Arbeit in Serie: Aktivistin in Vollzeit: „Ich arbeite nicht für das Geld“

Nadine Saeed engagiert sich gegen rassistische Strukturen in der Polizei und Justiz – ein Vollzeitjob, für den sie auch mal im Büro übernachtet.

Ob eine Vollzeitaktivistin überhaupt eine Steuererklärung macht? Foto: Yvonne Kuschel

Der Arbeitsort

Nadine Saeed und ihre Kolleg*innen sind viel unterwegs, in ganz Deutschland, aber auch in Irland oder England. „Wenn Informationsveranstaltungen oder Termine mit der Untersuchungskommission anstehen, arbeiten wir oft gemeinsam im Zug.“ Aber es gibt auch ein Büro in Berlin. Dort stapeln sich zwischen den Computerarbeitsplätzen die Akten, Bild- und Tonträger, mit denen die Initiative Gerichtsprozesse, unabhängige Brandprüfungen und Protestaktionen dokumentiert.

Der Mensch

Eine große, schlanke Person ist Saeed. Dreadlocks und wache, grüne Augen geben der Enddreißigerin eine jugendliche Erscheinung. Das Private ist politisch, das Politische privat, deshalb lebt sie auch nicht in einer Mietwohnung, sondern in einem gemeinschaftlichen ökologisch-sozialen Wohnprojekt. Ihr Arbeitsplatz ist die Initiative in Gedenken an Oury Jalloh. Dort übernimmt sie seit 2011 Recherchen, die Vorbereitung von unabhängigen Gutachten und die Beobachtung von Gerichtsverfahren. Aber auch Öffentlichkeitsarbeit und Bildungsangebote. Sie macht, was in der Initiative ansteht, in Vollzeit.

Mit unserer „Arbeit in Serie“ werfen wir alle zwei Wochen Schlaglichter auf die Berliner Arbeitswelt, auf spannende Tendenzen und bedenkliche Phänomene. MehrfachjobberInnen, moderne ArbeitssklavInnen, ArmutsrentnerInnen: Wir schauen dahin, wo es wehtut. Aber auch dahin, wo die Berliner Wirtschaft boomt: Immobilienbranche, Unterhaltungsindustrie, Digitale Transformation. Wir stellen Fragen nach Wertschätzung und Perspektiven. Wir sprechen mit Menschen, die typisch sind für Entwicklungen und doch auch ihre ganz eigene Geschichte erzählen. Alle Folgen unter taz.de/arbeitinserie. (taz)

Wie alles begann

Gerechtigkeitsfragen treiben Saeed schon während der Schulzeit in der Brandenburgischen Prignitz um. Auf koloniale Ausbeutungsprozesse und antikoloniale Befreiungskämpfe legt sie ihren Schwerpunkt im Studium der Afrikawissenschaften und Geografie an der HU.

„Danach habe ich in der Kontakt- und Beratungsstelle für Flüchtlinge und Migrant*innen gearbeitet und den Rassismus in staatlichen Behörden aus nächster Nähe mitbekommen.“ 2011 beobachtet sie ihren ersten Prozess um den Tod von Oury Jalloh. „Das hat mich nicht mehr losgelassen, dass dieser angebliche Rechtsstaat nicht aufklären will und die Mehrheitsgesellschaft dazu schweigt. So bin ich in die Arbeit der Initiative hineingewachsen.“ Seit 2016 wird sie von der Bewegungsstiftung gefördert.

Die Arbeitszeit

In der Initiative gibt es genug zu tun: Wenn eine wichtige Veröffentlichung, Pressekonferenz oder Protestaktion ansteht, wird durchgearbeitet. Das sind intensive Wochen, in denen die Aktivist*innen teilweise im Büro schlafen. „Gerade aber dieses extrem enge Zusammenarbeiten und -leben stiftet Gemeinschaft zwischen uns, macht Spaß, obwohl es auch immer emotional aufreibend ist, weil es eben um die Aufklärung eines grausamen Verbrechens geht.“

Diese Arbeit sei ein andauernder Lernprozess, weil man sich immer in neue Themen und Techniken einarbeiten muss: Kriminologie, Rechtsprechung, aber auch Video- und Tonschnitt. „Die staatlichen Repressionen, die Prozesse gegen uns, die dann keine wirklichen Konsequenzen haben, stehlen uns vor allem Arbeitszeit“, erzählt die Vollzeitaktivistin.

Die Initiative in Gedenken an Oury Jalloh hat die unabhängige Aufklärung des Todes von Oury Jalloh und der Kampf gegen rassistische Strukturen in Polizei und Justiz zum Ziel. 2005 verbrannte der Asylsuchende aus Sierra Leone im Polizeirevier Dessau. Internationale, unabhängige Gutachten im Auftrag der Initiative bewiesen eine Fremdeinwirkung, nachdem deutsche Behörden Jallohs Tod als Suizid vertuschen wollten.

Die Bewegungsstiftung Seit 2002 fördert sie soziale Bewegungen, die sich für Ökologie, Frieden und Menschenrechte einsetzen – darunter auch die Arbeit der Aktivistin Nadine Saeed. Über 150 Stifter*innen bilden den finanziellen Kern der Stiftung und entscheiden welche Vorhaben gefördert werden. Zudem finanzieren Bewegungspat*innen die Arbeit von Vollzeitaktivist*innen.

Die Bezahlung

Saeed spricht nicht gern über Geld. Monatlich erhält sie eine kleine Pauschale aus dem Topf der Bewegungsstiftung, der Rest kommt aber von persönlichen Pat*innen, die entweder einmalig oder durch einen Dauerauftrag spenden. Mindestens 500 Euro im Monat müssen für die Bewegungsarbeiter*innen zusammenkommen, so die Vorgabe der Stiftung. Wenn für Vorträge zum Fall Oury Jalloh Honorare bezahlt werden, fließen sie zu den Aktivist*innen, die das Geld akut brauchen. „Dieses Modell macht unsere Arbeit unabhängig von staatlichen Institutionen, frei und kreativ. Als Aktivist*in lebt man von Tag zu Tag, von Monat zu Monat. Wir arbeiten nicht für Geld, sondern für mehr Gerechtigkeit, für eine Sache, die wir sinnvoll finden.“ Wenn eine Autoreparatur ansteht, werde es finanziell manchmal knapp, „aber man kriegt alles hin“. Zumindest muss sie im Wohnprojekt keine Miete zahlen und keine Kinder oder Angehörigen mitfinanzieren. Finanzielle Altersvorsorge interessiert Saeed nicht besonders, aber die Frage, wie man im Alter gemeinschaftlich zusammenleben könnte.

Das Gewissen

„Einer der wichtigsten Punkte an meiner Arbeit ist, dass ich sie mit gutem Gewissen mache. Natürlich kann ich auch Fehler machen, aber grundsätzlich, meine ich. Wenn ich was verstanden habe, will ich auch danach handeln“, sagt Saeed. Das gelte auch für den persönlichen Konsum. „Wenn man in Europa lebt, ist man natürlich Teil eines ausbeuterischen Systems, aber man kann versuchen, das zu minimieren, indem man bewusst und kritisch konsumiert und politisch aktiv ist.“

Die antirassistische Arbeit erfülle sie zu 100 Prozent, gerade auch weil sie ihre akademische Ausbildung für mehr globale Gerechtigkeit einsetzen könne. „Es geht darum, ungerechte historische Kontinuitäten zu erkennen, zu verstehen und zu durchbrechen.“

Nadine Saeed

„Meine Arbeit mache ich immer mit gutem Gewissen“

Die Wertschätzung

Die Initiative in Gedenken an Oury Jalloh hat keine hierarchischen Strukturen. Wichtige Entscheidungen werden diskutiert und gemeinsam getroffen, das Arbeitsklima ist familiär. „Das hat sich wirklich gut eingespielt. Wir brauchen unsere jeweils ganz verschiedenen Fähigkeiten, da kommt es nicht zu Konkurrenz untereinander.“ Am Rande von Vorträgen erfahre Saeed viel Dankbarkeit von Besucher*innen, gerade wenn diese zum ersten Mal von Oury Jallohs Schicksal hören würden. Auch dass Jallohs Tod mittlerweile die Aufmerksamkeit von Journalist*innen und sogar den Vereinten Nationen bekomme, verbucht sie als Erfolg, der ihr Bestätigung gibt: „Es wächst.“

Die Perspektive

„Ich versuche mein Leben so zu gestalten, dass ich bis zum Lebensende gut und zufrieden lebe, politisch werde ich bleiben. Positiv sein und mit dem Herzen bei der Arbeit sein, das ist auch für die Gesundheit gut.“

Was kaufen Sie sich von unverhofften 100 Euro?

„Eine Reihe von Büchern, die ich für eine Recherche brauche.“

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Wir würden Ihnen hier gerne einen externen Inhalt zeigen. Sie entscheiden, ob sie dieses Element auch sehen wollen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.