Die Gärten der Märtyrer

Was verbindet den Opferkult der Schiiten im Iran mit der historischen Sekte der Assassinen und den Suizidattentätern von heute? Über das Selbstopfer im Islam und den modernen Willen zum Nichts

von NAVID KERMANI

Am Morgen des dritten Oktobers 680 stand in der Ebene von Kerbela, im heutigen Irak, Hussein ibn Ali einem mehrere tausend Mann starken Heer des omaijadischen Kalifen Yazid gegenüber. Die Bewohner der aufsässigen Stadt Kufa hatten Hussein, den Enkel des Propheten und dritten Imam der Schiiten, der bis dahin ein zurückgezogenes Leben in Medina geführt hatte, zu Hilfe gerufen gegen den Kalifen, den sie als Tyrannen und Verräter an der Botschaft des Propheten verachteten. Die Muslime waren damals noch nicht formal in Sunniten und Schiiten geteilt. Erst der Konflikt zwischen Hussein und Yazid, dem Imam und dem Kalifen, hat dieses Schisma besiegelt.

Am 2. Oktober 680, nach islamischer Zeitrechnung dem 2. Muharram des Jahres 61, lagert Hussein nicht unweit vom Euphrat, wo ihn jedoch das omaijadische Heer aufspürt und ihm den Zugang zum Wasser versperrt. Als die Schlacht unvermeidlich geworden ist, entlässt Hussein – im sicheren Wissen um den Ausgang des bevorstehenden Kampfes und vom Durst bereits stark geschwächt – seine Gefährten aus dem Treueschwur und fordert sie auf, dem bevorstehenden Massaker zu entfliehen: Hussein will sie überreden, nicht den Märtyrertod zu sterben. Die 72 übrig gebliebenen Gefährten weigern sich jedoch, Hussein allein der feindlichen Armee zu überlassen, und so ziehen sie am Morgen des 10. Muharram gemeinsam in eine Schlacht, die keiner von ihnen überlebt.

Es gibt kein historisches Ereignis, das die Schiiten stärker bewegt hätte als jene Schlacht von Kerbela. Symbolisiert Husseins Person das Gute, das Gerechte, das Unschuldige schlechthin, so steht sein Widerstand für jegliches Aufbegehren gegen Unterdrückung und Tyrannei. Kein historisches Ereignis der schiitischen Geschichte – schon gar nicht die iranische Revolution von 1979, die sich als ein Aufbegehren gegen den Yazid jener Zeit verstand – ist ohne den Hintergrund der Schlacht von Kerbela zu begreifen.

Noch der Alltag ist durchsetzt von der Symbolik jener Ereignisse. Wer im Sommer durch iranische Städte reist, wird überall große, eisgekühlte Bottiche finden und Einheimische, die Wasser anbieten. Die beinahe religiöse Verehrung des Wassers erklärt sich mit dem Durst, den Hussein in Kerbela gelitten hat. Wer auf Persisch einen Brief an Freunde und Verwandte unterzeichnet, schreibt nicht „Herzliche Grüße“ oder „Alles Liebe“, sondern „Qorbanat“ – „Dein Opfer“. Die Passion Husseins wurde zum Gründungsmythos im kulturellen Gedächtnis der Schiiten. Der Verrat an allem, für das der Prophet gestanden hatte, an seiner egalitären Botschaft und seinen direkten Erben ist für die Schiiten das Urereignis, aufgrund dessen sie die gesamte nachfolgende, missratene und von den Sunniten usurpierte Geschichte deuten – ein Sündenfall der Menschheit als historisches Geschehen.

Im Laufe der Jahrhunderte bildeten sich bei den Schiiten rituelle Trauerzeremonien heraus, die jedes Jahr im Muharram begangen wurden. Nachdem 1502 mit den Safawiden zum ersten Mal eine schiitische Dynastie die Macht im Iran übernommen hatte, erhielten das Leiden und die Trauer, die unter sunnitischer Herrschaft eher eine Angelegenheit der privaten, häufig sogar verborgenen Glaubenssphäre waren, einen pathetischen und öffentlichen Charakter. Erst jetzt weiteten sich die Rituale zu spektakulären Prozessionen aus. Verbunden waren sie mit Selbstgeißelungen und Trauerrezitationen semiprofessioneller Sänger, später auch mit kunstvoll inszenierten Passionsspielen.

Die Safawiden haben die Trauerfeiern für Hussein nicht zuletzt aus machtpolitischen Gründen gefördert und ausgeweitet. Sie wollten die damals noch sunnitische Mehrheit der iranischen Bevölkerung an die Schia binden und den Hass auf den Islam der Sunniten schüren, der mit den Arabern und Osmanen identifiziert wurde. Der Schmerzenskult um Hussein war hierfür das geeignetste Mittel, denn die Passion und der Märtyrertod von Helden spielten schon in der vorislamischen Zeit in altiranischen Legenden sowie zoroastrischen Zeremonien und Trauergesängen eine große Rolle. Das Schicksal Husseins wurde in der safawidischen Ideologie zum Schicksal Irans.

Schuld und Bußritual

Die schiitischen Rituale der Trauer um Husseins Tod dienen aber auch der Buße über das Urversagen der Gemeinde, den Imam bei Kerbela im Stich gelassen zu haben. Das bringt etwas von einer vererbten, wohlgemerkt aber nachkoranischen Schuld in den Islam, der die Erbsünde an sich nicht kennt. Dem Koran zufolge wird der Mensch gut geboren, daher lässt sich aus dem Koran selbst auch keine Theologie der Erlösung entwickeln. Dagegen ist in der schiitischen Volksfrömmigkeit die Vorstellung verankert, dass jeder Schiit Schuld am Tode der Märtyrer trage, man jedoch durch die rechte Gesinnung der Buße, vor allem aber durch die Fürsprache eines Imams, eines Märtyrers also, Erlösung finden könne – und natürlich durch das Martyrium selbst.

Mag es heute beinah vergessen sein, so hat das Christentum neben der Schia die ausgeprägteste Märtyrertheologie entwickelt. Unzählig sind die Legenden, die vom unerschrockenen frühen Christen künden, der in der Auseinandersetzung mit den Repräsentanten des römischen Imperiums lachend immer neue Folterqualen auf sich nahm. Im Mittelalter haben sich die Büßerrituale in Süd- und Westeuropa zu Massenphänomenen entwickelt, und wer heute Bilder aus der Prozessionswoche in Guatemala oder der Osterprozession in Sezze Romano mit denen der schiitischen Muharram-Rituale vergleicht, wird über die Ähnlichkeit staunen. Dass sich der Ablauf der Prozessionen und Passionsspiele und sogar einzelne Symbole wie der mitgeführte Stuhl und die Standarte gleichen, hat manche Forscher zu der These geführt, dass der Leidenskult im 16. Jahrhundert direkt aus Europa eingeführt worden sei. Für einen unmittelbaren Einfluss des Katholizismus auf die Schia gibt es dennoch wenig Anhaltspunkte, geschweige denn historische Belege. Eben weil sie bis heute nicht hinreichend erklärt ist, bleibt die Nähe der beiden Konfessionen, an deren Ausgang jeweils ein Martyrium steht, irritierend.

Im Unterschied zum Christentum aber hat der Gedanke einer erblichen Schuld für Schiiten seinen Ursprung auf Erden, nicht im himmlischen Uranfang der Menschen. Da der „Sündenfall“ aus schiitischer Sicht in der Geschichte geschehen ist, nicht bereits im Himmel, wurde Erlösung von einer Minderheit auch revolutionär gedacht, als mögliche und anzustrebende Wendung gesellschaftlicher Zustände. Wo immer man in der schiitischen Welt des zwanzigsten Jahrhunderts gegen die Unterdrückung aufbegehrt hat, wurden Ritual und Symbolik der Aschura zum mächtigen politischen Faktor. Denn wer das Martyrium als Erlösung aus einem irdischen Jammertal betrachtet, für den verliert der Tod seinen Schrecken – damit konnte und kann politische Herrschaft nicht umgehen, ist doch ihr äußerstes Mittel, um sich zu behaupten, Folter und Tod.

Vom Martyrium Husseins und dem schiitischen Trauerritual führt noch kein direkter Weg zum Selbstmordattentat, aber beides bereitet den Boden, auf dem eine Sekte wie die Assassinen entstehen konnte. Als schiitisch-esoterischer Sonderkult haben sie im 11. Jahrhundert das Phänomen des Terroristen, der sich mitsamt seinem Opfer in den Tod reißt, in die islamische Welt eingeführt. Im ersten Golfkrieg hat der schiitische Märtyrerkult iranische Soldaten, darunter Kinder und Jugendliche, in die Minen der Irakis laufen lassen, den Ruf „Ya Hussein“ auf den Lippen. Er hat dazu geführt, dass sich 1983 erstmals ein Mitglied der libanesischen Hisbullah zum Selbstmordattentat bereitfand. Sein Anschlag auf ihr Marine-Corps bewog die Vereinigten Staaten zum Abzug aus Beirut.

In Iran erfasst die Mentalität des religiösen Selbstopfers aber auch säkulare, ja areligiöse Akteure. Sie treibt gerade heute in Iran viele Theologen, aber ebenso ganz und gar laizistische Intellektuelle und Studenten dazu, sich gegen alle Widerstände, trotz Drohungen, Verhaftungen und Ermordungen für Demokratie und Meinungsfreiheit, ja für einen säkularen Staat einzusetzen. Im Alltag äußert sie sich häufig als ausgeprägter Altruismus, der gerade europäische Reisende beeindruckt.

Aber wenn auch der Kamikazetäter eine, wenngleich marginale, gegen den Konsens der Gelehrten stehende Ausformung des allgemeinen schiitischen Märtyrerkultes ist, führt von dort aus eine direkte Linie zum 11. September? Manche Artikel im deutschen Feuilleton, die Parallelen zwischen den Assassinen und den Attentätern von New York und Washington zogen, legten das nahe. Allein, der Kette fehlt ein entscheidendes Glied.

Kette ohne Glied

Der Märtyrerkult ist ein dezidiert schiitisches Phänomen, er hat sich in der Opposition zur muslimischen Mehrheit überhaupt erst herausgebildet; viele seiner geistigen und rituellen Elemente sind dem sunnitischen Islam wesensfremd, so die Idee der Erlösung, der Buße, der Imitatio Husseins. Die Ideologie der Terroristen, was immer wir darüber wissen, ist hingegen dezidiert sunnitisch. Aus westlicher Perspektive mag der Unterschied geringfügig erscheinen, innerhalb des Islams könnte er größer kaum sein. Die Schiiten gelten sunnitischen Extremisten als Ketzer, und es ist kein Zufall, dass die Taliban, mit denen sich die Anführer von al-Qaida verbündet haben, vor drei Jahren Tausende von Hazara-Schiiten massakriert haben. Direkt kann die Linie, die von Hussein über die Assassinen zum Flug auf das World Trade Center führt, jedenfalls nicht sein.

Die Taliban und vor ihnen bereits die afghanischen Mudschaheddin haben selbst im Kampf stets auf die Vermeidung eigener Verluste geachtet. Die Idee des anzustrebenden Martyriums wurde von arabischen Freischärlern in den afghanischen Krieg gegen die Sowjetunion hineingetragen, äußerte sich seinerzeit aber nicht einmal bei ihnen im bewusst herbeigeführten Opfertod. Man weiß, dass Vertreter der Mudschaheddin in den Achtzigerjahren bei den Tamil Tigers nachgefragt haben, ob diese gegen Geld Selbstmordattentäter zur Verfügung stellen würden. Die Afghanen selbst kämpften tapfer, aber nicht mit Todesverachtung. Ein Indiz dafür, wie fern der schiitische Märtyrerkult ihnen ist, lieferte kürzlich ein Vertrauter des ermordeten Schah Massoud im Gespräch mit der FAZ. Auf die Frage, warum der Anschlag auf den ärgsten Widersacher der Taliban nicht zu verhindern gewesen sei, antwortete er, dass sie mit allem gerechnet hätten, nur nicht mit einem Selbstmordattentat. Die Begründung war verblüffend: Selbstmord und Selbstmordattentate widersprächen dem afghanischen Ehrenkodex und seien nicht einmal den verhassten Taliban zugetraut worden.

In der Moderne sind Selbstmordattentate lange Zeit nur aus anderen als der islamischen Kultur bekannt gewesen, vor allem aus Japan natürlich, das dem Phänomen einen Namen gegeben hat. Deutlich mehr Selbstmordattentate wurden von Tamilen im Befreiungskampf auf Sri Lanka begangen. Noch häufiger ist das Phänomen nur noch in Kolumbien aufgetreten, wo meist Drogenbarone den Auftrag geben. Ideologische Motive finden sich dort kaum: Indem der Auftragsmörder den eigenen Tod in Kauf nimmt, sichert er seiner bitterarmen Familie für viele Jahre den Lebensunterhalt.

In den muslimischen Ländern hätte bis vor zwei, drei Jahrzehnten kaum jemand etwas mit dem Begriff des Selbstmordattentäters anzufangen gewusst – schon gar nicht in der sunnitischen Welt, die dem schiitischen Märtyrerkult ohnehin distanziert gegenübersteht. Aber auch in der iranischen Revolution war das Selbstmordattentat praktisch ohne Bedeutung – im Gegensatz zur Idee des Martyriums als solcher, der Bereitschaft, ohne Waffen den Soldaten des Schahs entgegenzutreten. Der Märtyrerkult konnte in der religiösen Verblendung zu den Minengängern im iranisch-irakischen Krieg führen, aber er führte nicht zum Selbstmordattentat – zumindest bis in die Achtzigerjahre.

Selbst im libanesischen Befreiungskampf aber haben die schiitische Amal-Fraktion und die Hisbullah weniger Selbstmordattentate begangen als etwa kommunistische Gruppierungen. Der erste arabische Selbstmordanschlag im Konflikt mit Israel, der damals immerhin schon viele Jahrzehnte währte, fand Anfang der Achtzigerjahre statt und wurde von der Syrischen Nationalistischen Partei begangen, die zu einem großen Teil aus arabischen Christen bestand. Als aus den Reihen der Hisbullah einige Zeit später erstmals ein schiitischer Attentäter amerikanische Soldaten in die Luft sprengte, stieß er bei beinah allen schiitischen Autoritäten des Landes auf Ablehnung, nicht zuletzt mit Hinweis auf das Verbot des Korans, sich selbst umzubringen. In der sunnitischen Welt hatte es da bereits einen spektakulären Selbstmordattentat gegeben, ausgeführt allerdings nicht von Sunniten: 1972 eröffneten drei Mitglieder der Japanischen Roten Armee im Flughafen von Tel Aviv das Feuer und töteten zwanzig Menschen und verletzten achtzig weitere, bevor sie selbst erschossen wurden. Der libysche Staatschef Muammar Gaddafi mokierte sich später darüber, dass Ausländer für die arabische Sache kämpften, während die Araber selbst untätig blieben.

Historisch also war es gerade nicht die islamische Kultur, in der sich das Phänomen der Selbstmordattentate entwickelt hat. Heute jedoch verbindet man vor allem den Islam damit, und zwar keineswegs aus Böswilligkeit. In Israel, in Kaschmir, womöglich in Tschetschenien, inzwischen auch in Afghanistan – in all diesen Ländern haben Muslime ihr Leben geopfert, nur um möglichst viele Gegner zu töten. Und obwohl es mindestens in Israel, ähnlich wie in Kolumbien, häufig die ausweglose ökonomische Situation und die fürstliche Belohnung für die eigenen Hinterbliebenen ist, deretwegen sich vorzugsweise arme Palästinenser selbst in die Luft sprengen, ist doch das Religiöse keineswegs eine bloße Maskerade – schon gar nicht bei den Führern und Kämpfern von al-Qaida, die fast durchweg aus begüterten Kreisen stammen.

Die Idee des religiösen Martyriums bestimmt schon seit Jahren ihr Denken und Handeln. Die Schriften Abdullah Azzams etwa, des Mentors von Ussama Bin Laden, verherrlichen Märtyrer auf widerwärtige Weise und erwecken den Eindruck, als sei es der eigentliche Lebenszweck, sich von Ungläubigen zerfetzen zu lassen, um somit der 72 paradiesischen Jungfrauen habhaft zu werden. Der rechte Arm Azzams war lange Zeit ein Mann namens Tamim al-Adnani, auch er ein Freund Bin Ladens. In den Achtzigerjahren reiste er, wie der Islamwissenschaftler Khalid Duran beschreibt, durch die Vereinigten Staaten, um mit Vorträgen Freiwillige für den Afghanistankrieg zu gewinnen. Adnani selbst fand allerdings keinen Weg in die Gärten der Märtyrer: Er starb 1990 in Orlando an einem Herzschlag, ausgerechnet beim Besuch von Disney World.

Die Szene könnte bezeichnender nicht sein: Ausgerechnet der Mann, der wie kaum ein anderer dafür verantwortlich ist, den religiösen Märtyrerkult unter sunnitischen Muslimen verbreitet zu haben, starb in Disney World. Auch die Führer von al-Qaida, einer Organisation, deren Struktur deutliche Züge einer religiösen Sekte aufweist, sind keine Hinterwäldler, keine ungelernten Dörfler wie die Taliban, bei denen sie Zuflucht gefunden haben. Sie haben durchweg moderne Biografien aus säkularen, dem westlichen Lebensstil zugeneigten Mittel- und Oberschichten, die durch Bekehrungserlebnisse gezeichnet sind. So soll Bin Laden, nachdem er die gleiche Schule besucht hatte wie zuvor Omar Scharif, zunächst durch das Nachtleben von Beirut und Kairo gezogen sein, bevor er Ende der Siebzigerjahre die religiöse Initiation erfuhr und in den afghanischen Widerstand pilgerte. Auch an die mutmaßlichen Attentäter des 11. September kamen durchweg aus verwestlichten Mittel- und Oberschichten. Viele von ihnen gingen am Wochenende in die Disko, hatten Freundinnen, tranken Alkohol. Ihr Alltag, ihre Berufe, ihre Vorlieben und Kenntnisse hatten sehr viel mehr gemein mit einem bürgerlichen Leben in Athen, Buenos Aires oder Kuala Lumpur als mit dem Leben in palästinensischen Flüchtlingslagern, ägyptischen Slums oder jemenitischen Stämmen. Doch die Gedankenwelt der Terroristen scheint rückwärts gewandt, gar archaisch zu sein, und denkt man an den schiitischen Märtyrerkult, scheinen tatsächlich gewisse Aspekte der islamischen Tradition in sie eingeflossen zu sein – aber nur als eines von mehreren Motiven innerhalb einer zutiefst synkretistischen Weltanschauung.

Terror ohne Bekenntnis

Der 11. September lässt sich vielleicht nicht ohne die Geschichte Husseins erklären. Aber um zu verstehen, warum Menschen dazu bereit sind, sich in lebende Raketen zu verwandeln, muss man auch eine andere Geschichte erzählen, eine moderne Geschichte oder, um es pathetisch zu formulieren, eine Geschichte der Moderne. In der Frankfurter Rundschau schrieb Friedrich Brake, dass man den 11. September am besten mit Nietzsche verstehen könne. Er und tiefgründiger noch der tunesische Wissenschaftler Abdelwahhab Meddeb im Gespräch mit Lettre International dachten an die Theorie des Ressentiments aus der ersten Abhandlung der Genealogie der Moral, die in der Tat zur Psychologie der Anschläge beitragen mag. Ich meine aber, dass Nietzsche in einem noch fundamentaleren Sinne für Denkweisen steht, die sich am 11. September als Handlung geäußert haben, und zwar denke ich an eben jenen seiner Kerngedanken, der auch im Faschismus aufgegriffen worden ist: den aktiven Nihilismus.

Es gehört zu den bis jetzt nicht hinreichend reflektierten Umständen des 11. Septembers, dass er völlig ohne ein Bekenntnis ausgekommen ist. Sogar Bin Laden selbst hat es geradezu auffallend vermieden, die Verantwortung für die Anschläge zu übernehmen. Vielmehr versuchte er den Eindruck zu erwecken, als seien Flugzeuge, die in amerikanische Wolkenkratzer fliegen, so etwas wie eine Naturerscheinung der amerikanischen Außenpolitik. Die eklatante, durch dieses und weitere Videos gerade nicht aufgelöste Unbestimmtheit der Beweggründe steht im Widerspruch zu der nie zuvor erlebten Präzision der Anschläge. Wenn in der Vergangenheit die Rote Armee Fraktion, die PKK, die tamilischen Befreiungstiger, der ägyptischer Dschihad, radikale Palästinenser oder jüdische Siedler Anschläge begingen, haben sie sich nicht nur voller Stolz dazu bekannt, sie verfolgten vor allem mit der Gewalt konkrete und identifizierbare politische Ziele. Aber hier? Man beeilte sich, von einer „Kriegserklärung“ zu sprechen, und weiß bis heute nicht einmal, wer genau am 11. September den Krieg erklärt hat – und wem. Den Vereinigten Staaten als Staat? Dem Westen oder gar dem Christentum? Dem Kapitalismus?

Auch wenn Beweise weiterhin ausstehen, spricht viel dafür, dass tatsächlich eine Zelle innerhalb des Netzwerkes al-Qaida, die Anschläge von New York und Washington verübt hat. Und man kann sich inzwischen kaum noch vorstellen, dass die Motivation der materiell gut situierten Attentäter nicht eine religiöse war. Doch meine ich hier, in der äußersten Radikalisierung des Glaubens just eine Spielart des Nihilismus zu erkennen. „Es fehlt die Antwort auf das Warum“, heißt es bei Nietzsche, aber die Antwort fehlt nicht nur, sie wird im vollen Bewusstsein nicht gegeben. Nietzsches Nihilismus ist der „Wille zum Nichts“. Er ist „nicht bloß der Glauben, dass alles wert ist, zugrunde zu gehen“, vielmehr legt man selbst Hand an, man richtet sich und andere, weniger Hellsichtige zugrunde. Erst dort sei der Nihilismus von keines Gedanken Blässe mehr angekränkelt, wo ein „Dynamit des Geistes, vielleicht ein neu entdecktes Nihilin“ zur Verfügung stünde – bis hin zur „grauenhaften Ethik des Völkermordes“. Die völlige Vernichtung des anderen wie sich selbst, die in der Logik des alttestamentlichen und auch koranischen Lobes der Schöpfung das Furchtbarste ist, avanciert in Nietzsches Denken zum Heil. Es sei gerade ein Privileg der Menschen, dass sie „sich selbst durchstreichen können wie einen mißrathenen Satz“.

Gedanken wie diese, aus ihrem Kontext gerissen, haben im Ersten Weltkrieg Studenten und Intellektuelle für die Front begeistert und im Dritten Reich noch giftigere Blüten getrieben. Ihre Relevanz geht aber über die unmittelbare Leserschaft hinaus, denn sie stehen nicht für Lehren, die man befolgt oder ablehnt. Man muss nicht Nietzsche gelesen haben, um in seinen Strukturen zu denken. Seine Philosophie ist der prophetische und noch immer genaueste Ausdruck einer gleichzeitigen Selbsterhöhung und Selbstverleugnung, die mit der Moderne einherzugehen scheint. In anderen Gesellschaften und politischen Situationen sucht sie sich andere Terminologien, Begründungsmuster und Handlungsweisen.

Eine solche Denkstruktur ist selbst dann spezifisch modern, wenn die Bilder, in denen sie sich vermittelt, aus der Tradition stammen oder aus deren Behauptung. Nicht grundlegend anders, als der Faschismus auf das Konstrukt einer arisch-deutschen Urgeschichte zurückgegriffen hat, fügen sich die Terroristen in die Annahme einer religiösen Tradition. Sie hat mit der realen Geschichte der sunnitisch-arabischen Welt kaum mehr zu tun als die Walhalla-Mythologie der Nazis mit der real erinnerten deutschen Geschichte.

Die Assassinen wurden nach dem 11. September immer wieder als die Vorfahren und Vorläufer der Selbstmordattentäter von New York und Washington herangezogen. Historisch ist das nicht haltbar, handelt es sich bei ihnen doch um persische Schiiten, noch dazu Vertreter einer esoterischen Sekte, genauer gesagt septimanische Neu-Ismaeliten. Von ihnen ist keine Linie nachweisbar, die zu irgendeinem anderen Phänomen innerhalb der islamischen Geschichte führen würde. Trotzdem suchten viele Beiträge im Feuilleton nachzuweisen, warum mit Bin Laden der Alte vom Berge wiedergekehrt sei. Aufschlussreich war vor allem ein ganzseitiger Essay in der Süddeutschen Zeitung, in dem die Autorin ihre Analogien nicht nur mit Zitaten aus einem Büchlein des angesehenen Essayisten Bernard Lewis belegte, sondern auch mit Zitaten aus modernen westlichen Romanen über die Assassinen. Dadurch bekam ihr Aufsatz plötzlich und unbeabsichtigt etwas sehr Wahres. Die Assassinen mögen eine reale historische Erscheinung gewesen sein, aber sie sind kein Bestandteil eines historischen Gedächtnisses, nicht einmal im schiitischen Iran selbst. Als realer Ort ist der Berg, den Raoul Schrott eigens besuchte, um etwas über den 11. September zu erfahren, heute völlig vergessen, eine ganz normale Kleinstadt. Kein Wallfahrtsort, und die einzigen Pilger dürften derzeit westliche Intellektuelle und Journalisten sein, die dort eine Erklärung für den 11. September suchen. Die einzigen Assassinen, zu denen sich Analogien herstellen lassen, sind die Assassinen des historischen Romans und aus Hollywood.

Ein giftiges Amalgam

Unzweifelhaft spielt die Tradition eine wichtige Rolle im Denken der Terroisten. Versatzstücke aus ihrem Archiv, die in dieser Konstellation ohne Vorläufer sind, mögen sich mit fremden, spezifisch schiitischen, vielleicht sogar ursprünglich christlichen Motiven sowie modernen Elementen, Bildern, Denkstrukturen verbunden haben und eingeflossen sein in ein Amalgam aus Kapitalismuskritik, Märtyrerkult, Drittweltrhetorik, totalitärer Ideologie und Sciencefiction. Vergleiche drängen sich auf zum Una-Bomber, zur Aum-Sekte und vor allem zu Timothy McVeigh, die ebenfalls ohne Bekennerschreiben auskamen. Vor allem Letzterer schien geradezu davon besessen gewesen zu sein, sich in einem medialen Großereignis zu vernichten. Statt zu versuchen, seine Hinrichtung zu verhindern oder wenigstens aufzuschieben, setzte er alles daran, eine öffentliche Übertragung seines Todes zu ermöglichen. All diese Terrorakte zeugen von einem allgemeinen pathologischen Hass, der, anders als bei den Anschlägen der RAF, der ETA oder der palästinensischen Hamas, nicht mehr mit einem konkreten, identifizierbaren Motiv einhergeht. Der bekenntnislose Terror richtet sich gegen einen Feind, der zur Abstraktion geronnen ist, gegen eine schon metaphysisch zu nennende Übermacht.

Fast folgerichtig ist es da, dass die Attentate als ein Medienereignis für ein Milliardenpublikum inszeniert worden sind, einschließlich der zehnminütigen Pause, innerhalb derer die Kameras aufgestellt werden konnten. So etwas haben sich nicht afghanische Stammeskrieger ausgedacht, sondern Menschen, die in eben jener Gegenwart stehen, die sie bekämpfen. Selbst das prophetische Setting und die altertümlich wirkende Rhetorik, mit Hilfe derer sich Ussama Bin Laden nachträglich inszeniert hat, ist hierfür noch ein Zeugnis. Zwar evozierte er das sprachliche Bild einer Tradition, doch sprechen die tatsächlichen Erben der theologischen Tradition ganz anders. Analog gilt dies für seine Ideologie, soweit sich Reste davon überhaupt entziffern lassen. Die Einheit von Staat und Religion, die ihm wahrscheinlich vorschwebt, wird als Seinszustand des Islams ausgegeben, hat sich als Idee jedoch erst im Zuge der Nationalstaatsbildung im 19. Jahrhundert herausgebildet. Ebenso wenig ist der Drang zur Selbstvernichtung, der sich durch die Vorstellung der eigenen oder totalen Erlösung definiert und legitimiert, aus dem Mittelalter vertraut. Der Amoktäter ist ein moderner Mensch. Durch eine einzige Tat gewinnt er ein Surrogat für das, was einer modernen Gesellschaft beinah per definitionem fehlt: ein umfassender Sinnzusammenhang, der dem Individuum seinen Platz zuweist. Aus diesem Leerraum erschießt oder erbombt er sich Bedeutung herbei, er wird für ein paar Sekunden zum totalen Handelnden, zum Rächer eines überstark empfundenen Unrechtes. Aus der Nichtigkeit schwingt er sich auf zum Gott. Wie sinnlos auch immer sein Handeln von außen erscheint, so gewinnt er doch gerade durch die Zerstörung ein Ultimum von Sinn. Um wie viel größer muss der Kitzel sein, wenn das Unrecht, das sie durch eine einzige symbolische Tat zu bestrafen meinen, nicht bloß individuell erlitten ist, sondern sich als die Unterdrückung eines Milliardenkollektivs darstellt, dessen Passivität sie aufheben, aus dessen Anonymität sie eben durch die Selbstvernichtung treten.

Wer die Ursprünge des 11. Septembers im Koran oder im Mittelalter sucht, verharmlost, ja führt in die Irre. Er steht für einen Terrorismus, der überall in einer modernen Gesellschaft nachwachsen kann. Gewiss bedarf er der Elenden, als deren Agent er sich fühlt und ausgibt, aber diese Elenden sind austauschbar.

Dennoch muss man auch nach den politischen und ökonomischen Hintergründen der Anschläge fragen. So hybride das Phänomen des global agierenden islamistischen Terrors ist, so braucht es doch einen sozialen und politischen Boden, um derart gefährlich zu werden, es braucht gesellschaftliche Bewegungen, die es unterstützen, Länder, die es schützen. Dass es über all dies verfügt, unterscheidet das Netzwerk von al-Qaida von allen anderen bekannten Varianten eines nihilistischen Terrors. Hier kommen jene afghanischen Flüchtlingskinder ins Spiel, aus denen der pakistanische und der amerikanische Geheimdienst mit Geldern Saudi-Arabiens in Koranschulen Pakistans die Taliban gezüchtet haben, um sie gegen die zuvor unterstützten, seit ihrem Sieg aber nicht mehr kontrollierbaren Mudschaheddin in den Kampf ziehen zu lassen.

So sympathisch sich die Taliban und al-Qaida, die Koranschüler aus der paschtunischen Provinz und die Wohlstandsterroristen aus den arabischen Metropolen gegenseitig in ihren Zielen auch sein mögen, so ähnlich sie inzwischen leben und sich kleiden, so stammen sie doch aus gänzlich unterschiedlichen Welten, gehören sie unterschiedlichen Gegenwarten an. Die explosive Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen aber, die den islamistischen Terrorismus ausmacht, wird in dieser Allianz aus ungebildeten paschtunischen Dörflern und reichen arabischen Städtern exemplarisch sichtbar.

Gekürzte Fassung eines Vortrags, gehalten in der Berliner Volksbühne. Über die Wirkung des schiitischen Märtyrerkultes in der heutigen Politik hat Navid Kermani auch in seinem letzten Buch „Iran – Die Revolution der Kinder“ (C. H. Beck) geschrieben.