Misslaunige Vielfraße voller Flöhe

Das Eichhörnchen als puscheliger Sympathieträger ist ein Missverständnis. In Wirklichkeit ist der Nager ein Nesträuber und übellauniger Einzelgänger, der sich nur zwecks Vermehrung und bei Kälte zusammentut

von HEIDE PLATEN

Nein, Eichhörnchen sind nicht lieb! Niedlich wohl schon, lieb aber ganz und gar nicht. Daran ändern auch bitterböse Anrufe bei einer südhessischen Lokalzeitung nichts. Kollege Richard S. hat die Schelte nicht verdient. Schließlich hat er nur die Wahrheit geschrieben: Eichhörnchen beschränken sich nicht auf das zierliche Knabbern von Nüsslein, sondern sie klauen den Singvögeln ihre Eier aus den Nestern, sie meucheln Jungvögel und Kleintiere. Die possierlichen Nager sind Allesfresser. Außerdem sind sie mürrische Einzelgänger, misslaunig, streitsüchtig und voller Parasiten – Zecken, Flöhe, Läuse, Milben, die sie gerne an arglos fütternde Menschen weiterreichen.

Sie verschmähen fast nichts, was sich vertilgen lässt, fressen Insekten, Obst, Knospen, Rinde, Flechten. Eichhörnchen vertragen aber auch für Menschen giftige Kost, fressen Eibensamen und giftige Pilze. Zoologen berichten von wahren Fliegenpilz-Fressorgien mit nachfolgendem Vollrausch. Hauptnahrungsquelle der Eichörnchen, dem Namen zum Trotz, sind nicht Eicheln, die sie nur schwer verdauen können, sondern die Samen von Nadelbäumen, Fichten, Tannen, Kiefern und Bucheckern. Sie nagen die Schuppen der Zapfen ab, um an die Früchte zu kommen, und lassen die kahlen Spindeln auf den Waldboden fallen.

Dort, wo sie bejagt werden, sind sie scheu. Die Futterreste am Waldboden sind dann oft das einzige verlässliche Zeichen ihrer Anwesenheit: Die von ihnen geplünderten Zapfen sehen, im Gegensatz zu den von Mäusen rundherum säuberlich abgenagten, zerrupft aus. Am energiereichsten sind die Fichtenzapfen. Eichhörnchen sind hochtourig drehende Vielfraße. Sie können pro Tag bis zu hundert Zapfen verknuspern. Das ist eine Tagesration von bis zu 100 Gramm Samen bei einem Eigengewicht von 300 bis 500 Gramm.

Eichhörnchen (Sciurus vulgaris) betreiben Daseinsfürsorge. In guten Jahren verstecken sie den Überfluss in kleinen Lagern in der Erde, zwischen Baumwurzeln oder Astgabeln. Dieses Verscharren ist ihnen angeboren. Nicht jedoch das Wiederfinden. Sie müssen ihre Vorräte mit ihrem guten Geruchssinn wiederentdecken, und das gelingt ihnen nicht immer. Und so muss sich niemand wundern, wenn in seinem Blumenkasten im Mietshaus in der Innenstadt, Standort dritter Stock und weit und breit keine Eiche, auf einmal Eichenkeimlinge sprießen.

Naturfreunde argumentieren gerne scheinheilig mit den Nützlichkeitskriterien der Tiere für die Menschen. Da lässt sich immer irgendetwas finden. Den Eichhörnchen sagen sie nach, dass sie wegen der Futterdepots nützlich für den Wald, respektive für dessen Nutzer Mensch seien, weil sie zur Verbreitung der Pflanzen beitragen. Dem Eichhörnchen ist das egal und uneigennützig ist es auch nicht. Förster beklagen, dass die Tierchen Knospen abknabbern und Triebe benagen.

Bei Nahrungsmangel sinkt die Populationsdichte. Manchmal wandern die Eichhörnchen in ganzen Gruppen in bessere Gebiete ab. In guten Zeiten sind sie standorttreue Gewohnheitstiere und nutzen, meist pünktlich in der Morgen- und der Abenddämmerung, feste, markierte Wege. Die tagaktiven Eichhörnchen sind wahre Kletterkünstler, sie bewegen sich meist springend vorwärts, überwinden Distanzen bis zu fünf Metern spielend, hangeln mit ihren Greifhänden über die dünnsten Äste von Baumkrone zu Baumkrone. Sie steuern dabei mit dem buschigen Schwanz, der mit zwanzig Zentimetern fast so lang ist wie der schlanke Körper.

Der Bejagung durch den Menschen versuchen sie zu entgehen, indem sie sich auf der abgewandten Baumseite bewegen oder sich stundenlang, in Astgabeln oder in ihr Nest geduckt, verstecken. Davon bauen sie mehrere zu verschiedenen Zwecken. Eichhörnchen nutzen aber auch Nistkästen, Dachböden oder Erdlöcher. In die ungepolsterten, so genannten Schattennester klettern sie zum Fressen und zum Schutz vor Feinden. Auch Mittagshitze und Sturm verschlafen sie. Die Schlafnester sind runde, struppige Kugeln mit einer Öffnung an der unteren Seite.

Manchmal kuscheln die Einzelgänger sich im Winternest in Gruppen ein. Sonst kommen Eichhörnchen nur zur Paarungszeit zum Winterende und im Frühsommer zusammen. Die Männchen scheuchen die Weibchen in wilder Jagd, die manchmal tödlich endet, weil der Eichkater dann viel zu beschäftigt ist, um seine Feinde zu bemerken. Er lockt die Weibchen, indem er sie beschwichtigt, sich verstellt, quiekt wie ein Junges und seinen Schwanz schwenkt.

Kurz vor der Geburt muss der Eichkater wieder aus ihrem Nest ausziehen. Die Weibchen ziehen jährlich zwei Würfe mit je etwa fünf Jungen groß. Sie kommen nackt und blind zur Welt. Ihr Fell wächst ihnen nach zwei Wochen, nach drei Monaten können sie sich selbst ernähren. Bis zum nächsten Wurf bleiben sie bei der Mutter. Fällt eines der Kleinen aus dem Nest, ruft es sie mit lauten Pfeifgeräuschen zur Hilfe.

Nur ein Fünftel der Jungen überlebt und erreicht nach einem Jahr die Geschlechtsreife. Größte Feinde sind – neben Jägern und Autos – Katzen und Hunde sowie Greifvögel und Baummarder. Diesem schwereren Jäger sind sie an Sprungkraft allerdings weit überlegen. Im Notfall katapultieren sie sich mit einem riesigen Abwärtssatz, mit zum Fallschirm gespreiztem Schwanz und zwischen Ellenbogen und Körper ausgespannter Flughaut, sogar zehn Meter von der Baumspitze bis auf den Boden. Da können die Marder nicht mithalten. Dafür sind sie ausdauernd in der Verfolgung, nachtaktiv und erbeuten bisweilen schlafende Hörnchen.

In Mitteleuropa ist nur das rote Eichhörnchen heimisch. Mit seinem lohfarbenen Pelz und dem hellen Bauch ist es nur eine von weltweit 250 Arten in der großen Hörnchenfamilie. Sie kommt außer in Australien fast überall vor. In den Farben kann es von leuchtend rötlich bis fast schwarz variieren. Die rötlichen leben vorwiegend im warmen, trockenen Mischwäldern. In kühlen, feuchten Nadelwäldern sind sie eher schwarzbraun gefärbt.

Ihr Name leitet sich vermutlich von den kleinen Pinseln auf ihren Ohrspitzen ab. Die Griechen nannten die Tiere nach ihrem markanten Allzweckschwanz, der außer zum Steuern auch als Balancierstange, Warnanlage, Paarungssignal und Wetterschutz für Kälte wie Hitze genutzt wird, „Schattenschwanz“ (skia = Schatten, oura = Schwanz). Diese Namenswurzel ist noch im englischen sqirrel erhalten. Im deutschen Sprachraum werden die Tiere auch Eichkätzchen genannt.

In der nordischen Mythologie gibt es ein Eichhörnchen namens Ratatoskr, dass auf dem Weltenbaum herumklettert und Zwist stiftet, indem es üble Nachreden verbreitet. Eine andere Theorie besagt, dass Eichhörnchen, da sie rot sind und mit ihren buschigen Schwänzen schnell hin und her huschen, im christlichen Aberglauben auch mit dem Teufel in Zusammenhang gebracht wurden. Die Tiere sollen weiterhin als Symbol für Fruchtbarkeit gegolten haben – sogar im ganz konkreten Sinne: Schwangere, die Eichhörnchenfleisch essen, sollten von der Übelkeit der ersten Monate erlöst werden.

Die Vorfahren der Hörnchen gehören zu den ältesten Säugetieren. Paramys, der Vorfahre aller Nager, lebte im Eozän vor 54 Millionen Jahren. Die kräftigen Nagezähne wachsen zeitlebens und müssen ständig abgenagt werden. Sie bedürfen besonderer Pflege. Eichhörnchen putzen sich die Zähne, indem sie kleine Äste durch ihr Maul ziehen. Manchmal reicht ihnen dazu auch ein Autokabel. Auch die restliche Körperpflege, besonders die des doppelseitig behaarten, überlebenswichtigen Schwanzes, betreiben sie ausgiebig.

Eichhörnchen werden in Parks und Gärten schnell zahm. Sie sind zu Kulturfolgern und – wegen ihres putzigen Aussehens und der menschenähnlichen Krallengreifhändchen – zu Sympathie- und Symboltieren geworden. Die Menschen füttern sie weltweit, ob im Central Park in New York, wo sich die grauen Vettern zur wahren Bettelplage entwickelt haben, oder in Marionville, wo eine Kolonie Albino-Eichhörnchen Touristenattraktion ist. Die größte urbane Population hat sich in Washington in der Nähe des Weißen Hauses angesiedelt. Die Stadt wird deshalb auch Squirreltown genannt.

Eichhörnchen wurden schon immer wegen ihrer Felle gejagt. Für einen Damenmantel braucht es bis zu 120 Tiere. Besonders begehrt sind die rein grauen Winterpelze der nordeuropäischen und asiatischen Hörnchen. Sie kommen unter Fantasienamen der Pelzindustrie wie Blacktail, Feh, Sobalsky oder Telentka in den Handel. Heutzutage sind die rotpelzigen Europäer außerdem zum Überlebenskampf mit Einwanderern gezwungen. Ende des 19. Jahrhunderts führten Parkfreunde das größere Grauhörnchen (Sciurus carolinensis) aus den USA in England ein. Es verbreitete sich auch dort so rasant, dass es seine roten Vettern in vielen Gebieten verdrängte.

Der überlebenstüchtige Zuzug, der auch Eicheln gut verdaut, entpuppte sich rasch als Plage. Grauhörnchen schälen Baumrinde, stehlen Hühnereier, zernagen elektrische Leitungen. Abschussprämien und Vergiftungsaktionen konnten ihm nicht beikommen. In den USA ist die Jagd auf Hörnchen Volkssport bei den ärmeren Bevölkerungsschichten: Eichhörnchen ist beliebt als Einlage im Eintopf oder geröstet. Von Rock-’n’-Roll-King Elvis Presley ist überliefert, dass er in jungen Jahren den kargen Speiseplan mit der Eichhörnchenjagd aufbesserte. Den Bestand allerdings hat alle Bejagung nie nennenswert dezimieren können.

Auch die Schweiz hat ihre Zuwanderer. Liebhaber ließen bei Genf und Solothurn gestreifte, asiatische Burunduks (Tamias sibiricus) frei, die sich ebenfalls prächtig vermehrten. Eichhörnchen im Kochtopf gab es schon vor fünftausend Jahren. Die Schweizer verspeisten sie im vorletzten Jahrhundert geschmort. Im Internet werden heutzutage zahme Eichhörnchen, die allerdings wegen Bewegungsdrang und Nagetrieb für die Gefangenschaft denkbar ungeeignet sind und deren Haltung einer Genehmigung bedarf, für siebzig Euro angeboten.

HEIDE PLATEN, geboren 1946, ist Frankfurt-Korrespondentin der taz