Opfer ohne Angst

Doping in der DDR: Oft Menschenversuche an Ahnungslosen. Einige von ihnen wollen diese Vergangenheit nicht bagatellisieren. Birgit Boese, Kugelstoßerin einst, ist eine von ihnen, die Gerechtigkeit fordert

von JUTTA HEESS

An der Glasfront des Ladens im Berliner Stadtteil Pankow ist ein Schriftzug in roten Lettern aufgeklebt: „Übergrößen“. „Nicht zu übersehen“, sagt die Inhaberin Birgit Boese im Telefongespräch mit Schalk in der Stimme. Die 39-Jährige weiß, wovon sie spricht. Denn seit ihrer Kindheit fällt sie ihrer Größe wegen auf. Mit elf Jahren war sie bereits 1,70 Meter, heute sind es 1,85 Meter.

Bemerkungen wie „Na, Lange, wie ist die Luft da oben?“ wusste die junge Berlinerin zwar keck mit „Stinkt nach Zwerg!“ zu kontern. Unglücklich war sie trotzdem über die Hänseleien der Mitschüler. Und unsportlich obendrein. „Eine Brechstange war gelenkig im Vergleich zu mir“, scherzt sie. Deshalb hatte sie auch keinen Spaß am Sportunterricht. Bis ihr der Sportlehrer eines Tages eine Kugel in die Hand drückte. Und Birgit stieß weit, sie zeigte Talent. Von diesem Moment an war sie ein Sportass – dank ihrer Körpergröße. Allerdings war der Beginn ihrer Karriere als Kugelstoßerin gleichzeitig der Beginn einer bis heute nicht enden wollenden Leidenszeit. Denn Birgit Boese gehört zu den Leistungssportlern, die in der DDR ohne ihr Wissen gedopt wurden.

In dem kleinen Büro im Hinterteil ihres Kleidergeschäfts erzählt die gelernte Schneiderin von damals. Wie gut es sich angefühlt hat für das schlaksige Mädchen, in einer Disziplin die Beste zu sein. Und wie nett die Kameraden der Berliner Sportschule waren, an die sie zum zweiten Halbjahr der sechsten Klasse wechselte: „Die Körpergröße spielte endlich keine Rolle mehr.“

So wurde sie vom Ehrgeiz gepackt und spulte gewissenhaft zwei Trainingseinheiten pro Tag ab. Selbst in den Ferien stand Kugelstoßen auf dem Programm – lediglich im Sommer wurden die jungen Sportler von den Betreuern vier Wochen in Ruhe gelassen. „Deshalb haben wir uns nicht gewundert, dass wir ständig Pillen bekamen. Unsere Körper waren ja völlig ausgelaugt.“

Im Rückblick allerdings fällt Birgit Boese etwas auf: „Die Vitamin- und Mineraltabletten haben wir mit nach Hause bekommen. Die rosafarbenen und blauen Pillen jedoch nicht.“ Kein Wunder – das war Oral-Turinabol, die „wie Smarties aussahen“. Aber so harmlos wie die Süßigkeit waren sie keineswegs. Die anabolen Steroide sorgen zwar für einen starken Muskelaufbau, doch gleichzeitig haben sie enorme Nebenwirkungen. Besonders bei Frauen. Noch schlimmer sind die Folgen für junge Mädchen, die noch vor ihrer ersten Periode die Abkömmlinge des männlichen Geschlechtshormons Testosteron einnahmen, wird doch erst während der Pubertät der weibliche Hormonhaushalt ausbalanciert.

„Ich war damals bereit, mich für den Sport zu schinden, aber ich wäre nicht bereit gewesen, meine Gesundheit zu ruinieren“, betont Birgit Boese und steht auf. Die Türklingel ruft sie in den Laden. Freundlich und geduldig bedient sie eine Kundin: „Die Bluse fällt etwas größer aus.“

Wie so vieles in ihrem Leben. Nicht nur die langen Beine, die sie kurz darauf wieder unter den mit vier Backsteinen erhöhten Schreibtisch streckt. Auch die gesundheitlichen Beschwerden: Herzschwäche, Bluthochdruck, Diabetes. Zudem leidet die ehemalige Spartakiadesiegerin im Kugelstoßen wegen einer Stoffwechselstörung an Übergewicht; bald muss sie an der Bandscheibe operiert werden. „In den letzten sieben Jahren habe ich zwanzigtausend Mark an Arztkosten zugezahlt“, erklärt sie.

Fast die gleiche Summe musste sie für medizinische Behandlungen ihres heute vierzehnjährigen Sohnes aufbringen. Er hat seit seiner Geburt Asthma und Neurodermitis – wie fast alle Kinder von gedopten Sportlern und Sportlerinnen. „Oder sie sind behindert“, sagt Birgit Boese, die während ihrer Schwangerschaft noch gar nicht wusste, dass sie als Heranwachsende leistungsfördernde Substanzen geschluckt hatte.

Das erfuhr sie erst vor einigen Jahren. Nachdem sie mit vierzehn wegen einer Verletzung aus dem Leistungskader ausgeschieden war, hatte sie mit ihrer sportlichen Vergangenheit abgeschlossen. Ihre gesundheitlichen Probleme und die Schwierigkeit, schwanger zu werden, brachte sie nicht mit ihrer Zeit im Kugelstoßring in Verbindung. Selbst als ein Frauenarzt sie fragte, ob sie „unterstützende Mittel“ bekommen hätte, verneinte sie. Nur Vitamine und Mineralien.

Erst 1995 erfuhr Birgit Boese, was sie in Wirklichkeit geschluckt hatte. Ihre Mutter hatte einen Aufruf des Arztes Werner Franke, Professor am Krebsforschungszentrum in Heidelberg, im Fernsehen verfolgt. Er forderte alle DDR-Sportler auf, sich bei der Zentralen Ermittlungsstelle für Regierungs- und Vereinigungskriminalität in Berlin zu melden. Birgit Boese ging hin – und musste der bitteren Wahrheit ins Auge sehen: „Sie können aufhören, Fragen zu stellen – Sie wurden gedopt“, sagte der Ermittlungsbeamte und fragte, ob sie Strafanzeige gegen die Verantwortlichen stellen wollte.

Die ehemalige Leistungssportlerin wollte. Die Schuldigen sollten eine Strafe bekommen. Aber vor allem: „Ich wollte, dass ein solches Unrecht nie wieder passiert. Wenn ein erwachsener Sportler heute dopt, ist das seine Sache. Aber wenn Kinder – weit vor der körperlichen Reife – ohne eigenes Wissen und ohne das Wissen der Eltern geschädigt werden, ist das ein Verbrechen.“

Birgit Boese trat als eine der Nebenklägerinnen im Ewald/Höppner-Prozess auf, bei dem die beiden Hauptverantwortlichen des systematischen Dopings in der DDR nur zu leichten Geld- und Bewährungsstrafen verurteilt wurden. Als „symbolischen Fingerzeig“ empfinden Birgit Boese und vierzehn weitere Sportlerinnen dieses Urteil.

Deshalb prangerten sie im Mai vorigen Jahres in einem offenen Brief an den Bundestag die halbherzige Aufarbeitung des Dopings im DDR-Leistungssport durch die bundesdeutsche Justiz an. Sie fordern eine Entschädigung der Dopingopfer und die Einrichtung einer Beratungsstelle für Betroffene und ihre Kinder. Daraufhin tagte im Oktober der Sportausschuss der Bundestags, um über entsprechende Maßnahmen zu beraten. Gemeinsam mit der ehemaligen Diskuswerferin Brigitte Michel erklärte sich Birgit Boese bereit, in der öffentlichen Anhörung den Mitgliedern des Sportausschusses Rede und Antwort zu stehen.

Es war nicht umsonst: Im November entschied die Bundesregierung, vier Millionen Mark zur Entschädigung der Dopingopfer zur Verfügung zu stellen. Boese und Michel plädieren für die Zahlung einer monatlichen Rente an die Geschädigten, damit die Betroffenen endlich Ruhe finden und nicht stets aufs Neue um Zuschüsse betteln müssen. Ein Fünkchen Hoffnung in einem zähen und langwierigen Kampf.

Denn weder der Deutsche Sportbund noch das Nationale Olympische Komitee (NOK) noch die Politik hatten in der Vergangenheit etwas unternommen. Dabei rechnen Experten mit rund zehntausend gedopten und etwa tausend durch das Doping schwer geschädigten Menschen. Bei der Doping-Opfer-Hilfe in Weinheim, einem Verein, der Opfer berät und mit Geldern aus privaten Spenden ihre gröbsten finanziellen Sorgen zu mildern versucht, haben sich bislang jedoch nur 250 ehemalige Sportler gemeldet.

Birgit Boese wundert sich nicht darüber: „Es ist nicht komisch, sich in aller Öffentlichkeit nackig zu machen und die körperlichen Schäden zu beschreiben. Die Opfer haben Angst.“ Es seien ja auch einige dabei, die heute noch als Trainer oder Übungsleiter im Sport arbeiten. Sie fürchten, als Nestbeschmutzer beschimpft zu werden und ihren Job zu verlieren. Andere verdrängen das Problem, vor allem Sportler, die länger dabei waren und später wussten, was sie ihrem Körper antaten.

Und die erfolgreichen, die nicht zugeben wollen, dass sie ihre Medaillen und Siege mit Hilfe von Dopingmitteln errungen haben. „Viele Betroffene rufen bei mir an und machen sich Vorwürfe. Sie haben oft kranke Kinder und denken, das hätten sie verhindern können“, berichtet Birgit Boese. Doch sei es wichtig, dass sich die Geschädigten melden: „Die Tatsache, dass verhältnismäßig wenig Sportler sich bekennen, wird immer wieder benutzt, um den Dopingskandal zu bagatellisieren.“

Selbst an höchster Stelle. In der Zeitschrift NOK-Report wurde in mehreren Artikel der DDR-Dopingskandal heruntergespielt. Nicht ohne Grund: Seit die Politik begonnen hat, sich mit dem Thema auseinander zu setzen, muss das NOK befürchten, mit in die Verantwortung gezogen zu werden.

Birgit Boese macht diese Milchmädchenrechnung – wenig bekennende Sportler gleich wenig Opfer – wütend. „Ein offener Umgang mit dieser Vergangenheit fällt vielen Sportlern schwer“, erklärt sie. „Doch je mehr Sportler sich heute bekennen, umso mehr kann in Zukunft für schwer Erkrankte und ihre Kinder getan werden.“

Bei der Doping-Opfer-Hilfe bestehe schließlich auch die Möglichkeit, sich anonym beraten zu lassen. „Es geht uns nicht nur um Geld“, erklärt Birgit Boese ihr Engagement. „Es geht um Gerechtigkeit.“

In fünf Jahren hat sie bereits viel Kraft in das Ringen um Entschädigung und Aufklärung gesteckt. Aber sie ist nicht bereit aufzugeben. „Man hat beim Sport gelernt, Sachen, die man angefangen hat, gründlich zu Ende zu bringen“, sagt sie entschlossen. Ein unbändiger Wille: vielleicht das einzig Positive, was Birgit Boese von ihrer Zeit als Leistungssportlerin geblieben ist.

JUTTA HEESS, 30, lebt als freie Autorin in Mainz. Trotz einer Körpergröße von 1,79 Metern war sie im Kugelstoßen eine Null. Mit dem Basketball hat sie es (Oberliga Südwest) etwas weiter gebracht