Alexander Kluge zum 80.: Über die Bordsteinkante der Geschichte

Publizist und Geschichtensammler Alexander Kluge wird 80 Jahre alt. Anmerkungen zu einem der ungewöhnlichsten deutschen Intellektuellen.

Ein kritischer Mensch ist, so Alexander Kluge, "im Grunde ein verdeckter Ermittler". Bild: dpa

Die Lücke, aus der die Fülle der Gedanken quillt

Unglaubliche Geschichten stehen wieder in dem gerade erschienenen Band "Das fünfte Buch. Neue Lebensläufe" (Suhrkamp). Die Lebenserfahrungen, Eindrücke, Recherchen, Familiengeschichten eines jetzt 80-Jährigen, protokolliert in kurzen Texten. Man schmökert, blättert, staunt und erhält einen faszinierenden Eindruck von der Weite und Kompliziertheit der Gedankenbewegungen bis zurück zum Beginn des 20. Jahrhunderts.

Zwischendurch immer wieder Lieblingsgeschichten. Ab Seite 364 berichtet Alexander Kluge von einem Treffen zwischen Adorno und Luhmann im Weinlokal Rheingold. Luhmann hält gerade in Frankfurt sein berühmtes Seminar "Liebe als Passion. Eine Übung"; das stimmt. Adorno hat gerade Sorgen wegen einer Geliebten; das könnte stimmen. Aber so ein Treffen hat sicher nie stattgefunden. Egal. Allein diese Anmerkung: "Die Menschen der Generation Adornos, so Luhmanns Beobachtung, gehen in einem Kokon durch die wirklichen Verhältnisse. Entweder sind sie gepanzerte Charaktere oder, wenn sie schutzlos wie Adorno sind, weil sie auf die Nichtbeachtung der Realität geeicht sind." Ein Gedanke, der ganze Erkenntnishimmel aufreißt!

Und man denkt wie so oft bei Alexander Kluge: Warum traut sich niemand sonst so etwas? Warum gibt es keinen Roman darüber: Frankfurt, bewegte Zeiten, und ein Student erzählt auf der Höhe der Ideen von Seminaren und Liebschaften. Adorno und Luhmann reden abwechselnd wie Naphta und Settembrini auf ihn ein. Toll wäre das!

Die ganze Wildheit des Autors Kluge aber, seine Unerschrockenheit und Wahrnehmungslust, sieht man dann erst 30 Seiten weiter: Da hat Kluge ein Selbstporträt in den Band eingefügt. Mit Schürfwunde auf der Stirn, Blutgerinnseln unter den Augen und einer Armbinde. In Princeton war er über eine Bordsteinkante gestürzt: "Sie sind nach Sitte der Kolonialzeit in Neuengland überhoch gebaut." Schon dieser Satz, lakonisch, Kanzleistil, ist typisch Kluge. Vorher hat er angemerkt: "Bei einer gewissen Überfülle an Eindrücken nehmen meine Augen die Umgebung mit einem Verzögerungsfaktor wahr." Also kein Panzer, keine Nichtbeachtung, aber eine Verzögerung. Vielleicht ist genau das die Lücke, aus der heraus die Überfülle seiner Texte entsteht. Die Eindrücke kommen mit Verzögerung. Und Alexander Kluge sammelt sie alle. DIRK KNIPPHALS

Die Erfahrung bildet Narbengewebe

"Geschichte und Eigensinn." Als 1981 das berühmte Buch von Oskar Negt und Alexander Kluge erschien, war das eine irritierende Erfahrung. Nicht nur wegen der Mischung aus Fragment und Assoziation, mit der die beiden das Buch konstruiert hatten. Oder weil sie ihre voluminöse Geschichtsphilosophie so schön schlicht und untertreibend "Gebrauchsbuch" nannten. In dem sich seltsam provisorisch klingende Weisheiten fanden wie: "Alles wirklich Brauchbare besteht in Aushilfen."

Auch die subjektive Attitüde des Titels klang mehr nach juveniler Renitenz denn nach objektiver Kategorie. Doch Vokabeln wie "Wunschökonomie", "Mikrophysiken der Gegenmacht", "Beziehungsarbeit", vor allem aber das Zauberwort "Produktivkraft Phantasie" eröffneten den Freunden systematischer Gesellschaftsverbesserung ungeahnte neue, weil kulturelle Perspektiven: die nämlich, das heikle Unding "eigene Subjektivität" in das Nachdenken über Geschichte einzubeziehen, ohne bloß sentimental zu werden.

Im Grunde ist der Publizist Alexander Kluge, der heute wie eine schillernde Mischung aus Promi und Prophet herumgereicht und zu allen sieben Welträtseln befragt wird wie einst Heiner Müller, den Prämissen dieses heute immer noch faszinierenden Werks treu geblieben. Denn die Buch gewordene Obsession durch Lebensläufe, der er seit Jahrzehnten frönt, hat zwar viel mit dem literarischen Realismus gemein, für den er 2003 mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnet wurde, doch sie birgt eben auch Realfragmente geschichtlicher Erfahrung: "Leben wird zerstört, Erfahrung bildet Narbengewebe", erklärte er damals in seiner Dankesrede vor der Darmstädter Akademie für Sprache und Dichtung. In Kluge ehren wir einen Treuhänder dieses besonderen historischen Rohstoffs.

Der eröffnet, was Kluge einen "Erzählraum" nennt. Der Zeugnis von der Versehrung gibt, die entsteht, wenn das Subjektive, Kontrafaktische, Antirealistische, das die Menschen ja zuvörderst treibt, auf die objektive Härte der Verhältnisse trifft. Öffentlich gemacht, legt er den Rohstoff der Ungerechtigkeitserfahrung frei, von dem jede Veränderung überhaupt erst ihren Ausgang nehmen kann. Eine fulminante Rückbindung des politischen Denkens an die Lebenswelt der "gewöhnlichen Menschen", von der es nie zu viel geben kann und hinter die es kein Zurück geben darf. INGO AREND

Neugierde ist der Modus Operandi

Was Acid sei, will Alexander Kluge vom Chicagoer House-Produzenten Paul Johnson wissen. Dieser erklärt ihm, dass es eine Bezeichnung für die spezifischen Signaltöne von Acid House ist: tiefe, rudernde Basstöne und schrille, hohe Töne, durch Frequenzen verändert und erzeugt mit der Roland 303-Drum-Machine. "Um Delfine tanzen zu machen?", fragt Kluge weiter. Johnson bejaht. Es ist Spätsommer 1998, der Dialog entspannt sich in einer Folge von Kluges Sendung "News and Stories", die beim Sender Sat.1 läuft. Gebrieft von Thomas Meinecke, war Kluge um diese Zeit in Chicago, befragte Musiker aus der Postrockszene, wie Steve Albini und David Grubbs. Er befragte Houseproduzenten und Stadtplaner, die Krimiautorin Sara Paretzky und die renommierte Literaturprofessorin Miriam Hansen.

Das wirkt bei Kluge, dieser Personifizierung des nutty professors, immer so, als hätte sich ein Marsmännchen ins Privatfernsehen einprogrammiert. Einerseits also unglaublich seltsam, diese näselnde, bohrende Stimme, die Zwischentitel, die getragene Gesprächsatmosphäre. Andererseits Horizont erweiternd: Bei jedem anderen deutschen Intellektuellen dieses Reifegrads würde man abschalten, weil zu befürchten stünde, Kulturpessimismus bricht sich gleich Bahn oder Popkultur würde verballhornt, missverstanden, abqualifiziert. Für Kluge ist alles die gleiche Materie. Er fährt selbst nach Chicago, dreht und macht sich dabei Gedanken über die Architektur der Stadt, die Untertunnelung des Geschäftsviertels "Loop" oder den Demokratisierungseffekt des Katalogs von Sears&Roebuck, einer in Chicago ansässigen Versandhauskette. Auch die Popmusik, die in Chicago entsteht, charakterisiert er sehr zutreffend: "Chicago, eine schnelle Stadt. Inmitten von Abbruch, Schrott und Ausgrenzung ganzer Bevölkerungsteile entsteht die Tanzmusik des 21. Jahrhunderts."

Das ist vor allem überraschend. Und die Überraschung hat Kluge in einem Interview einmal eine "erzählerische Tugend" genannt. Texte müssten seiner Meinung nach Unterscheidungsvermögen herstellen. Das sei ihr zentrales Anliegen. Unterscheidungsvermögen sei in dieser Lesart eine bessere Übersetzung von Kritik. Nicht Arroganz, Neugierde ist der Modus Operandi. Ein kritischer Mensch ist, so Kluge, "im Grunde ein verdeckter Ermittler". Aciiid! JULIAN WEBER

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