piwik no script img

Abschiebedebatten nach TötungsdeliktenEin übler Reflex

Nadine Conti
Kommentar von Nadine Conti

Ein Asylbewerber soll am Bahnhof Friedland eine junge Ukrainerin getötet haben. Dieser Fall zeigt auch, wie verkorkst die öffentlichen Debatten sind.

Der Bahnhof Friedland im Landkreis Göttingen: Nach dem Tod einer 16-Jährigen warnt die Polizei vor Spekulationen Foto: Moritz Frankenberg/dpa

S chon wieder einer dieser Fälle, denkt man. Der Tod dieses Mädchens schnürrt einem die Kehle zu, die Wut will irgendwohin. Dabei zeigt dieser Fall am Bahnhof Friedland auch, wie verkorkst die öffentlichen Debatten um solche Vorkommnisse mittlerweile sind.

Da ist zum einen die Polizei, die – bestimmt ungewollt – Verschwörungsnarrative füttert. Sicher, das ist eine praktisch unlösbare Zwickmühle: Sorgfältige und ergebnisoffene Ermittlungsarbeit verträgt keine große Öffentlichkeit, schon gar nicht kann sie mit der durchgeknallten Dynamik der asozialen Medien mithalten.

Aber ist es wirklich klug, in Pressemitteilungen Behauptungen in die Welt zu setzen, die man dann kurze Zeit später wieder zurücknehmen, ergänzen oder relativieren muss? Das war leider Wasser auf die Mühlen der AfD und aller anderen Verschwörungstheoretiker.

Noch schlimmer ist aber das reflexhafte „das Dublin-Verfahren funktioniert halt nicht“ der niedersächsischen Innenministerin. Würde es etwas besser machen, wenn der Mann in Litauen Mädchen vor den Zug schubste? Oder wenn beispielsweise der Messerstecher von Aschaffenburg in einem Park in Bulgarien Kindergartenkinder abgestochen hätte? Oder glaubt die Innenministerin heimlich, dass eigentlich alle EU-Länder das Problem besser in den Griff bekommen als wir?

Das Muster ist immer das gleiche

Müssten wir stattdessen nicht einmal über die psychiatrische Versorgung von Geflüchteten reden? Es würde wohl niemanden wundern, wenn auch in diesem Fall bald herauskäme, dass der Täter schon lange vorher massiv auffällig war.

Das Muster ist immer das gleiche: Die ersten Opfer finden sich in den Flüchtlingsunterkünften, werden aber kaum ernst genommen. Auch in Haft fallen einige dieser späteren Täter auf und werden trotzdem achselzuckend wieder auf die Straße gekippt.

Ab und zu kommt einer in die Psychiatrie, wird aber schnell wieder entlassen – am liebsten zurück in Massenunterkünfte und in ungewisse Perspektiven, die dafür sorgen, dass sich der Zustand schnell wieder verschlechtert.

Eine ambulante Betreuung, die vielleicht dafür sorgen könnte, dass Medikamente weiter eingenommen werden, gibt es in der Regel nicht. Und dann wartet man einfach auf den nächsten Todesfall. In dieser oder irgendeiner anderen Ecke Europas.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Nadine Conti
Niedersachsen-Korrespondentin der taz in Hannover seit 2020
Mehr zum Thema

6 Kommentare

 / 
  • Soweit mir bekannt, wurde der Asylantrag abgelehnt und der Mann sollte abgeschoben werden, passierte aber nicht.



    Alle Menschen in Deutschland haben ein Recht auf Schutz durch den Staat vor Gewalt und nicht nur Migranten oder Asylbewerber. Warum wird geltendes Recht nicht konsequent umgesetzt ?

  • Die Regierung ist vorrangig für die Sicherheit der Menschen in Deutschland verantwortlich. Also ja - es wäre besser, solche Leute abzuschieben damit sie irgendwo anders Straftaten begehen. Zumal es pure Spekulation ist, ob der Täter eine vergleichbare Tat auch in Litauen/Bulgarien/Irak begangen hätte.

  • Die gleichen Reflexe findet man aber auch hier. Nach jedem dieser Vorfälle. Natürlich ist es nicht besser, wenn so ein Täter eine Person in Litauen vor den Zug schubst. Natürlich sind das Enzelfälle, die von bestimmten Leuten aufgeblasen und für Kampagnen genutzt werden. Keine Frage.



    Aber natürlich haben die Menschen auch ein Recht auf Schutz und Politiker sind von den Menschen beauftragt, diesen auch zu gewährleisten. Und da sind wiederholte Fälle, wo bereits auffällig oder straffällig gewordene Menschen, die schwere Gewaltdelikte begehen, obwohl sie kein Aufenthaltsrecht haben ein Problem, das angegangen werden muss. Ohne rechten Aktionismus aber auch ohne ideologische Scheuklappen.



    Die Angehörigen der Opfer dürfte die Argumentation, dass die Täter ja auch anderswo auf der Welt vielleicht straffällig geworden wären wenig überzeugen.



    Linke und liberale Medien machen immer wieder den Fehler, solche Themen nicht ernst zu nehmen. Aus meiner Sicht war zum Beispiel die anfängliche Berichterstattung zur Kölner Silvesternacht ein Riesenfehler und ich halte dieses Ereignis und der Umgang damit immer noch für einen der größten Schübe, die die AfD in den letzten Jahren bekommen hat.

  • Es gibt bei so traurigen Vorfällen wie diesem immer zwei Reflexe: Die von der Kommentatorin zu recht bemängelte Instrumentalisierung durch die AfD und Konsorten. Aber genau so sicher ist, dass es Kommentare wie diesen hier geben wird die letztlich die Schuld beim Staat sehen und dessen mangelnder psychologischer Unterstützung beispielsweise. Mag sein, dass die Unterstützung mangelhaft ist, aber was dabei immer gerne übersehen wird ist, dass es gar nicht genug Psychologen gibt. Konsequent müsste also die Diskussion geführt werden wo die Aufnahmebereitschaft aufgrund begrenzter Ressourcen erreicht ist. Aber genau dieser Diskussion verweigert man sich im vermeintlich progressiven Lager und weißt gerne alle in die rechte Ecke, die sich erlauben darauf hinzuweisen. Und natürlich wäre es global gesehen nicht besser, wenn die Gewalttaten in Litauen oder Bulgarien stattgefunden hätten. Trotzdem ist diese Feststellung nicht geeignet hier Verständnis zu heischen, denn es ist auch nicht gut, wenn diese Taten hier stattfinden.

  • Auf den Punkt genau! Dankeschön, dass es mal ein unaufgeregter Artikel über das Geschehen ist.

  • Kardinalfehler war die Richtlinien des Pressekodex 2017 in der Hinsicht zu ändern, dass die Nationalität von potentiellen Tätern in den Medien genannt werden durfte.

    Bild und Co haben damit Politik betrieben und die Propaganda der AfD hat dann den Rest besorgt, um das Bild des "Messerstechermigranten" im Bewusstsein vieler Menschen zu verankern.

    Das Bild wieder aus den Köpfen der Menschen hinauszubekommen ist ein schwieriger Prozess und dürfte lange Zeit in Anspruch nehmen.

    Präventivmassnahmen sind immer zu begrüßen, jedoch es müssen auch die entsprechenden Kapazitäten vorhanden sein. Aber selbst ein geringes Angebot an individueller psychologischer Betreuung ist kein Grund, Personen sich selbst zu überlassen. Es gibt auch Alternativen in sozialen oder anderen Bereichen. Das Wichtigste ist, das die Personen beschäftigt werden und nicht in einer unpassenden Umgebung noch zusätzlich auf sich selbst reduziert sind. Oftmals kann es schon hilfreich sein, wenn sich jemand überhaupt wahrgenommen fühlt und dazu kann jeder in einer Gesellschaft etwas beitragen.