Adoption in Guatemala: Carlos Haas sucht seine Mutter

Mit vier Monaten wurde er aus dem Bürgerkrieg in Guatemala adoptiert. Jetzt möchte Carlos Haas wissen: Wer sind meine leiblichen Eltern?

Ein Baby schaut in die Kamera

Carlos Haas als Baby in Niedernberg, Unterfranken Foto: privat

CHIANTLA taz | An einem sonnigen Tag im Februar 2018 rast ein roter Geländewagen durch das Hochland von Guatemala und bringt ­Carlos Haas zu einer Frau, die seine Mutter sein soll. Haas, ein junger Mann mit dichtem schwarzem Haar und einem runden Gesicht, sitzt hinten, gedrängt neben seiner Frau und seinen beiden Kindern. Aus den Boxen dudelt mexikanische Rancheramusik, draußen ziehen die Gipfel der Cuchumatanes vorüber: mehr als 3.000 Meter hohe, schroffe Felsen vor strahlend blauem Himmel. Carlos Haas, der sonst viel redet, ist still geworden. „Wie lange noch?“, fragt er den Fahrer. – „Eine knappe Stunde“, sagt der.

Die Frau, zu dem der rote Geländewagen fährt, hat Carlos Haas wenig mehr als einen Fingerabdruck hinterlassen. Dick und schwarz hat sie ihn anstelle einer Unterschrift unter die neunseitige, eng beschriebene Adoptionsurkunde gedrückt. Carlos Haas kennt ihren Namen: Victoriana Saucedo Alvarado. Er kennt ihren damaligen Wohnort: Huehuetenango, guatemaltekisches Hochland. Und er weiß, dass die Frau 31 Jahre alt war, als sie am 14. Mai 1985 ihren Daumen unter das Dokument drückte.

32 Jahre später, im Frühjahr 2017, sitzt Carlos Haas im Wohnzimmer seiner Wohnung in Augsburg. Draußen im Flurschrank hängt eine Sammlung traditioneller Kleidungsstücke aus Guatemala: bunt bestickte Hemden und Hosen, unzählige Blusen und Gürtel, dazu Tragetücher, Haarbänder, Taschen und Hüte, insgesamt mehr als 100 Stück.

Haas kramt ein altes Foto hervor. Auf dem Bild ist eine Frau mit schwarzem Haar und dunklem Kleid zu sehen: eine Kinderkrankenschwester vor einem Waisenhaus in Guatemala-Stadt, in ihren Armen ein kleines Baby. Gedankenverloren schaut Haas auf das Bild. Er hat nur wenig Informationen über seine früheste Kindheit, Erinnerungen hat er keine.

Da ist die neunseitige Adoptionsurkunde, der Daumenabdruck, der Name seiner leiblichen Mutter. Doch er sagt: „Es würde mich überhaupt nicht überraschen, wenn dort einfach irgendein Name als Name der Mutter genannt wird.“

Als Haas geboren wird, herrscht in Guatemala Bürgerkrieg. Mehr als 30 Jahre lang kämpfen linke Guerillagruppen gegen die brutale Militärregierung – und gegen die Ungleichheit im Land, in dem eine kleine Elite Reichtümer anhäuft, während die Mehrheit der Bevölkerung in Armut lebt. 200.000 Menschen sterben im Bürgerkrieg, die meisten von ihnen werden von der Armee ermordet. Es trifft vor allem die indigene Mayabevölkerung auf dem Land. Ihr wirft die Regierung vor, die linke Guerilla heimlich zu unterstützen.

Im Bürgerkrieg verschwinden zahlreiche Menschen, sie gehen morgens aus dem Haus und kehren nie zurück. Zurück bleiben die Kinder. Oft werden sie von Bekannten aufgenommen, doch manche kommen auch ins Ausland. Die Papiere für Adoptionen ins Ausland sind unter der Militärdiktatur einfach zu bekommen. Ein Netzwerk aus Militärs, Anwälten und Waisenhäusern entwickelt daraus ein lukratives Geschäftsmodell, sie verdienen viel Geld mit den Adoptionen. Manchmal werden Kinder auch geraubt.

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Jetzt, mit Anfang 30, will Carlos Haas endlich erfahren, wer seine leibliche Mutter ist. Lebt sie noch? Hat sie ihn freiwillig zur Adoption freigegeben? Wurde er als Kind geraubt? Und was ist, wenn seine Mutter ihn nie haben wollte – und heute nichts von ihm wissen will?

Für die Momente, in denen diese Fragen kommen, hat sich Carlos Haas ein Mantra zurechtgelegt. „Ich habe nichts zu verlieren“, sagt er sich dann: „Meine Adoptiveltern sind für mich meine richtigen Eltern.“

Carlos Haas wächst in Niedernberg, Unterfranken, auf. In einem großen, hellen Haus mit großem Garten, dahinter fließt der Main. Seine Adoptiveltern erzählen Carlos Haas früh von seiner Herkunft. Sie kaufen Bildbände von Guatemala und blättern sie mit ihm durch. Sie zeigen Carlos auf dem Globus, wie weit Mittelamerika von Deutschland weg ist.

Carlos ist gut in der Schule, ein begabter Klarinettenspieler, sein erstes Buch ist eine Kinderbibel. Die Frage nach seiner Identität stellt er sich stückchenweise. Mit 17 lernt er Spanisch. Mit 20 reist Carlos Haas, der Messdiener war und regelmäßig in die Kirche geht, zum katholischen Weltjugendtag nach Köln. Dort trifft er Evelio Solano, einen charismatischen Priester aus Guatemala. Der lädt ihn nach Mittelamerika ein.

Aber Haas zögert. Er hat Angst vor den Gefühlen, die ein Besuch in Guatemala in ihm auslösen könnte. Immer wieder spielt er mit dem Gedanken, die Einladung anzunehmen, aber am Ende verwirft er die Idee. Und irgendwie kommt ihm immer etwas dazwischen: das Studium, die Arbeit, die Familienplanung. Heute arbeitet Carlos Haas als Historiker am Institut für Zeitgeschichte in München, dort forscht er zur Geschichte Zentralamerikas. Mit seiner Frau und zwei kleinen Kindern wohnt er in Augsburg.

2014, mit 29 Jahren, reist Haas für eine Archivrecherche nach Washington, D. C. Seine Gastgeberin zeigt ihm einen Latino­supermarkt. Für ihn wird es eine Art Erweckungserlebnis. Die Leute sehen ihm ähnlich, sie reden Spanisch mit ihm. Er gehört zum ersten Mal in seinem Leben ganz automatisch dazu – anders als in Deutschland, wo sich immer wieder Menschen darüber wundern, dass der junge Mann mit dem dichten schwarzen Haar Deutsch redet. Wenn Carlos Haas heute darüber spricht, nennt er es ein „intensives positives Erlebnis“. Und er denkt: Wenn sich das schon so gut anfühlt, wie wäre es erst in Guatemala?

Carlos Haas

„Wenn ich in Guatemala bin, fühle ich wie ein Guatemalteke“

Nun endlich nimmt Haas die Einladung des Priesters Solano an. Er ist überwältigt von der Gastfreundschaft, den bunten Farben den indigenen Trachten, den tausend neuen Gerüchen. „Wenn ich dort bin, fühle ich wie ein Guatemalteke“, sagt Carlos Haas. Auf Märkten kauft er sich guatemaltekische Tracht, er zieht sie immer öfter in Deutschland an.

Nach der Adoption kamen die Alpträume

Und im Dezember 2016 ist Carlos Haas bereit. Er kontaktiert die Liga Guatemalteca de Higiene Mental. Früher kümmerte sich die Organisation darum, psychischen Erkrankungen vorzubeugen. Doch seitdem wieder Frieden in Gua­te­ma­la ist, versucht sie auch Kinder zu finden, die während des­ Bürgerkriegs verschwanden. Die Organisation bittet Haas um Dokumente, die Adoptionsurkunde, seinen alten Reisepass und die Fotos aus dem Kinderheim in Guatemala-Stadt. Einige hat Haas zu Hause liegen, andere muss er bei seinen Adoptiveltern besorgen.

Doch sie wissen noch gar nichts von seinem Plan.

Ronald Haas, Adoptivvater

„Was ist, wenn jemand kommt: ‚Ich will mein Kind zurück‘?“

Kurz nach Weihnachten 2016 fährt Haas zu ihnen nach Unterfranken. Er ist nervös. Wird er sie mit seiner Suche vor den Kopf stoßen? Doch seine Adoptiveltern sagen: „Wir haben schon viel früher mit deiner Suche gerechnet.“ Das klingt souverän, abgeklärt. Aber die Suche ihres Sohnes weckt Erinnerungen an früher.

Die Familie hat es sich in Niedernberg schön eingerichtet. Im Garten hat Ronald Haas, ein sanfter Mann mit einem jungen Lachen, Kopfsalat, Zwiebeln, Karotten und Stangenbohnen gepflanzt. Im ganzen Haus hängen Aquarelle von Reinhilde Haas. Sie ist Künstlerin.

Wenn man die beiden besucht, sieht man eine helle Wohnküche. Jetzt sitzen sie dort am Tisch, vor ihnen stehen Brote mit Schinken und Käse, dazu Oliven und eingelegte Tomaten.

Kurz nach der Adoption, erzählt Ronald Haas, bekam er oft Albträume. Er schreckte auf und dachte: „Was ist, wenn morgen jemand vor der Tür steht und sagt: ‚Das ist mein Kind, ich will mein Kind zurück?‘“

Ein älteres Eheapaar schaut in die Kamera

Die Adoptiveltern: Reinhilde und Ronald Haas Foto: Martin Reischke

Familie Haas kann keine Kinder bekommen. Also wollen sie adoptieren. Doch die Hürden sind hoch, die Wartezeiten lang. Dann vermittelt eine Bekannte den Kontakt zu einer guatemaltekischen Rechtsanwältin, Rosa Elena Calderón. Sie organisiert Privatadoptionen nach Deutschland, die nicht über eine der großen Organisationen wie Terre des Hommes abgewickelt werden.

Nun geht alles viel schneller. Ronald und Reinhilde Haas besorgen sich eine Pflegeerlaubnis und ein polizeiliches Führungszeugnis. Sie lassen sich ihre christliche Eheführung vom Pfarrer bestätigen und versichern, dass sie keine leiblichen Kinder bekommen können. Die Dokumente schicken sie nach Guatemala und überweisen einen vierstelligen D-Mark-Betrag: Rechtsanwalts- und Adoptionsgebühren.

Ronald und Reinhilde Haas wissen, in Guatemala herrscht Bürgerkrieg. Doch Rosa Elena Calderón erzählt ihnen eine Geschichte: Arme guatemaltekische Kinder werden mit einer Adoption eine bessere Zukunft haben. Und das Ehepaar ist beruhigt. Nach Guatemala reisen sie nicht, beide haben Flugangst.

Kurz nach der Adoption von Carlos verschwindet Rosa Elena Calderón plötzlich. Familie Haas sieht einen Fernsehbericht: In Guatemala gehen Gerüchte um, Kinder würden ihren Eltern geraubt und ins Ausland verkauft – als Organspender. Das Ehepaar Haas wird jetzt misstrauisch beäugt. „Vorher haben die Leute gesagt: ‚Oh, toll, ihr habt ein Kind aus Guatemala‘ “, erzählt Ronald Haas. „Dann haben sie uns gefragt: ‚Habt ihr das Kind gekauft?‘ “

Ein weißer Fleck

Die Adoptiveltern haben Carlos’ leibliche Mutter nie kennengelernt. Hatten sie nie Zweifel an der Geschichte der Anwältin? Ronald Haas zögert ein bisschen, bevor er antwortet: „Natürlich hätte man besser helfen können, als ein Kind zu adoptieren.“ Dann sagt er: „Aber ich kann nicht glauben, dass wir ein Kind adoptiert haben, dass seiner Mutter weggenommen wurde.“

Für Ronald und Reinhilde Haas ist Carlos’ Herkunft bis heute ein weißer Fleck geblieben. Die einzige Geschichte, die sie haben, stammt von einer untergetauchten Anwältin. Vielleicht wollten sie es auch nicht so genau wissen – und die Flug­angst war ein guter Vorwand, um unangenehme Wahrheiten in Guatemala zu vermeiden. Doch das Ehepaar Haas steht zu ihrer Adoption – und auch die Entscheidung ihres Sohnes, nach seiner leiblichen Mutter zu suchen, unterstützen sie.

In der Zwischenzeit hat sich in Guatemala-Stadt Marco Antonio Garavito, der Direktor der Liga Guatemalteca de Higiene Mental, auf die Suche gemacht. Garavito, den alle nur „Maco“ nennen, hat in den vergangenen 17 Jahren fast 500 Familien wieder zusammengebracht. Für Garavito ist die Suche nach Vermissten längst zum Lebensthema geworden. Während des Bürgerkriegs kämpfte er aufseiten der linken Guerilla. 1996 ist der Krieg zu Ende, der Friedensvertrag wird unterzeichnet – doch die alten Wunden sind noch längst nicht verheilt.

Im Februar 2018 sitzt Maco, ein kräftiger Mann mit Schnauzer und der Statur eines in die Jahre gekommenen Boxers, in seinem kleinen Büro am Rand von Guatemala-Stadt. Draußen hört man hupende Autos und das Tatütata der Rettungswagen. Es riecht nach Benzin. Maco erzählt, wie er sich vor einem Jahr auf die Suche nach Victoriana Saucedo Alvarado machte.

Die Suche nach den Eltern eines verschwundenen Kindes, weiß Maco, ist eine delikate Angelegenheit. „Wir gehen immer davon aus, dass wir nicht wissen, ob die Person, die wir suchen, überhaupt die richtige ist“, sagt Maco. Viele Fälle bleiben nach Jahren ungelöst.

Der sechste Finger

Doch in diesem Fall aus Deutschland hat Maco eine Spur: An Carlos Haas’ Händen sind die verstümmelten Ansätze von sechsten Fingern zu erkennen, die ihm nach der Geburt wegoperiert wurden. Auch Haas’ Sohn hat einen sechsten Finger. Und so, wie er ihn an seinen Sohn vererbt hat, hat seine Mutter ihn vielleicht an ihn vererbt, hofft er.

Im Frühjahr 2017 macht Maco eine Frau im Hochland von Guatemala ausfindig, auf die die Angaben der Adoptionsurkunde passen. Hochland, das bedeutet: Man muss vorsichtig sein.

Die Menschen im Department Huehuetenango, wo die Frau lebt, sind extrem misstrauisch gegen Fremde. Während des Bürgerkriegs schlossen sich dort viele Männer paramilitärischen Verbänden an, die die Militärregierung unterstützten. Kommen heute Fremde in die Region, fürchten die Einheimischen Nachforschungen zu den Verbrechen, die während des Bürgerkriegs von den Paramilitärs begangen wurden. Und sie fürchten Rache.

Maco telefoniert mit Pedro Gregorio, einem Mann aus Nebaj im Hochland von Guatemala, der seit mehr als 15 Jahren mit ihm zusammenarbeitet – und schon viele vermisste Kinder wieder mit ihren Familien zusammengebracht hat.

Ein weißes Ziegelhaus in Guatemala

Haus in Chiantla, im guatemaltekischen Hochland Foto: Martin Reischke

Wenn man Gregorio persönlich spricht, dann begegnet man einem kleinen, gesprächigen, jovialen Mann. Einem, dem es leichtfällt, das Vertrauen anderer Menschen zu gewinnen und ganz nebenbei wichtige Informationen zu sammeln.

Am 9. Mai 2017 macht sich Gregorio auf den Weg nach Chiantla, Department Huehuetenango, Nordwestguatemala. Chiantla, ein paar Tausend Einwohner, sieht aus wie viele Kleinstädte in Zentralamerika: im Zentrum eine weiß-gelbe Kirche, ein großer offener Platz, rundherum flache Häuser an engen Straßen, durch die sich hupende Busse, Autos und Motorräder quetschen.

Schon vorher hat sich Gregorio dort umgehört, wo die meisten Menschen aus der Region regelmäßig vorbeikommen: am Markt von Chiantla. Zwischen Tortillaständen und Tomatenbergen hat er mit den Händlern gesprochen – und in Erfahrung gebracht, dass eine Frau namens Victoriana Saucedo Alvarado hier regelmäßig ihre Einkäufe erledigt – so auch an diesem Dienstag, dem 9. Mai. Also passt Gregorio die Frau auf dem Weg zum Markt ab. Er spricht sie als Victoriana an.

Die Frau ist völlig überrascht. Wer ist der fremde Mann, der nach ihrem Namen fragt? Ihr Sohn Luis, der in einem Kaufhaus in der Nähe arbeitet, wird zufällig Zeuge der Situation. Er traut der Sache nicht und macht Fotos von dem fremden Mann. Dann muss er zurück zur Arbeit.

Gregorio glaubt, dass es Saucedos Ehemann ist, der ihn gerade fotografiert hat. Nun könnte die ganze Sache schneller auffliegen, als ihm lieb ist.

„Wenn mein Mann davon erfährt, schlägt er mich tot“

Saucedo zieht Gregorio in eine Seitengasse. Der erzählt ihr von Carlos. Sie weint. Als sie sich die Tränen aus dem Gesicht wischt, weiß Gregorio, dass er die Richtige vor sich hat. Er hat ihre Hand gesehen – und ihren sechsten Finger. Auch Victoriana Saucedo kann ihre Freude kaum verbergen, sie weint vor Glück. Aber sie hat auch große Angst. „Wenn mein Mann von der Sache erfährt“, sagt sie, „wird er mich totschlagen – und dich gleich dazu.“ Gregorio gibt ihr Macos Telefonnummer, dann verschwindet er.

Es dauert nur ein paar Tage, dann klingelt Macos Handy. Am anderen Ende der Leitung ist Victoriana. Sie fasst schnell Vertrauen zu dem Mann aus der Hauptstadt. Sie erzählt ihm von ihren quälenden Schuldgefühlen. Sie sagt, vor 32 Jahren habe sie einen Jungen zur Adoption freigegeben, aus Armut. Sie bittet um Verzeihung.

Maco weiß nun: Carlos Haas ist nicht unter Zwang nach Deutschland gelangt. Aber er vermutet, dass er wohl über das gleiche Netzwerk verschickt wurde wie die geraubten Kinder.

Wie es ihm geht, fragt sie. Ob er verheiratet, ob er katholisch ist

Maco schreibt Haas eine Mail: „Ich habe gute Nachrichten für dich. Wir haben deine leibliche Mutter gefunden!“

Carlos Haas ist geschockt. Ungläubig liest er die Mail, wieder und wieder. Er hat sich selbst auf die Suche nach seiner Mutter gemacht – aber er ist nicht vorbereitet darauf, sie zu finden. Er ist schlecht gelaunt, weiß nicht, was los ist: „Ich habe mich wie ein Zombie gefühlt“, sagt Haas.

Doch dann beruhigt er sich: Der sechste Finger, dazu die jahrelange Erfahrung von Maco – was soll da schiefgehen? Haas schreibt seiner Mutter einen langen Brief auf Spanisch. „Liebe Victoriana“, beginnt er, „ich bin vor Freude und Glück überwältigt, von dir zu hören. Zuallererst möchte ich dich bitten, keine Angst zu haben. Ich mache dir keine Vorwürfe, ich bin einfach nur glücklich, dich nach so vielen Jahren gefunden zu haben.“

Haas spricht mit seinen Adop­tiv­el­tern. Sie sind genauso überrascht wie er selbst – und freuen sich mit ihm.

Carlos Haas und seine Mutter halten sich in den Armen

Ein Wiedersehen nach 33 Jahren: Carlos Haas und seine Mutter Victoriana Saucedo Foto: Martin Reischke

Haas würde am liebsten sofort nach Guatemala fliegen und seine Mutter treffen, wenigstens mit ihr sprechen. Doch Maco bremst die Euphorie. Er glaubt, dass ein direkter Kontakt vor allem Victoriana im Moment überfordern würde. Langsam, Schritt für Schritt sollen sich die beiden einander annähern. Die beiden kommunizieren über Maco.

Nach drei Monaten wird Haas ungeduldig. Er schlägt vor, endlich direkt mit Victoriana zu sprechen. Maco ist einverstanden. Doch das geht nur heimlich, denn Victorianas Familie weiß nichts von der Adoption. Victoriana macht sich auf zum Markt von Chiantla, ruft Maco vom Handy aus an, Maco schickt ihre Nummer nach Augsburg zu Haas.

Ende August 2017 sitzt Carlos Haas an seinem Computer im Schlafzimmer vor seinem geöffneten Skype-Konto und tippt die Nummer ein. Er hört ein, zwei, immer mehr Freizeichen, dann eine leise Frauenstimme. Am anderen Ende ist seine Mutter Victoriana. Der erste Kontakt ist überraschend einfach. Vic­to­ria­na fragt viel. Wie es ihm geht. Wo er wohnt. Ob er arbeitet und verheiratet ist, wie viele Kinder er hat und wie sie heißen. Sie fragt ihn, ob er katholisch ist. „Ja“, antwortet er.

„Da war sie sehr erleichtert“, sagt Carlos Haas.

Carlos Haas erfährt in diesem Gespräch von der Geschichte seiner leiblichen Familie. Victoriana hatte vier Kinder aus erster Ehe. Ihr Mann verschwand, Victoriana wurde von einem anderen Mann schwanger, Carlos’ Vater. Er starb an einem Herzfehler, kurz vor der Geburt.

„Und dann stand sie alleine da mit vier Kindern und einem Säugling und hat den Entschluss gefasst, mich als jüngstes Kind zur Adoption freizugeben“, sagt Carlos Haas. „Das hat sie seitdem als Geheimnis für sich behalten.“ Er klingt verständnisvoll.

Von den vier Kindern aus erster Ehe leben nur noch zwei: Baudilio ist nach Kalifornien ausgewandert, Luis lebt in Chiantla, unweit von Carlos’ Geburtsort. Ihm erzählt die Mutter schließlich, dass er einen Bruder in Deutschland hat – und erlebt eine Überraschung. Denn Luis macht ihr keine Vorwürfe, sondern freut sich über den neuen Bruder.

Und Victoriana Saucedo will endlich reinen Tisch machen. Sie erzählt ihrem Mann von der Adoption. Er reagiert wie erwartet. Er schreit, er schimpft und prophezeit, Carlos werde sie hassen.

Zwei Männer schauen in die Kamera

Carlos Haas und sein Halbbruder Luis Reyes Foto: Martin Reischke

Victoriana Saucedo ist es gewohnt, auf ihren Ehemann zu hören. Ihr Leben lang hat sie in Häusern anderer geputzt, gewaschen und gekocht. Lesen und Schreiben hat sie nie gelernt. Sie ist eine kleine, unscheinbare Frau, die älter wirkt als die 65 Jahre, die sie wirklich ist. Entscheidungen haben meistens andere für sie getroffen.

Doch jetzt macht sie einen mutigen Schritt. „Wenn du mich töten willst, dann töte mich“, sagt Saucedo zu ihrem Mann. Auch jetzt, Monate nach dem Streit, kommen ihr die Tränen, wenn sie diese Geschichte erzählt, doch da ist Überzeugung in ihren Augen.

„Lieber will ich dich verlieren als meine Kinder“, sagt sie zu ihrem Mann. Sie hat sich entschieden. Victoriana Saucedo ist fest entschlossen, ihren Sohn zu treffen.

An einem kalten Februar­abend 2018 sitzt Carlos Haas erschöpft vor gepackten Koffern in seiner Wohnung. Gerade noch hat er mit seinen Kollegen auf die Verteidigung seiner Doktorarbeit angestoßen. Doch mit seinen Gedanken ist er längst in Guatemala. Immer wieder hat er sich ausgemalt, wie es sich anfühlen wird, seine Mutter das erste Mal in den Arm zu nehmen. Haas atmet tief durch. „Wahrscheinlich kann man sich das gar nicht richtig vorstellen“, sagt er.

Ein Koffer voller Geschenke

Drei Tage später. Der rote Geländewagen rast durch das Hochland von Guatemala, und Carlos Haas fragt zum dritten Mal: „Wie lange noch?“ – „40 Minuten“, sagt Maco, der am Steuer sitzt. Haas verzieht das Gesicht, ihm ist schlecht. Sie haben schon 20 Minuten Verspätung – und sich auch noch verfahren.

Endlich die richtige Abzweigung. Langsam biegt der Jeep auf einen staubigen Sandweg ein.

Maco sagt: „Für diesen Moment gibt es kein Protokoll. Mach, was dein Herz dir sagt, das ist richtig.“ Haas steigt aus dem Auto. Maco sagt: „Ihr könnt losgehen.“

Carlos Haas hält seine Mutter in den Armen, sie weint

Carlos Haas und seine Mutter vor dem Krankenhaus, wo er geboren wurde Foto: Martin Reischke

Carlos Haas geht langsam, seinen Sohn an der Hand, über den staubigen Feldweg. 50 Meter entfernt ist ein Pavillon aufgebaut, Tische, Stühle, Platz für 40 Leute, Nichten, Neffen, Onkel, Tanten, Cousins und Cousinen, Nachbarn aus dem Dorf sind gekommen. Die Frauen tragen Kleider, die Männer Sonntagshemden. In ihrer Mitte steht Victoriana Saucedo in einem blauen Kleid. Haas geht weiter, vorne knallen jetzt Böller, eine Band spielt Marimbamusik, eine langsame, zurückgenommene Melodie. Haas lässt die Hand seines Sohnes los und geht alleine weiter, seine Mutter kommt auf ihn zu. Dann stehen Mutter und Sohn voreinander, sie sagen kein Wort, sie umarmen sich, ein Wiegen, dann ein Tanzen. Die Nase, die Augenbrauen, der Mund: Die beiden ähneln sich.

Einen Koffer voller Geschenke haben Haas und seine Familie ihren guatemaltekischen Verwandten mitgebracht: Gummibärchen und Milka-Schokolade für die Kinder, eine Trainingsjacke vom FC Augsburg für Halbbruder Luis. Seiner Mutter überreicht er eine schwarze Madonnenfigur aus Altötting, die einen Ehrenplatz auf dem kleinen Altar im Wohnzimmer der Familie bekommt.

Am nächsten Tag setzt sich Carlos’ Halbbruder Luis hinter das Lenkrad eines weißen Pick-ups, den er sich extra für den Besuch aus Deutschland ausgeliehen hat. Neben ihm sitzt seine Mutter, Carlos Haas ist hinten auf der Ladefläche. Über eine kurvenreiche Strecke geht es ins nahe gelegene Hue­hue­te­nan­go. Vor einem gelb-braunen Gebäude bleibt der Wagen stehen. Haas klettert von der Ladefläche. Schweigend geht er mit seiner Mutter die wenigen Schritte zum Seiteneingang des Gebäudes. Hier, erzählt sie ihm, wurde er im Februar 1985 geboren. In stiller Umarmung stehen Carlos und Victoriana vor der schwarzen Metalltür des früheren Krankenhauses.

An den Moment, als sie ihren Sohn weggab, erinnert sie sich noch genau: „Die Frau in der Hauptstadt, bei der ich ihn gelassen habe, hat zu mir gesagt: Fragen Sie nie mehr nach Ihrem Kind, es wird nie wieder zurückkehren.“

„Das Gefühl, dass ich verkauft wurde, ist schrecklich“

Aber Victoriana Saucedo kann ihren Sohn nicht vergessen. Jeden Tag denkt sie an ihn, 33 Jahre lang. Sie macht sich Vorwürfe. Auch die konservative gua­te­mal­te­ki­sche Gesellschaft verzeiht es ihr nicht, ihrer Mutterrolle nicht gerecht geworden zu sein. Leise sagt sie: „Ich schäme mich so vor dem Moment, in dem er mich plötzlich fragt: ‚Mama, warum hast du das gemacht?‘ “

Doch diese Frage hat Carlos Haas nie gestellt. Er findet sie überflüssig, seit er das Schicksal seiner Mutter kennt. „Ich habe keinen Zorn auf sie, ich habe Mitleid mit ihr und dem Leben, das sie bis jetzt hatte.“ Nur wenn er an die Rechtsanwältin denkt, die die Adoption organisiert hat, ist er wütend. „Sie hat von dem Wunsch meiner Eltern in Deutschland, ein Kind zu haben, ebenso profitiert wie von der Armut, in der meine Mutter gelebt hat“, sagt Haas. „Das Gefühl, dass ich verkauft wurde, ist schrecklich.“ In solchen Momenten wirkt Haas hilflos, ohnmächtig.

Abends sitzt die Familie in kleinem Kreis in der Küche. Auf dem Herd stapeln sich Pfannen, es riecht nach Bratöl. Die Stimmung ist fröhlich. Carlos’ Halbbruder Luis hat das Handy auf laut gestellt, ­YouTube, es läuft ein alter mexikanischer Schlager. Die beiden stehen auf und singen. „No hay nada más difícil que vivir sin tí.“ Nichts ist schwieriger, als ohne dich zu leben.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.