Literaturbetrieb: "Natürlich ist es Idealismus"

Wie viele gute Romane gibt es pro Saison? Funktioniert der französische Literaturbetrieb anders? Wird heute weniger lektoriert als früher? Ein Gespräch mit dem Lektor Wolfgang Matz

"Natürlich ist es Idealismus"
Wie viele gute deutschsprachige Romane gibt es pro Saison? Funktioniert der französische Literaturbetrieb anders? Wird heute wirklich weniger lektoriert als früher? Ein Gespräch mit Wolfgang Matz, einem einflussreichen Lektor beim Hanser Verlag

INTERVIEW MONIKA GOETSCH

taz: Herr Matz, wie sehr sind Sie als Lektor Hebamme, wie sehr Nörgler, wie sehr Freund?

Wolfgang Matz: Das hängt vom Temperament des Autors ab. Ob einer den Dialog sucht oder für sich allein schreibt, ist keine Qualitätsfrage, sondern eine von Temperament und Charakter. Etwas ironisch gesagt: Der ideale Autor braucht keinen Lektor, der ideale Lektor wird nicht gebraucht. Die Vorstellung, dass einem wirklich guten Autor ein Text völlig missglückt und er das noch nicht einmal selbst erkennt, ist etwas theoretisch. Nehmen wir W. G. Sebald. Seine Bücher sind praktisch so erschienen, wie er sie geschrieben hat. Ohne dass ein Lektor daran herumgedoktert hätte.

Haben Sie denn mal so richtig mitgeholfen? So sehr, dass eigentlich Ihr eigener Name mit drüber stehen müsste?

Der Name gehört nichts ins Buch, nie. Der Lektor ist im Hintergrund, und da gehört er hin. Auch wenn es über ein Manuskript längere Diskussionen gibt, muss am Ende der Autor die Konsequenzen ziehen - und schreiben. Ich habe die altmodische Vorstellung, dass ein Schriftsteller selber schreibt. Und nicht nur die Materialien liefert, aus denen ein anderer das Buch bastelt. Wenn es um die Vermittlung von Sachwissen geht, mag das denkbar sein. Aber in der Literatur ist ein Autor, der ohne Lektor kein publikationsfähiges Buch fertig bekäme, fehl am Platz.

Helfen Creative-Writing-Kurse und Hochschulen für Schriftstellerei?

Ein Schriftsteller wird nicht zum Schriftsteller, weil er einen Creative-Writing-Kurs besucht hat. Man kann etwas fürs Handwerk lernen, natürlich, und das ist außerordentlich gut. Aber vor allem muss man etwas zu sagen, zu erzählen haben! Sonst fabriziert man sich Autoren und auch Autorinnen, die als Medienfiguren durch Presse und Fernsehen getrieben werden, obwohl sie gar nicht schreiben können, und mit 22 verfassen die ihr Spätwerk.

Gibt es kongeniale Beziehungen zwischen Autor und Lektor?

Ich mag das Wort nicht, aber natürlich gibts die. Ein guter Lektor stülpt einem Autor nicht seine Ideen über. Er versetzt sich so sehr hinein in die Haut des Autors, dass er ihn an seinen eigenen Ansprüchen, Ideen, Kriterien misst. Und das geht nicht immer gleich gut.

Warum sind Autoren eigentlich so empfindlich?

Weil ein Schriftsteller nicht irgendein Produkt in die Welt setzt, sondern sich ganz und gar selbst in sein Werk begibt. Es ist immer ein schmaler Grat zwischen Kritik an einem Werk und Kritik an einem Menschen. Einem Autor habe ich vor vielen Jahren einmal gesagt, eine Figur in seinem Manuskript erscheine mir vollkommen unplausibel, geradezu blödsinnig. Er antwortete pikiert, dass es sich um eine autobiografische Figur handle. So wird man vorsichtiger. Das ist natürlich ein Extremfall. Aber er zeigt, dass Kritik leicht persönlich verstanden wird, auch wenn sie nicht persönlich gemeint ist.

Versuchen Sie, Ihre Kritik besonders einfühlsam zu formulieren?

Selbstverständlich lasse ich Vorsicht walten. Aber ich habe die Erfahrung gemacht, dass es am besten ist, offen zu reden. Der Autor will sehen, dass man seinen Text ernst nimmt.

Haben Sie Standardantworten für die vielen Manuskripte, die Ihnen nicht gefallen?

Klar.

Was bekommt so ein armer Autor da zu hören?

Dass wir das leider nicht übernehmen können.

Keine weitere Begründung?

Nein. Uns werden 3.000 Manuskripte pro Jahr angeboten.

Nach welchen Kriterien sichten Sie die denn?

Bei der großen Zahl ist ja klar, wie wenig Zeit man einem Manuskript widmen kann. Zum Glück sind von den 3.000 Manuskripten 2.950 a priori ohne Interesse.

Woran sehen Sie denn das?

Eine Tragödie über Gustav den 27. will ich nicht haben. Romane über den Kampf der Yediritter im 27. Jahrtausend - weg damit. Ein 200-seitiger Sonett-Zyklus über die Kinder von Siegfried - keine Chance. Dann nimmt man noch die autobiografischen Lebensbewältigungstexte raus. Legt die Manuskripte weg, die anfangen mit den Sätzen: "Die Frühlingssonne schien sanft auf den Park. Die Vögel zwitscherten, was das Zeug hielt. Fritz saß auf einer Bank und dachte: ..." Und schon ist man einen Großteil der Manuskripte los.

Und der Rest?

Ich suche nicht ständig nach zehn neuen Büchern. Ich kann nicht Jahr für Jahr vier neue Autoren aufnehmen. Aber wenn es den einen wirklich neuen Romancier gibt - und irgendwo sitzt er, nur wo? -, dann möchte ich natürlich der sein, der ihn entdeckt.

Wen haben Sie denn schon entdeckt?

Norbert Niemann hat einen Essay geschickt. Armin Senser ein paar Gedichte. Arno Geiger habe ich nach seiner Lesung in Klagenfurt gefragt, ob er bei uns publizieren will. Autoren wie er, die auf höchstem literarischem Rang einen solchen Erfolg haben, sind natürlich ein ganz seltener Glücksfall für jeden Verlag.

Also haben Sie doch eine gewisse Macht?

Naja, Macht! Wir sind das Nadelöhr, durch das die Kamele halt durch müssen. Wir präsentieren das, woraus Leser und Kritik erst auswählen können. Wir zimmern, was von der Literatur einer Zeit überhaupt da steht. Irgendwann liest ein Lektor ein Manuskript und denkt: Ich finde das großartig und ich traue mir zu, diesen Autor durchzusetzen. Aber auch da, wo ich einen Autor sehr unterstütze, bin ich Geburtshelfer, nicht Autor.

Was muss ein Lektor denn können?

Er muss etwas gelesen haben, möglichst alles sozusagen, und besonders die alten, großen Bücher, um nicht bei jedem Debütanten gleich von Genialität zu fabeln. Zugleich muss er in den Manuskripten dieser Debütanten Autoren erkennen, auf die er setzen kann. Er braucht Einfühlungsvermögen und ein gewisses Manövriergeschick. Und: Er muss wissen, wozu er Bücher macht! Was Literatur für ihn ist!

Obwohl ästhetische Urteile so große Spielräume lassen.

Ich bin ja nicht einfach ein objektiver Gradmesser für Qualität. Aber ich habe eine inhaltliche Vorstellung von unserem Programm. Wir wollen unsere Bücher verkaufen, weil wir von nichts anderem leben als von dem Verkauf unserer Bücher. Ein Verlag wie Hanser will so anspruchsvolle Bücher wie möglich machen, die er dann an das größtmögliche Publikum verkaufen kann.

Gibt es Ausnahmen?

Mehr als genug: Essays, Gedichte, Gesamtausgaben, manche Klassiker. Wenn wir glauben, dass ein Autor im Lauf der Jahre zu wirklicher Größe heranwächst, publizieren wir sein Buch, ohne hohe Verkaufszahlen zu erwarten.

Warum riskieren Sie das?

Wenn der S. Fischer Verlag erst die "Buddenbrooks" hätte machen wollen, dann wäre Thomas Mann eben zu einem anderen Verlag gegangen. Kein literarischer Autor ist als Bestsellerautor auf die Welt gekommen.

Sie übersetzen aus dem Französischen, schreiben über französische Literatur und haben lange an der Universität in Frankreich gearbeitet. Funktioniert der französische Literaturbetrieb anders?

Schon. Bei uns macht zum Beispiel der Lektor das Programm und betreut die Bücher. In größeren französischen Verlagen werden diese Funktionen oft getrennt. Die Franzosen lesen auch viel mehr Autoren der eigenen Sprache. Gallimard bringt im Herbstprogramm zwei Dutzend Neuerscheinungen der französischen Gegenwartsliteratur. Das sollte ich mal versuchen!

Würden Sie gern zwei Dutzend neue Bücher pro Saison machen?

Nein. Weil es so viele gute Bücher nicht gibt.

Es gibt weniger als 24 gute deutschsprachige Bücher pro Saison?

Vielleicht sind es auch 24. Aber die anderen Verlage wollen ja auch leben. Besser sind im Übrigen auch die französischen Bücher nicht, da ist viel Durchschnitt dabei, Autoren, die in der nächsten Saison wieder verschwinden.

Hat sich, was das Lektorieren angeht, in Deutschland viel verändert?

Es heißt, die Bücher würden heutzutage nicht mehr lektoriert. Für die wirklich guten Literaturverlage stimmt das nicht. Wir lesen die Bücher sehr genau. Bei jedem Autor findet man irgendwas. Manche Leute sind furchtbar glücklich, wenn sie einen Fehler finden. Ein junger Autor, der seinen Protagonisten einen Sicherheitsgurt anlegen lässt! In den Sechzigerjahren! Obwohl es damals gar keine Sicherheitsgurte gab! Wenn ich so einen Fehler finde, und ich finde so einen Fehler, ändere ich das natürlich. Aber die Welt geht nicht unter von diesen Fehlern - siehe Thomas Mann.

Was ist denn ein wirkliches Problem?

Dass die Literaturkritik gerade die anspruchsvollen Literaturgattungen im Stich lässt. Essaybände und Gedichtbände, die ein sehr kleines Publikum haben, werden immer seltener rezensiert. Die Kritik entwickelt sich in Richtung Monokultur. Das hat schon sehr kurzfristig zur Folge, dass wir diese Bücher nicht mehr verlegen können.

Bislang machen Sie diese defizitären Bücher ja noch. Aus Idealismus?

Weil eine Literatur nur dann lebendig ist, wenn sie die ganze Breite kennt, von Gedichten über Romane, Erzählungen, Essays bis hin zu den Experimenten. Ich wüsste kaum jemanden hier im Lektorat, der in einen Verlag hätte gehen wollen, wo solche Texte nicht publiziert werden.

Also doch Idealismus.

Mein Gott, das Wort wird nicht geschätzt, weil es so pathetisch ist. Aber natürlich ist es Idealismus, was sonst.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.