Theorie: Ohne Zufall keine Freiheit

Dass die Entstehung von Leben genau wie der Tod dem Zufall sind und keinem göttlichen Plan folgen, fordert unser Denken heraus. Darwin hat das verstanden, Einstein nicht.

Glaubte an planvolle Berechenbarkeit - Albert Einstein. Bild: ap

"Vielleicht ist eine Ketzerei für einen Menschen genug."

Arthur Koestler in "Die Wurzeln des Zufalls"

Seit Kopernikus wölbt sich über der Erde kein göttlicher Himmel mehr. Die Entdeckung der Unendlichkeit des Alls in der frühen Neuzeit hat die mittelalterliche Einteilung der Welt in ein Oben und Unten zerstört. Seitdem kann Gottes allwissender Ratschluss die Ereignisse der sichtbaren Welt nicht mehr erklären. Die Ereignisse der sichtbaren Welt sind buchstäblich haltlos geworden. Die Gewissheit einer übersinnlichen Welt ist aufgelöst und der Mensch steht zwischen Erscheinungen und Ereignissen und weiß nicht mehr, was sie bedeuten sollen. Und noch schlimmer: Man kann sich nicht mal sicher sein, ob der andere, der neben einem steht, den Wald genauso sieht wie man selbst. Mit dem Verschwinden Gottes in der Unendlichkeit des Alls ist die Notwendigkeit der einen Wahrheit vom Wald erledigt. Der Wald ist vieldeutig geworden.

Mit der Möglichkeit der vielen Deutungen nimmt aber auch die Unsicherheit zu. An die Stelle des von Gott gemachten und geleiteten Universums tritt der unberechenbare Zufall oder, um es philosophisch zu sagen: die Kontingenz. Kontingenz ist - nach einer Definition des berühmten Sozialtheoretikers aus Bielefeld Niklas Luhmann - "etwas, was weder notwendig ist noch unmöglich ist; was also so, wie es ist (war oder sein wird) sein kann, aber auch anders möglich ist". Diese Offenheit auszuhalten, fällt vielen auch heute noch schwer.

Luhmann hat einmal auf die Frage, warum er kontingent denke, mit einer Anekdote geantwortet. Er war zum Ende des Zweiten Weltkriegs als junger Mann zusammen mit einem Freund als Flakhelfer eingezogen worden. Und standen dann beide zusammen an einer Flak, bis ein gegnerischer Treffer seinen Freund tötete. Die Vorstellung, dass hinter der Tatsache, dass er, Luhmann, lebe und sein Freund tot sei, ein höherer Plan stecke, sei ihm unerträglich, sagte Luhmann.

Das heißt: Luhmann leitet sein Überleben nicht aus seiner Tüchtigkeit oder der schützenden Hand eines Gottes ab, die der Herr auswählend über ihn gelegt hat. Luhmann schreibt sein Überleben allein dem Zufall zu. Er hat es nicht verdient, sondern es ist ihm nur geschehen. Das ist die mutigste Doktrin, die man dem menschlichen Zusammenleben geben kann. Denn sie verbietet jedwede Anmaßung, über den Verlauf der Dinge Bescheid zu wissen, und verlangt zudem einen Umgang mit der Angst, weil die Dinge nämlich so oder so ausgehen können. Luhmann lässt daher als Grundmovens des Sozialen Erfahrungen und nicht Formen sprechen. Das ist natürlich erklärungsbedürftig, denn was heißt das: Erfahrungen und nicht Formen sprechen zu lassen? Und: Wie kommt Luhmann, dessen Gesellschaftsdenken als hochtheoretisch gilt, überhaupt dazu, sein Denken mit einer Anekdote zu grundieren?

Stark vereinfacht gesagt, setzen Formen immer ihre Berechenbarkeit voraus, während Erfahrungen sozusagen unvorhersehbar auf einen einschlagen. Verdeutlichen kann man die prinzipielle Ungewissheit über den Ausgang der Erfahrung menschlicher Lebensläufe, was Kontingenz bei Luhmann bedeutet, wenn man sie mit ihrem Gegenteil konfrontiert.

Es waren zwei der bekanntesten und einflussreichsten Physiker der 20. Jahrhunderts, Albert Einstein und Werner Heisenberg, die in prägnanten Formulierungen die planvolle Berechenbarkeit alles Geschehens im Universum als deren Grund angaben. Einstein brachte seine Sicht in die Formel "Gott würfelt nicht". Die Formel ist nicht ohne Not geboren und sie steht merkwürdig unvermittelt neben Einsteins wissenschaftlichen Arbeiten. Aus der Relativitätstheorie lässt sich nämlich beim besten Willen kein Gott mehr ableiten oder begründen und ob dieser Gott nun würfelt oder ob er es nicht tut natürlich auch nicht.

Das war kirchlichen Würdenträgern auch aufgefallen und so warnten sie besonders in den USA vor dem Studium der Theorie der Relativität. Sie stelle Gott in Frage und sei im Kern atheistische, hieß es. Worauf der New Yorker Rabbi Herbert Goldstein 1929 Einstein in einem Telegramm fragte, ob er an Gott glaube. Einsteins Antwort lautete: "Ich glaube an Spinozas Gott, der sich in der gesetzlichen Harmonie des Seienden offenbart, nicht an einen Gott, der sich mit dem Schicksal und den Handlungen der Menschen abgibt."

Um die schöne Harmonie des Seienden ging es auch Werner Heisenberg. "Für die moderne Naturwissenschaft", schrieb er, "steht am Anfang nicht das materielle Ding, sondern die Form, die mathematische Symmetrie." Und da die mathematische Struktur letzten Endes ein geistiger Inhalt ist, könnte man auch mit den Worten von Goethes "Faust" sagen: "Am Anfang war der Sinn." Hier liegt die gleiche Symptomatik vor wie bei Einstein: Auch Heisenbergs schöpferische Symmetrie, die er in die Bibelkonkurrenzformel "Am Anfang war die Symmetrie" gießt, hat nichts mit seinen wissenschaftlichen Arbeiten zu tun.

Die "Unschärfe", jener Bereich der Bewegung der Elementarteilchen, der nicht mehr mechanistischen Gesetzmäßigkeiten folgt, sondern sich nur noch in statistischen Wahrscheinlichkeiten ausdrücken lässt, für deren "Entdeckung" Heisenberg berühmt wurde, hat weder etwas mit schöner mathematischer Symmetrie zu tun noch eignet der Unschärfe ein Determinismus an. Im Gegenteil: Die Unschärfe führt ein chaotisches Freiheitsmoment in die Quantenphysik ein.

Einstein, als einer der Vor- und Wegbereiter der Quantenphysik, und Heisenberg, als einer der bedeutendsten Detaillierer derselben, weichen mit ihren Gottes- und Symmetrieplanäußerungen vor den Konsequenzen ihrer eigenen physikalischen Theorien zurück. Ihre Gottesäußerungen haben nichts mit ihrer Forschung zu tun, sie sind eher ein Beleg für die oben zitierte Einsicht Arthur Koestlers, dass man in einem Menschenleben wahrscheinlich nur eine Ketzerei aushält. Obwohl Einstein wie Heisenberg in ihren Theorien in die Nähe des unberechenbaren Zufalls gelangt sind, lehnen sie den Zufall weiter ab und bestehen auf der Berechenbarkeit der Welt, die das vernünftige Werk einer Idee oder eines Gottes sein soll. Wenn wir dennoch etwas als Zufall empfinden, dann nur, weil uns die Erkenntnisinstrumentarien für jene planvollen Ereignisse fehlten.

Und es sind die vor den Tatsachen der eigenen Forschung ausweichenden Äußerungen der Physiker, die sie bei einem breiteren Publikum so beliebt machen. Wie weit der Einfluss, der in Gott und Schöpfung dilettierenden Physikstars bis heute reicht, konnte man auch an den Leserreaktionen auf einen Artikel in dieser Zeitung ablesen. In den Kommentaren zu einer Kritik des muslimischen Kreationisten Harun Yahya und seines die Evolution verneinenden "Atlas der Schöpfung" zitierten Leser sowohl Gottesäußerungen Einsteins als auch ein Argument des wissenschaftlich hochgeachteten britischen Astronomen und Mathematikers Fred Hoyle, um der offenbar nicht erträglichen Kontingenz Herr zu werden.

Hoyle, der nicht nur ein geachteter Astronom und Erfinder des Begriffs vom "Urknall" ist, sondern auch Autor von populärwissenschaftlichen Radiosendungen und Science-Fiction-Romanen, verachtete die Annahme der Darwinschen Lehre, die Lebenserscheinungen seien ein Produkt des Zufalls, zutiefst. Dass das komplexe Zusammenspiel von Fett, Eiweiß und Wasser in einem Einzeller das Werk des Zufalls sei, sei ungefähr so wahrscheinlich wie "der zufällige Zusammenbau eines zerschellten Jumbojets, wenn der Sturm über die Trümmer fegt", schrieb Hoyle 1983. Hoyles Verachtung Darwins ging so weit, das er selbst die Authentizität von Fossilfunden bestritt. Die Urkeime des Lebens entstanden für ihn nicht zufällig auf der Erde, sondern sie wurden von Kometen oder Meteoriten aus den Weiten des Weltraumes hergetragen.

Von Hoyle und der Aufnahme seiner dilettierenden Analogien zur Entstehung des Einzellers auf der Erde lässt sich der Bogen zu Luhmanns Einstiegsbeispiel zurückschlagen. Was Luhmanns Kontingenzdenken von Einstein und Heisenberg unterscheidet, ist die Tatsache, dass er den Kosmos der Lebewesen der Moderne immanent denkt und den Ausweg in die Transzendenz als wissenschaftliche Erklärung des Sozialen für unzulässig hält.

Das hat immense Folgen für die Betrachtung der sozialen Systeme sowie die Selbstwahrnehmung moderner Menschen, wissenschaftlich gesprochen: von modernen Subjekten. Es berührt einerseits die Praxis des Sozialen direkt und andererseits die immer noch schreckliche Wirkung metaphysischer Implikationen von der vernünftigen Planung alles Lebendigen durch einen ideellen Gesamtgott, wie ihn viele Physiker gegen ihre wissenschaftlichen Erfahrungen weiter erhalten wollen.

Das ist insofern eine trübe Ideologie, weil sie direkt in die Alternativlosigkeit führt. Wenn alles nach einem Plan ausgeführt wird oder geschieht, der bereits von wem auch immer gedacht worden ist, kann es nur darum gehen, diesen Plan zu erkennen und sich nach ihm zu richten. Damit verschwinden der Möglichkeitssinn und die Offenheit aus dem Werden des Individuums wie des Sozialen. Und der erste Theoretiker, der die ziellose Offenheit als Bedingung der Möglichkeit der Entwicklung des Lebendigen auf der Erde erkannt hat, war Charles Darwin. Prinzipielle Offenheit und Ziellosigkeit der evolutiven Entwicklung des Lebens sind die Vektoren der Darwinschen Lehre, sobald man aus ihr alle biologistischen Schlussfolgerungen und Vulgarisierungen entfernt. Das ist der Grund, warum die Evolutionstheorie in Luhmanns Gesellschaftstheorie zur Dauerreferenz geworden ist. Radikalisiert bedeutet das: Wenn die Lebenserscheinungen ein Produkt der Selektion sind, heißt das, das alles auch anders sein könnte.

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