Verschlossene Türen

Anspruch und Wirklichkeit: „Chancengleichheit“ ist in der Politik zur gefälligen Antwort auf die soziale Frage geworden. Was dadurch ausgeblendet wird, zeigt die Soziologie – in dem Fach geht es um jene Mechanismen, die Ungleichheit reproduzieren

Jeder „Sieg“ im Wettkampf um soziales Prestige verbessert die Chancen, auch in der nächsten Runde zu gewinnen

VON HOLGER SCHATZ

Ist die Soziologie Anwältin einer „Politik der Gleichheit“ und somit aufgefordert, sich zur allseits wahrgenommenen neuen „sozialen Frage“ zu positionieren? Die Frage von Martin Endreß auf dem vergangene Woche in München tagenden 32. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie provozierte zunächst keine explizite Bejahung. Gleichwohl wurde demonstriert, wie viel Wissen das von Kürzungen und mangelnder gesellschaftlicher Anerkennung gebeutelte Fach hierzu bereits angesammelt hat. Was aber ist der spezifische, möglicherweise kritische Beitrag der Soziologie zur Erhellung der sozialen Ungleichheit, und wie verhält sich dieser zur politischen Debatte?

Vereinfacht gesprochen, weist die in methodischer Hinsicht äußerst ausdifferenzierte Disziplin ein gemeinsames Motiv auf. Es geht um die Erforschung jener Mechanismen, welche die Reproduktion und Verfestigung sozialer Ungleichheiten bedingen. Michael Vester, Politikwissenschaftler in Hannover, brachte das hieraus resultierende, durchaus politisch gefasste Selbstverständnis auf den Punkt. Während die Politik mit der formalen Zugangsgerechtigkeit etwa im Bildungssystem auch die Chancengleichheit gewährleistet sehe, zeige die Soziologie, warum Arbeiterkinder trotz Bafög an den Hochschulen nach wie vor unterrepräsentiert bleiben. Nicht anders verfährt die Gendersoziologie, wenn sie der Marginalisierung von Frauen in bestimmten gesellschaftlichen Bereichen auf die Spur kommen will. Die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit der Chancengleichheit nährt nun nicht nur eine in der Tat beeindruckende Forschungspraxis, sondern auch das Selbstbewusstsein des Faches. In Vesters Lob, die Soziologie habe sich den Konjunkturen einer „Illusion der Chancengleichheit“ (Bourdieu/Passeron) stets verweigert, drückte sich der weithin geteilte, aber unausgesprochene Anspruch aus, Anwältin der Chancengleichheit zu sein.

Aber ist die Soziologie damit kritisch? Vergleicht man ihr Verständnis von Chancengleichheit mit jener, die im aktuellen Diskurs maßgeblich die politische Programmatik bestimmt, dann lautet die Antwort ja. Offensichtlich etwa ist der Zynismus von Hartz IV, die Chancen der Arbeitslosen erhöhen zu wollen, indem man ihnen die Leistungen kürzt. Flankiert wird diese Konstruktion der Chancengleichheit durch das Versprechen, quasi im Gegenzug die „Vorteile“ und „Privilegien“ der „Insider“, also der Arbeitenden zu beschneiden. Selbst in den Gewerkschaftspublikationen kann man heute lesen, dass die „Konfliktlinie Kapital–Arbeit als Gerechtigkeitsmaßstab ungeeignet“ sei (Mitbestimmung 10/03).

Vor allem aber im links-liberalen Lager ist diese Logik Konsens, die freilich durch eine Vielzahl steuerrechtlicher Konstruktionen Plausibilität erhält: „Alter, Bildungsstand, Ethnie und familiäre Verpflichtungen: Das sind die Diskriminierungstatbestände, der sich die Linke stellen muss. Es kann also nicht nur darum gehen, die Errungenschaften der unteren Mittelschichtmilieus zu sichern, auf die sich die Gewerkschaften konzentrieren. Die entscheidende Aufgabe besteht darin, die Zugänge für Bildung und Einkommen möglichst für alle offen zu halten“ (taz, 3. 4. 04). Was provozierend klingt, ist für sich genommen konsequent. Den Kündigungsschutz zu kippen und das Lohnniveau zu senken, öffnet die Zugänge zum Arbeitsmarkt. Arbeitsplätze entstehen auf die Weise indes nicht. Genau hier aber – im Absehen von der Frage „Chance wozu“ – befindet sich der blinde Fleck der Rede von der Chancengleichheit.

Der amerikanische Philosoph John Rawls, als Liberaler gewiss der Kapitalismuskritik unverdächtig, reflektierte die „Unvollkommenheiten“ des kapitalistischen Konkurrenzsystems nüchtern. Markterfolg fuße zwar auf etlichen Bedingungen und sei somit nicht nur dem Zufall geschuldet, doch die hinreichenden Bedingungen entzögen sich dem rational planbaren Handeln der Akteure. Zur Forderung nach Chancengleichheit schrieb er lapidar: „Chancengleichheit bedeutet gleiche Chance, die weniger Glücklichen in dem persönlichen Wettkampf um Einfluss und gesellschaftliche Stellung hinter sich zu lassen.“ Gerade am Arbeitsmarkt zeigt sich heute so deutlich, dass Konkurrenz nicht jene Win-win-Effekte nach sich zieht, welche die liberale Theorie unterstellt: Die Chancen etwa eines sich weiterbildenden Arbeitslosen auf eine Stelle steigen in dem Maße, wie andere Arbeitslose genau dies unterlassen.

Derlei spieltheoretische Erkenntnisse über so genannte Gefangenendilemmata führten einst im Verein mit weitaus radikaleren Einsichten in die soziale Frage – etwa, dass Profit mit Ausbeutung von Mehrarbeit und hierarchischer Arbeitsteilung zu tun hat – zu einer spezifischen Semantik des Sozialstaates. Danach konnte dieser gewissermaßen als Entschädigung für das Ertragen von Leid in der Arbeit und der Arbeitslosigkeit begriffen werden. Analog dazu mussten die Glücklichen mit ihrem Reichtum immer auch die lästige Assoziation mitschleppen, dass dieser in vielerlei Hinsicht auf externen (Vor-)Leistungen beruhte. Davon auf dem Wege etwa steuerlicher Belastung wieder etwas abgeben zu müssen, war gewiss ärgerlich, erschien aber nicht wie in der heute hegemonialen Deutung als Enteignung, die man allenfalls aus Mildtätigkeit über sich ergehen lässt. Diesen semantischen Stachel einer zweifellos domestizierten Erinnerung an Klassenkampf ziehen zu können, blieb der konservativen Sozialstaatskritik verwehrt.

Solange aber die Institution „sozialer Ausgleich“ als nicht verhandelbares Rechtsgut einer gutsherrlichen Praxis des Gewährens nach Schönwetterlage in und außerhalb der Arbeitswelt Grenzen setzte, war mit Sachzwangrhetorik allein kein Staat zu machen. Der hierzulande spätestens mit dem rot-grünen Aufbruch von 1998 einsetzenden Rede von der Chancengleichheit war es vorbehalten, dieses Vakuum zu füllen. Allerdings verblüfft die Renaissance dieser Forderung ausgerechnet zu einer Zeit, in der mit der sozialen Ungleichheit auch die Kontingenz von eigenem Tun und sozialem Status wächst.

Nun hat das Gros der SoziologInnen mit den genannten Ausdeutungen von Chancengleichheit schwerlich zu schaffen. Zwar gewinnen entsprechende Positionen auch unter diesen zunehmend an Bedeutung, wie sich im kürzlich erschienenen Sammelband „Welche Gleichheit, welche Ungleichheit“ (VS Verlag für Sozialwissenschaften) nachvollziehen lässt. Ableiten lassen sie sich aus den Theorien der sozialen Schließung jedoch nicht. Und doch implizieren jene Ansätze auf ihre Weise eine problematische Verdrängung der Frage „Chance wozu“. Die Verfestigung sozialer Ungleichheitsstrukturen nach dem Matthäus-Prinzip – wer hat, dem wird gegeben – hat nämlich einen ökonomischen Grund. Die Unmöglichkeit einer Chancengleichheit folgt dem Gesetz, dass sich Geld als Kapital verwerten muss. Der Vorteil, der sich aus einer gelungenen Marktoperation für den „Sieger“ in einer fiktiv gedachten ersten Runde der Konkurrenz ergibt, muss ihm auch die Startbedingungen in einer zweiten Runde verbessern.

Wollte man dies verhindern, müsste man mit diesem Versprechen nicht nur die damit verbundenen Anreize, sondern auch den essenziellen Schmierstoff Zins abschaffen. Solcherlei Vorstellungen, die gewissermaßen ein Rotationsprinzip für Erfolg projektieren, sind aber Rechnungen ohne den Wirt. Zweifellos gibt es Spielräume für eine gesteuerte Abschwächung dieser Verfestigungen, denken wir an eine 100-Prozent-Steuer auf Erbschaften. Doch ohne eine Berücksichtigung systemischer Grenzen, drohen Kritiken der sozialen Schließung auf ihre Weise die „Illusion der Chancengleichheit“ zu nähren.

Die Verschiebung in der Semantik des Sozialen, die an der Konjunktur des Begriffs Chancengleichheit abgelesen werden kann, wiegt schwer. „Sozialstaat“ steht heute für die Blockierung individueller Freiheitsspielräume, was einem späten Triumph der konservativen Sozialstaatskritik gleichkommt. Erkannt wird in ihm nicht länger der Reparaturbetrieb, der auf Kaputtgegangenes verweist. Die Vision des „modernen“ Sozialstaats zielt auf eine Art Schlüsseldienst zur Wahrung offener „Zugänge“.

Zwar werden deren Ausgestaltungen heftig umstritten bleiben, allein schon weil es genug Türen gibt, die nicht zufällig für manche verschlossen bleiben. Doch diese Auseinandersetzungen sind nicht das Schlechteste, was einem System passieren kann, das trotz gewaltigster Ressourcen zunehmend weniger Menschen von Stress und Mangel entlastet. Wer über Türen streitet, interessiert sich in der Regel nicht für Zustand und Sinn dessen, was sich dahinter verbirgt. Er sucht vielmehr im Keller nach altbekannten Schildern: „Nehme jede Arbeit an.“ Diese Reduktion des sozialen Interesses auf nackte Existenzsicherung ist zum zentralen Paradigma der gesellschaftlichen Debatte um „Chancen“ avanciert. Auch ohne Soziologie.