Aktionsplan gegen Analphabetismus: Ahmad Temiztürk will lernen

Um das Potenzial der Analphabeten nicht zu vergeben, will die Regierung einen nationalen Aktionsplan starten. Doch die Wirtschaft schweigt das Thema lieber tot.

Wer Schreiben und Lesen lernen will, hat es im Alter nicht leicht. Bild: dpa

Ahmad Temiztürk* hat sie vollbracht, seine eigene kleine Meisterleistung. Er hat seine beiden Töchter überredet, zum Sommerhalbjahr von der Realschule aufs Gymnasium zu wechseln. Die Lehrer haben es so empfohlen, sie wollen die beiden Einser-Kandidatinnen nicht länger mit ihrem Unterricht unterfordern.

„Meine Kinder werden es einmal besser haben als ich“, sagt Temiztürk. Der Hamburger schreibt die Erfolgsgeschichte seiner Töchter auf, Aspekt für Aspekt, jede Woche eine halbe Seite im Schulheft. Er hat es für den Grundbildungskurs Deutsch angelegt, den er besucht. Dort schreibt er – für seine eigene Zukunft und die Zukunft seiner Kinder. Genauer: er lernt, sie aufzuschreiben.

Seine bisherige Lese- und Schreibkompetenz würde man im Fachjargon als funktionalen Analphabetismus bezeichnen: Die Betroffenen können einzelne Worte und Sätze lesen, doch ihre Kenntnisse reichen nicht aus, um an der schriftbasierten Gesellschaft normal teilzuhaben. Analphabeten machen etwa 10 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung aus.

Alphabetisierung zählt neben den Grundrechenarten, Umgang mit Alltagstechnik und sozialen Grundkenntnissen zur „Grundbildung“. Diese braucht jeder, um an der Gesellschaft ohne ständige Betreuung teilnehmen zu können. Die etwa 7,5 Millionen funktionalen Analphabeten in Deutschland unterteilen sich in drei Gruppen.

Alpha 1, circa 300.000 Menschen: Die Betroffenen unterschreiten die Satzebene und haben schon bei der Verknüpfung von Buchstaben mit Lauten Probleme.

Alpha 2, circa 2 Millionen Menschen: Sie können zwar einige Wörter lesen, haben aber schon mit einfachen Sätzen Probleme.

Alpha 3, circa 5,2 Millionen Menschen: Sie können Wörter und einfache Sätze lesen sowie schreiben, haben aber starke Probleme mit Rechtschreibung und Satz- und Textzusammenhängen. 12,9 Prozent von ihnen haben dennoch einen Real- oder Gymnasialabschluss.

Die meisten sind gebürtige Deutsche mit einigen Sprüngen in der Biografie – so auch Temiztürk. Er hat türkische Eltern, ist zwischen den Sprachen aufgewachsen. Auf sein mündliches Deutsch hatte das keine Auswirkungen. Doch beim Schreiben und Lesen hapert es, in beiden Sprachen. Deshalb kam ein schriftbasierter Job bisher nie infrage, über Aufstieg dachte Temiztürk aus Scham gar nicht nach.

Stattdessen arbeitet der 43-Jährige als Warenumpacker im Lager der Hamburger Drogeriemarktkette Budnikowsky. „Ich habe mich extra auf einen festen Job bei Budni beworben, weil ich am Grundbildungskurs teilnehmen wollte“, sagt er. Dass er diese Möglichkeit hat, ist keineswegs selbstverständlich.

Am Arbeitsplatz lernen bleibt Seltenheit

Während Integrationskurse und Angebote wie Deutsch als Zweitsprache mittlerweile anerkannt und auch innerhalb vieler Unternehmen etabliert sind, bleiben Grundbildungsangebote am Arbeitsplatz eine Seltenheit. Viele Unternehmen sehen das Thema Grundbildung als imageschädigend an – und verschließen die Augen vor der Realität.

Einer Studie des Instituts für lebenslanges Lernen an der Universität Hamburg von 2011 zufolge sind in Deutschland 7,5 Millionen Menschen im erwerbsfähigen Alter funktionale Analphabeten. Sie sind nicht in der Lage, auch nur kurze zusammenhängende Texte zu lesen oder zu schreiben.

Weitere 14,5 Millionen Menschen, so schätzen die Forscher, beherrschen selbst bei gebräuchlichem Wortschatz nur fehlerhafte Schriftsprache. Bundesbildungsministerin Annette Schavan (CDU) hat deshalb vergangenes Jahr einen nationalen Grundbildungspakt angekündigt, zu dem sie Bund, Länder und Akteure wie Wirtschaftsverbände an einen Tisch holen wollte. Stichwort: Drohender Fachkräftemangel.

20 Millionen Euro Projektfördermittel

Passiert ist bisher wenig. Nicht nur, weil sich Bund und Länder lediglich auf 20 Millionen Euro Projektfördermittel bis 2015 einigen konnten, während neue Alphabetisierungskurse nicht in Sicht sind, sondern auch, weil der Deutsche Industrie- und Handelskammertag sein Kooperationsangebot vorerst zurückziehen musste.

„Wir erreichen die Unternehmen nicht wie gedacht, sie wollen mit dem Thema nichts zu tun haben“, sagt Günter Lambertz, Leiter des Bildungsbereichs beim DIHK. „Bei uns gibt es so etwas nicht“, ist ein Satz, den Lambertz in Betrieben öfter über Analphabetismus hörte.

Knapp 60 Prozent der funktionalen Analphabeten haben einen Job, die meisten von ihnen sind Un- oder Angelernte im produzierenden Gewerbe. Auch Ahmad Temiztürks Arbeitsalltag sieht eher wenig anspruchsvoll aus. In dem dreistöckigen Hochregallager von Budnikowsky im Gewerbegebiet Hamburg-Allermöhe läuft bei einer Palette von 15.000 Produkten zwar hochkomplexe Logistik ab – die Lagerarbeitskräfte haben damit allerdings nichts zu tun.

Für sie geht alles automatisch; wo sie Waren entnehmen sollen, zeigen ihnen farbige Leuchtsignale. „Doch diese einfachen Tätigkeiten nehmen rapide ab“, sagt DIHK-Mann Lambertz. Er rechnet damit, dass vor allem mittelständische Baubetriebe und Gastronomen im Zuge des technischen Fortschritts Probleme bekommen werden, wenn sie ihre Arbeitskräfte nicht zum Lernen befähigen.

Temiztürk will lernen, weil er weiß, dass die Fluktuation im Lager unter den Un- und Angelernten hoch ist: „Ich kann nicht absehen, wie lange ich hier bleibe. Und wenn ich irgendwann mal einen anderen Job machen will, muss ich doch schreiben können“, sagt Temiztürk. Das hat er schon damals gemerkt, als er von einer Zeitarbeitsfirma, die mit Budnikowsky kooperierte, zu seinem jetzigen Arbeitgeber wechselte.

Seine Schichtleiterin kannte ihn schon. Bei einem fremden Unternehmen wäre er sofort aus der Auswahl herausgeflogen – er bekam die Bewerbung achtmal zur Korrektur zurück. „Ich war total verzweifelt, weil ich immer wieder so viele Fehler gemacht habe“, sagt Temiztürk rückblickend. Am Ende diktierte er einem Bekannten die Bewerbung.

Damit er das künftig nicht mehr machen muss, arbeitet er nun hart im unternehmensinternen Grundbildungskurs. Temiztürk hat eine Mindmap mit den verschiedenen Geschichten gemalt, die er über seine Kinder schreiben will: „Gespräch mit den Lehrern, Schulwechsel, Abitur, Ausbildung/Studium, besserer Verdienst, besseres Leben, Sohn zum Lernen überreden.“ Heute ist der Aufsatz „Besseres Leben“ dran. Daneben stehen Übungen zu Doppelkonsonanten und S-Lauten, sie sind Temiztürk diesmal am schwersten gefallen.

Die Drogeriekette Budnikowsky ist im Jahr 2010 über die Volkshochschule Hamburg in die Grundbildungsarbeit eingestiegen, gemeinsam mit anderen Unternehmen wie etwa der Stadtreinigung Hamburg. Diese bot damals ebenfalls Grundbildungskurse für ihre Angestellten an. Nach Informationen eines beteiligten Organisators durchaus, „weil Umstrukturierungsprozesse im Unternehmen die Mitarbeiter vor neue Herausforderungen stellten“. Die Mitarbeiter sollten also befähigt werden, sich fortzubilden und mit den Veränderungen des Unternehmens mitzuhalten.

Keine Notwendigkeit bei der Müllabfuhr

Doch eine Anfrage an die Stadtreinigung, ob es weiterhin Angebote gebe, beantwortet deren Pressesprecher abschlägig: „Damit sind wir durch. Für Alphabetisierungsprogramme gibt es, entgegen klischeehaften Vorurteilen, bei der Müllabfuhr keine Notwendigkeit. Für einen Besuch besteht daher weder ein Anlass noch ein Hintergrund, zumal wir Vorurteile nicht auch noch fördern wollen.“

Für Peter Hubertus, Geschäftsführer des Bundesverbands Alphabetisierung, ist das skandalös – aber nicht ungewöhnlich. „Das zeugt von einem grundsätzlichen Unverständnis für das Phänomen Grundbildungsbedarf.“ Schließlich handele es sich nicht um eine unheilbare Krankheit.

Im Gegensatz zu Großbritannien und Dänemark, wo Arbeitskräfte für Kurse zu Lese- und Schreibkompetenz gezielt freigestellt werden, heiße es hierzulande oft: Wer nicht lesen kann, ist dumm. Wie Lambertz glaubt auch Hubertus, dass sich Unternehmen in Zeiten des demografischen Wandels nicht mehr lange leisten können, dieses Potenzial zu vergeben.

Im Prinzip hat selbst der Bund die Problematik erkannt. Für die Zeit bis 2015 hat das Bundesbildungsministerium ein Programm aufgelegt, das Forschungsprojekte zur arbeitsplatzorientierten Grundbildung fördert. Die Unternehmen als der Akteur, der am nächsten an den Betroffenen dran ist, rücken in den Fokus.

Lesen und Schreiben am Arbeitsplatz

Peter Hubertus vom Alphabetisierungsverband reicht das nicht. Er fordert, dass der Bund nicht nur forschen und Projekte fördern, sondern über die Bundesagentur für Arbeit auch Alphabetisierungskurse schaffen soll. So könne die BA Menschen ohne Arbeit und mit Grundbildungsbedarf für den Arbeitsmarkt fit machen. Schließlich habe Lesen und Schreiben nicht nur mit Allgemeinbildung zu tun, für die die Länder zuständig wären. „Man braucht es doch vor allem am Arbeitsplatz!“, sagt Hubertus.

Ahmad Temiztürk braucht die neuen Fähigkeiten für mehr. „Früher habe ich immer nur eine halbe Buchseite am Tag geschafft, es hat mich so angestrengt, dass ich nur wenig Lust zum Lesen hatte“, sagt er. Jetzt lese er ganze Bücher. Vor allem für historische Romane kann er sich begeistern. Als Nächstes steht ein Sachbuch über den Bau der Pyramiden auf seiner Agenda. „Die haben damals Stück für Stück aufgebaut, unglaublich, was am Ende dabei herauskam“, sagt Temiztürk. „Ich will wissen, wie sie diese Meisterleistung vollbracht haben!“

* Name von der Redaktion geändert

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.