, als "Antifaschisten" oder "unabkömmliche Arbeitskräfte".

„Wir schaffen hier etwas Einzigartiges“, sagt Jan Sicha und schließt eine weiß lackierte Holztür im zweiten Stock auf. Hier entsteht gerade das „Museum der deutschsprachigen Bewohner der böhmischen Länder“. Mit viel Energie und Herzblut kuratiert der gelernte Historiker und Diplomat Sicha den Aufbau dieses deutsch-tschechischen Projektes.

50 Millionen Kronen zu verbuchen

Gemeinsam mit seiner Kollegin Blanka Mouralová, die dem Collegium Bohemicum vorsteht, das 2006 gegründet wurde, als die lang gehegte Idee eines Museums der böhmischen, mährischen und schlesischen Deutschen konkrete Formen annahm, ist er auf der Jagd nach Exponaten Tausende von Kilometern gefahren, hat Hunderte von Zeitzeugen, Sammlern und Antiquariaten besucht.

„Jetzt müssen nur noch ein paar bürokratische Hürden gemeistert werden“, erklärt Blanka Mouralová, die gerade von einer Besprechung aus dem tschechischen Kulturministerium im rund hundert Kilometer entfernten Prag zurückkommt. Zum Beispiel, wie genau man die 50 Millionen Kronen (zwei Millionen Euro) verbucht, die der tschechische Staat dem Museum versprochen hat. „Dass die Gelder ausgezahlt werden, ist jedenfalls sicher“, sagt Mouralová. Obwohl die letzte Regierung im Juni dieses Jahres zurücktrat, ohne Fakten zu schaffen, und die jetzige Hausmeisterregierung es vor den Wahlen Ende Oktober auch nicht mehr schaffen wird, das versprochene Geld zu überweisen.

„Wir haben hier in Tschechien halt keine Erfahrung mit der Gründung neuer kultureller Institutionen“, meint Mouralová und schüttelt ihre hellbraunen Locken. Bevor die Politologin 2007 in die nordböhmische Provinz berufen wurde, war sie Stipendiatin der Robert-Bosch-Stiftung und leitete vier Jahre lang das Tschechische Zentrum in Berlin, das Gegenstück zum deutschen Goethe-Institut.

Zielgruppe: Deutsche und Tschechen

Innerhalb des nächsten halben Jahres, glaubt Mouralová, sollte das Geld dem Collegium Bohemicum als Museumsträger zur Verfügung stehen. „Ein weiteres halbes Jahr dürfte es dann dauern, bis der Teil der ehemaligen Bürgerschule ausgebaut ist, in dem das Museum der Deutschen beheimatet sein wird.

„Das Auswahlverfahren für die Baufirmen wird dieser Tage jedenfalls eröffnet“, erklärt die Direktorin des Collegiums, das seine Mitarbeiter und Praktikanten auch in Deutschland rekrutiert. In zwanzig Räumen, die über zwei Stockwerke reichen und mit einer Wendeltreppe miteinander verbunden sind, wird dann die Geschichte der deutschsprachigen Bevölkerung im heutigen Tschechien dargestellt werden.

„Unsere Zielgruppen sind Tschechen und Deutsche“, erklärt Kurator Sicha, der selbst aus Aussig stammt und einen deutschböhmischen Großvater hatte: „Die Tschechen, damit sie einen Teil der Geschichte ihres Landes kennenlernen. Und die Deutschen, damit sie erkennen, dass sie hier eine über 800-jährige Vergangenheit haben, die sie bei uns in Tschechien auch kulturell zu Hause sein lässt.“ Die Konfliktmentalität, die das Zusammenleben zwischen Tschechen und Deutschen in Böhmen und Mähren ein gutes Jahrhundert lang prägte, werde durch das Museum „bewusst überwunden“, wünscht Sicha.

Symbolträchtig auch der Sitz des Museums inmitten des Zentrums der Stadt, die heute Ústí nad Labem heißt. Sie war 1945 Schauplatz eines Massakers an Deutschen. Die Explosion eines Munitionsdepots am 31. Juli wurde als Anschlag nationalsozialistischer deutscher Freischärler verkauft. Der Volkszorn richtete sich gegen die deutschen Zivilisten, die an ihrer weißen Armbinde leicht zu erkennen waren, die sie nach dem Krieg in der Tschechoslowakei tragen mussten. Sie wurden erschlagen oder von der Elbbrücke in den Fluss geworfen. Selbst Babys waren unter den Opfern, deren genaue Zahl bis heute nicht ermittelt ist. Allein in Meißen wurden 80 Leichen aus der Elbe gezogen.

Bevölkerungsaustausch

Heute ist Ústí eine durch realsozialistische Plattenbauten verschandelte, heruntergekommene nordböhmische Provinzhauptstadt mit Unmengen an sozialen Problemen und einer beträchtlichen Roma-Minderheit, die hier angesiedelt wurde, um die Deutschen zu ersetzen. „Nach dem Krieg wurde hier die Bevölkerung komplett ausgetauscht“, erklärt Jan Sicha. Dazu kommt, dass die Industrie, die die Stadt einst ernährte, vollständig verschwunden ist. Im 19. Jahrhundert war Aussig das Zentrum der österreichisch-ungarischen Chemieindustrie.

„In Wien wurde einfach beschlossen, die Chemieindustrie in Aussig anzusiedeln, hauptsächlich wegen seines großen Elbhafens“, erklärt Jan Sicha. Mitten in der Stadt standen die Chemiewerke. „Noch vor 20 Jahren war die Elbe ein giftiger Fluss“, erinnert sich der 46-Jährige, der in Ústí aufgewachsen ist. Heute kann man wieder in der Elbe baden, und auf den Hügeln der Umgebung stehen gesunde Bäume. Dafür liegt die Arbeitslosigkeit bei rund 12 Prozent. „Die Stadt sucht noch immer ihre Identität, hier ist alles noch ein bisschen chaotisch“, sagt Jan Sicha.

Da kommt das Museum nicht ungelegen, das nicht nur die einstige Identität der Stadt wieder ein bisschen aufleben lässt, sondern auch Besucher in die Stadt locken soll. „Das Museum soll auf drei Säulen basieren“, erläutert Blanka Mouralová. „Wir wollen nicht nur museumspädagogisch aktiv sein, sondern auch wissenschaftlich. Das heißt, das Collegium Bohemicum vergibt Promotionsstipendien, organisiert Konferenzen zu verschiedenen Punkten des deutsch-tschechischen Verhältnisses und schickt Zeitzeugen in Schulen.“

Nicht minder wichtig seien die kulturellen Veranstaltungen wie die „Tage der deutsch-tschechischen Kultur“, die jeden Herbst parallel im böhmisch-sächsischen Grenzgebiet stattfinden.

Seit dem 13. Jahrhundert

Schließlich wolle man das lange Zusammenleben zwischen Deutschen und Tschechen nicht auf die Konflikte des 20. Jahrhunderts reduzieren, ergänzt Blanka Mouralová und hebt an, das Museum anhand eines detailgetreuen Papiermodells zu erklären. „Im ersten Raum wird anhand eines Films definiert, was einen Deutschen in Böhmen und Mähren eigentlich ausmachte“, sagt sie.

Vor allem sei das die Sprache, deshalb ist das Museum auch offiziell den deutschsprachigen Bewohnern der Region gewidmet. Dann geht es weiter mit der Landschaft des Grenzgebiets, in der bis heute noch Reste der deutschen Kultur erhalten sind, wie Aussichtstürme oder Wegkapellen.

Im 13. Jahrhundert kamen die Deutschen nach Böhmen, damals schon ein fertiges Staatsgebilde. Auf Einladung des Premyslidenkönigs Otokar siedelten sie sich in den bergigen und bewaldeten Gebieten an, die die Grenze Böhmens und Mährens bilden. „Die Deutschen kamen in unwirtliches Gebiet und mussten sich ihren Reichtum selbst schaffen“, sagt Mouralová und weist darauf hin, dass sowohl der Besiedlung des 13. Jahrhunderts wie auch dem deutschen Unternehmertum je ein eigener Raum des Museums gewidmet ist.

Böhmische Glaskunst

Sehr erfinderisch seien die böhmischen Deutschen gewesen, weiß Sicha. „Im alten Österreich wurden die meisten Patente gerade in den deutsch besiedelten Gebieten Böhmens und Mährens angemeldet, das nicht umsonst als das industrielle Herz des Kaiserreichs galt“, berichtet er. Zum Beispiel hätten Deutschböhmen die Technik erfunden, rubinrotes Glas herzustellen, erklärt er und zeigt auf eine tiefrote Glasvase, die unter den Exponaten steht, die schon in den Räumen des Museums auf seine Eröffnung warten.

Gleich neben ihr liegen zwei silbern glänzende Instrumente aus dem frühen 20. Jahrhundert. „Toll, diese Saxophone, nicht wahr“, sagt Sicha stolz. „Die Deutschen waren auf der ganzen Welt bekannt für ihren Instrumentenbau.“

Aber nicht nur schauen, sondern sich auch einfühlen soll man im Museum. In fünf Räumen wird das kulturelle deutschsprachige Leben in fünf verschiedenen Städten thematisch dargestellt. Nicht fehlen darf natürlich eine komplett eingerichtete Wirtsstube im Stil des frühen 20. Jahrhunderts. „Wo ist denn der Becherovka geblieben“, fragt Jan Sicha und sucht ein deutschböhmisches Erzeugnis, das sich im heutigen Tschechien großer Beliebtheit erfreut: einen Kräuterlikör, der früher Karlsbader Becherbitter hieß.

Bis Jan Sicha und Blanka Mouralová zusammen auf die Eröffnung des Museums anstoßen können, wird es noch etwa eineinhalb Jahre dauern. Schon jetzt sind sich beide einig: Wir sind in den vergangenen Jahren ein enormes Stück vorangekommen. Damit meinen sie nicht nur das Museum, sondern das gesamte deutsch-tschechische Verhältnis.

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