Debatte Tibetkonflikt: Das Böse im Fernen Osten

Beim Tibetkonflikt fällt China in alte Verhaltensmuster zurück. Das kommt manchen westlichen Ländern gerade recht, da sie der Supermacht mit Isolation drohen können.

Die Unruhen in Tibet und die darauf folgende Reaktion der chinesischen Behörden haben zu heftigen Reaktionen geführt. Insbesondere von Seiten der Europäischen Union und einiger europäischer Länder wurde außerordentlich kritisch auf die chinesischen Maßnahmen reagiert. Alles scheint dabei ganz einfach: Die Regierung in Peking hat ihr wahres Gesicht gezeigt, der Westen tritt ein für Freiheit und Demokratie. Als probates Mittel in diesem Konflikt scheint die Drohung mit einem Olympiaboykott angemessen. Die Welt scheint in Ordnung, Gut und Böse wieder am rechten Platz.

Schließlich war der erste Eindruck zweifellos: Die jahrzehntelange Unterdrückung wird wieder mit den altbekannten Mitteln fortgesetzt. Erneut sind friedliebende tibetische Demonstranten niedergeknüppelt und getötet worden. Dann aber, nur einige Tage später, kamen Zweifel auf. Es scheint zwar so gewesen zu sein, dass die Ereignisse am 10. März mit friedlichen Demonstrationen begannen. Aber nach vier Tagen entwickelten sich daraus gewalttätige Aktionen von Tibetern - nicht von Chinesen. Dabei wurden Geschäfte von Han-Chinesen und anderen Minderheiten in Brand gesteckt und geplündert.

Erst danach sind die chinesischen Ordnungskräfte eingeschritten, sicherlich auch mit erheblicher Gewalt. Sie verhafteten etliche Tibeter - und was mit diesen Menschen geschieht, darüber lässt sich nur spekulieren. Die Erfahrungen der Vergangenheit lassen jedenfalls nichts Gutes erwarten. Die Gewaltausbrüche von vor allem jungen Tibetern als Zeichen ihrer Frustration sind erklärbar - nach jahrzehntelanger chinesischer Fremdherrschaft und der damit einhergehenden kulturellen und sozialen Unterdrückung. Gebilligt werden müssen sie dennoch nicht.

Was erstaunlich ist: Eine solche Darstellung der Ereignisse hat bisher kaum Eingang in die Medien und Politik gefunden. Auch wenn von Toten berichtet wird - unabhängig von unterschiedlichen Zahlenangaben -, ist immer noch unklar, wie viele Chinesen oder Mitglieder anderer Minoritäten und wie viele Tibeter ums Leben gekommen sind.

Genauere Informationen darüber gibt es nicht. Entweder sie sind nicht bekannt oder sie werden nicht berichtet. Sicher ist aber, dass chinesische Zivilisten Opfer der von Tibetern ausgehenden Gewalttätigkeiten geworden sind. Und diese Darstellung kommt nicht von den chinesischen Behörden, sondern von unabhängigen westlichen Journalisten.

Ob diese Darstellung vollständig ist, darüber lässt sich nur spekulieren. Um nur einige offene Fragen zu nennen:

Welcher Funken hat die Explosion von Gewalt zum Ausbruch gebracht? Es gibt Berichte, nach denen bereits seit einem Jahr gewalttätige Auseinandersetzungen um Tibet herum stattgefunden haben.

Hatte das Einfluss auf die Unruhen im März? Ebenso bleibt unklar bislang, warum die chinesischen Sicherheitskräfte trotz massiver Präsenz in Lhasa erst nach zwei Tagen eingegriffen haben. Überraschung? Überforderung? Oder eine Falle? Viele Fragen und keine ausreichenden Antworten.

Zu erwarten wäre dabei eine Berichterstattung, die dieser Widersprüchlichkeit der Entwicklung und der damit verbundenen offenen Fragen Rechnung trägt. Und selbst, wenn der oben skizzierte Gang der Ereignisse nicht als vollständig sicher gelten kann, hätte ihm zumindest in den Medien nachgegangen werden müssen.

Zu Gewaltverzicht aufzurufen, wie es der Dalai Lama getan hat, ist eine Sache. Sich ernsthaft mit den Problemen der neuen Generation der Tibeter und auch dem Schicksal der oft unfreiwillig in Tibet wohnenden Han-Chinesen auseinanderzusetzen, ist eine andere Sache. Zu dieser Situation haben natürlich auch die chinesischen Behörden beigetragen.

Statt die Fragen nach den Ursachen der Eskalation zu untersuchen, sind die Chinesen in alte Reaktionsmuster zurückgefallen und ließen etwa den Zugang zu Tibet für die ausländische Presse sperren und beschimpften den Dalai Lama wie zu den schlimmsten Zeiten der Kulturrevolution. Deshalb ist es kein Wunder, dass der Eindruck entstanden ist, es gäbe von Seiten Pekings einiges zu verbergen. Es überrascht auch nicht, dass die Medien einseitig über den Konflikt berichtet haben.

Und auch zu den Stellungnahmen einiger Politiker, die jetzt wegen der Ereignisse einen Olympiaboykott fordern, stellen sich Fragen. Denn es ist ja nichts Neues, dass es in China Probleme mit den Menschenrechten gibt und nationale Minderheiten benachteiligt werden - und zwar nicht nur in Tibet. Ebenso wenig dürfte überraschen, dass die von Peking versprochene Autonomie für die Minderheiten vielfach nur auf dem Papier steht. Das war schon vor der Vergabe der Olympischen Spiele bekannt. Und in der Zwischenzeit hat es etwa in der von Muslimen bewohnten Region Xinjiang schwere Auseinandersetzungen gegeben, ohne dass der Westen seine Stimme erhoben hat.

Eines hat sich aber gegenüber 2001, dem Zeitpunkt der Vergabe der Olympischen Spiele, geändert. China hat an internationaler politischer und wirtschaftlicher Bedeutung gewonnen, tritt als zunehmender Konkurrent in Erscheinung. In Deutschland haben sich die Stimmen gemehrt, die Ängste vor China schüren und eine stärkere Abgrenzung von China fordern. Eine konsistente Politik der Europäischen Union gegenüber China ist jedoch nicht vorhanden, wie die Auseinandersetzungen um ein Waffenembargo oder die Weiterführung der Entwicklungshilfe an China zeigen.

Und so scheinen einigen die gegenwärtigen Ereignisse in und um Tibet nur recht zu kommen, um China auf die Anklagebank zu setzen. Damit geht einher, dass in vielen Beiträgen von westlichen Medien und Stellungnahmen ebenfalls in alte Muster der Berichterstattung zurückgefallen wird, die den differenzierten und widersprüchlichen Entwicklungen in China nicht Rechnung tragen. Zynisch lässt sich die Frage stellen, ob das tibetische Volk und seine Forderungen jetzt zum Instrument westlicher Politik werden, mit dem ganz andere Ziele durchgesetzt werden sollen.

Das heißt aber nicht, dass wir schweigen sollen zu dem, was in Tibet und in China passiert. Wir sollen eintreten für die Unterstützung des tibetischen Volkes für Autonomie, für den freien Zugang ausländischer Beobachter - nicht nur zu dem Land, sondern auch zu den zu erwartenden Prozessen.

Wir sollen dafür Sorge tragen, dass über die Lebenssituation der Tibeter eine dauerhafte Aufklärung erfolgt. Es geht aber auch darum, die negativen Folgen der chinesischen Nationalitätenpolitik zu kritisieren. Ein Ansatz könnten die Gedanken sein, die 30 chinesische Künstler und Schriftsteller am 22. März in Peking veröffentlicht haben.

Um ernst genommen zu werden, ist es aber auch notwendig, dass wir auch die Trauer über die Opfer unter der chinesischstämmigen Bevölkerung ernst nehmen.

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