„Alberghi diffusi“ in der Schweiz: Still und fast vergessen

Das italienische Konzept, einsame Orte durch „verstreute Hotels“ wiederzubeleben, ist in der Schweiz angekommen. In Corippo soll bald wieder was los sein.

Das Dorf Corippo im Tessiner Verzascatal

Das Dorf Corippo im Tessiner Verzascatal Foto: Daniel Schoenen/imago

Man muss das Dorf Corippo im Tessin erstmal finden. Nach etlichen Zugverspätungen erwische ich gerade noch den letzten Bus, der sich spätabends von Tenero am Lago Maggiore aus auf etlichen Serpentinen in die Höhe schraubt. Nach zwanzig oder dreißig Minuten entlässt er mich an der Haltestelle Corippo Bivio in die nächtliche Dunkelheit. Würde mich nicht mein Gastgeber Jeremy Gehring abholen, müsste ich jetzt mit meinem Gepäck eine unbeleuchtete, kurvenreiche Landstraße hochlaufen.

Im Dorf angekommen, begleitet mich der Wirt in mein Zimmer in einem der Rustici: dicke Wände, niedrige Decke, ein großes Bett, eine kleine Nasszelle. Kein Tisch, kein Stuhl oder Schrank. Alles aus soliden Materialien, geschmackvoll, aber spartanisch. Dafür blicke ich am nächsten Tag von meinem kleinen Balkon in grüne Vegetation und blaue Berge.

Unten ducken sich Häuser aus Granitblöcken unter Dächern aus aufeinandergeschichteten Steinplatten. Stille. Nur unterbrochen durch die häufigen Glockenschläge. Für wen wohl so oft geläutet wird? Früher erfuhren Angiolina, Martino, Siro oder Luigino, die einst in Corippo lebten und nach denen die Hotelzimmer benannt sind, auf diese Weise, wie spät es ist. Als das Dorf noch bis zu 315 Einwohner hatte, Landwirtschaft betrieb, das Leben aber immer schwieriger wurde, sodass viele nach Kalifornien oder Australien auswanderten.

Als 2017 ein paar Italiener auf Youtube ein Video vom Verzascatal posteten, wo sie sich in die smaragdfarbenen Wasserbecken des Gebirgsflusses stürzen, war es mit der Ruhe in dem Tessiner Tal vorbei. Zigtausende kamen am darauffolgenden Wochenende, um „Le Maledive di Milano“ – die Mailänder Malediven, wie sie das kleine Stück Schweiz bei Lavertezzo frecherweise nannten – zu sehen.

Fast ausschließlich Tagestouristen

„Der ganze Ort, alles war zugeparkt“, erinnert sich ein älterer Mann aus dem Dorf. „Es gab ein riesiges Verkehrschaos.“ Mittlerweile hat sich die Aufregung gelegt. Aber an schönen Sommertagen kommen immer noch unzählige Abenteuerlustige, um vom Ponte dei salti, der fotogenen Brücke aus dem 17. Jahrhundert, ins Wasser zu springen, auf den blankgewaschenen Felsen zu chillen und sich dabei von schwäbischen Reisegruppen bestaunen zu lassen.

Immerhin, sollte man meinen, sei dadurch Leben in das entlegene Tal bei Locarno gekommen und für das Auskommen der Einwohner gesorgt. Doch weit gefehlt. Nach Lavertezzo kommen fast ausschließlich Tagestouristen. „Die bringen sich meist ihr Sandwich von zuhause mit, machen ihre Selfies und fahren wieder ab“, sagt Jeremy Gehring, der hier eine Alberghi diffuso betreibt. „An Corippo fahren sie jedenfalls vorbei.“ Dabei gehört das Nachbardorf nicht nur seiner Meinung nach zu den schönsten Dörfern im Verzascatal.

Jeremy Gehring und Désirée Voitle sind Anfang 2022 mit ihrem kleinen Sohn hierherzogen, sie haben damit die Einwohnerzahl um dreißig Prozent erhöht und gleichzeitig den Altersdurchschnitt im überalterten Ort dramatisch gesenkt. Sie sind gekommen, um das erste offizielle Albergo diffuso der Schweiz zu betreiben, das im Frühjahr 2022 eröffnet hat. „Wir wollten schon seit längerem ein Restaurant oder Hotel haben und haben im Radio von dem Projekt gehört“, erklärt der gelernte Schweizer Koch. Er hat bereits in Frankreich, Italien und Peru gearbeitet, während seine aus Lille stammende Frau einschlägige Erfahrungen im Hotelfach mitgebracht hat.

Das Konzept, vom Aussterben bedrohte Orte durch „verstreute Hotels“ oder Herbergen wiederzubeleben, stammt aus Italien. Als es in Friaul ein schweres Erdbeben gab, haben viele Einwohner ihre Dörfer verlassen. Die Häuser verfielen und mit ihnen ein zum Teil beachtliches architektonisches Erbe. Um die Bewohner dazu zu bewegen, die Gebäude wieder aufzubauen, schlug man ihnen vor, Ferienzimmer einzurichten. Damit könnten sie einen Teil der Baukosten finanzieren. Ergänzen sollten sie eine Trattoria, eine Bäckerei oder ein anderes zentrales Gebäude im Ort, wo die Besucher verpflegt werden und gleichzeitig in Kontakt mit den Dorfbewohnern kommen.

Längst gibt es Alberghi diffusi in allen möglichen italienischen Landesteilen. Von den Abruzzen über Umbrien bis Sardinien verteilen sich die Mitgliedsbetriebe der italienischen Vereinigung Associazione Nazionale Alberghi Diffusi (ADI). Sie verbinden den Charme historischer, oft mittelalterlicher Bausubstanz mit einem ganzheitlichen, ressourcenschonenden Tourismus. In ihrer 20-jährigen Erfolgsgeschichte hat die Vereinigung stetig neue Mitgliedern gewonnen. Denn während viele Großstädte aus allen Nähten platzen, hat die Landflucht unzählige Dörfer entvölkert.

Damit verfällt nicht nur das mitunter reiche architektonische Erbe. Auch die Lebensqualität der verbleibenden Menschen wird immer prekärer. Ein Problem, das nicht nur Italien betrifft. Auch in anderen Ländern ist man auf das italienische Modell aufmerksam geworden. Selbst in Japan gibt es ein oder zwei assoziierte Mitglieder der Vereinigung. Außerdem wurden in der Schweiz mehrere solcher Projekte in Angriff genommen. „Allerdings erfüllen nicht alle die Bedingungen, um das Label der Vereinigung zu bekommen“, erklärt Marco Molinari, Präsident der Corippo Stiftung. Wobei der Begriff Albergo diffuso nicht geschützt ist.

Gute Bedingungen in Corippo

Doch dem italienischen Konzept zufolge muss der betreffende Ort nicht nur über eine historisch mehr oder weniger erhaltenswerte Bausubstanz verfügen, sondern auch über eine Osteria, ein Restaurant mit Rezeption, also eine Art Servicezentrum mit Gemeinschaftsräumen, das von den verstreuten Zimmern fußläufig zu erreichen ist. So soll gewährleistet sein, dass Gäste und Dorfbewohner miteinander in Kontakt kommen.

Corippo bot gute Bedingungen dafür. Doch bis es endlich soweit war, zogen etliche Jahre ins Land. Schon 1976 wurde die Fondazione Corippo, die Corippo-Stiftung gegründet, um das Dorf zu erhalten und mit neuem Leben zu füllen. Vorher war es im Europäischen Jahr für Denkmalpflege und Heimatschutz 1975 als historische Siedlung ausgewählt worden, um die Schweiz zu repräsentieren. Mit Kapital vom Bund und dem Kanton Tessin wurden konkrete Projekte wie Abwasseranlagen oder Parkplätze am Ortseingang finanziert – in der Hoffnung, dass sich junge Familien ansiedeln würden. „Aber das haben wir nicht geschafft“, räumt Molinari ein. Stattdessen seien die Einwohner immer älter geworden und weiter abgewandert.

Ende der 1990er Jahre versuchte die Stiftung, aus Corippo ein Reka-Feriendorf zu machen. Doch das Konzept, das einen Ausbau mit einem großen Empfangsgebäude und neuen baulichen Elementen vorsah, wäre nicht mit der architektonischen Tradition vereinbar gewesen und wurde nicht genehmigt. Daraufhin trat der gesamte Stiftungsrat zurück. Nach einer Zeit der Ratlosigkeit kam im neuen Stiftungsrat die Idee eines Albergo diffuso auf und man bemühte sich um Subventionen. Es ging immerhin um eine Investition von rund vier Millionen Schweizer Franken.

Anfahrt Von der Schweizer Grenze, z. B. Basel fährt man in 3,5 oder 4 Stunden über Bellinzona nach Tenero und weiter mit Bus 321 nach Corippo Bivio. Von dort sind es nochmal ca. 25 Fußweg zum Albergo diffuso.

Alberghi diffusi www.alberghidiffusi.it. zur beschrieben Herberge in der Schweiz www.fondazionecorippo.ch, zum Tessin unter www.tessin.ch oder www.myswitzerland.com

Als die Finanzierung stand, begannen 2020 unter der Leitung des inzwischen verstorbenen Architekten Fabio Giacomazzi die Bauarbeiten. Sie verzögerten sich nochmal durch die Pandemie, doch im April 2022 konnte das Albergo diffuso schließlich öffnen. Dafür wurden zwölf Gebäude aufgekauft, zehn Zimmer mit 22 Betten eingerichtet, denen weitere folgen sollen. Die vormals geschlossene Osteria hat man zu einem Restaurant mit Rezeption umgebaut, die alte Mühle und die Steinterrassen restauriert. Doch bei dem ganzheitlichen Konzept geht es auch um die Landschaftspflege.

Marco Molinari erzählt von weiteren Vorhaben. Der Kastanienwald soll wieder hergestellt und Obstbäume gepflanzt werden. „Wir wollen ja auch die Landwirtschaft und die traditionelle Kultur wiederbeleben und einen Produktionszyklus in Gang setzen“, blickt er in die Zukunft. Neben Mais könne man zum Beispiel Roggen pflanzen, der in der alten Mühle zu Mehl gemahlen und danach im restaurierten Backofen zu Brot verarbeitet wird. Außerdem möchte die Stiftung eine private Dörrhütte aufkaufen, um darin wieder Kastanien haltbar zu machen, die zu den traditionellen Nahrungsmitteln der Gegend gehören.

Doch erstmal muss sich das Albergo diffuso bewähren. Nach Aussagen der Betreiber ist es besser angelaufen als erwartet. Viele Schweizer seien durch die Berichterstattung in den Medien neugierig geworden, aber auch Gäste aus Deutschland, Italien, ja sogar eine Familie aus Indien sei gekommen. „Durch die Pandemie wollen einfach immer mehr Menschen Urlaub abseits der Zivilisation machen“, ist Jeremy Gehring überzeugt. „Doch die Herausforderung ist der Winter. Wir wollen ja mehr oder weniger das ganze Jahr offenbleiben, auch um unseren Mitarbeitern Arbeit zu geben“, ergänzt seine Frau.

Wandern, baden, mountainbiken

Und was machen die Gäste in Corippo? „Wandern, baden, Mountainbike fahren, lesen, die Ruhe genießen …“, zählt der Gastronom auf. Ohne sein hervorragendes Essen zu erwähnen, das sicher für viele wichtig ist. Ebenso wie das Postauto, das fast stündlich die übrigen Orte des Verzascatals und Locarno am Lago Maggiore ansteuert. Dabei ist die Benutzung der öffentlichen Verkehrsmittel für Übernachtungsgäste im ganzen Tessin gratis.

So kann ich ohne Auto das wilde Gebirgstal entdecken. Wobei es viel schöner ist, sich zu Fuß auf den Weg zu machen. Ich laufe gleich von Corippo aus los, steige auf dem Wanderweg neben der Verzasca über Lavertezzo nach Brione auf. Hier da und alte Rustici, die typischen Steinhäuser, Wasserfälle, tiefe Schluchten und bizarre Granitfelsen, zwischen denen sich das türkisgrüne Wasser des Gebirgsflusses hindurchschlängelt. Irgendwann komme ich in Sonogno an, dem letzten archaischen Dorf im Tal mit einem gut gemachten kleinen Museum.

Ja, doch: Das Konzept des Albergo diffuso überzeugt mich. Aber was sagen die Anwohner? Manche, höre ich, sind skeptisch. Erst haben sie nicht geglaubt, dass das Projekt, von dem jahrelang geredet wurde, tatsächlich verwirklicht wird. Dann waren sie von den Bauarbeiten genervt. Ein älterer Herr, der vor über einem Jahrzehnt aus Luzern nach Corippo gezogen ist, freut sich indessen, dass er jetzt endlich in der Osteria seinen Wein trinken und so gut essen kann. Aber ob das Albergo diffuso auf Dauer funktioniert, müsse sich noch zeigen. Für den Standard, den die Zimmer bieten, seien die Preise, die bei rund zweihundert Euro beginnen, doch recht hoch. „Ansonsten ist es herrlich hier“, lautet sein Resümée. „Man hat alles, was man braucht. Es gibt ja das Internet und wenn man Kultur will, ist man schnell in Locarno, Lugano oder Mailand.“

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