An der deutsch-polnischen Grenze: Fliegende Stühle, wüste Flüche

Die großen EM-Stadien sind weit weg, die Niederlage der Polen geht vielen trotzdem nah. Am Ende wird getanzt. Public Viewing in der Grenzstadt Slubice.

Ob Slubice oder Warschau, wie hier auf dem Foto: Die Enttäuschung war riesig. Bild: dapd

SLUBICE taz | An diesem Abend ist halb Slubice auf den Beinen. Die Jugend der polnischen 16.000-Einwohner-Stadt an der Grenze zu Deutschland versammelt sich im Kulturzentrum zum Fußballgucken. Das alte Haus ist heruntergekommen, die Fans stört das wenig. Heute treten die Polen gegen die Tschechen an. Sie müssen siegen, sonst ist es aus.

Der Lärm eines halben Dutzend Tröten ist ohrenbetäubend in dem kleinen Kinoraum. Die Zuschauer schwitzen und grölen. Zwei Polizisten stehen vor der Tür Wache. Die jungen Leute könnten randalieren nach dem Spiel – vor Freunde oder Frust.

Mateusz, Lana und ihre Freunde sitzen in der rot-weißen Menge und trinken schon das fünfte Bier an diesem Abend. „Polska, Polska!“, ruft Mateusz, dann ein unverständliches Gegröle, und ein „Kurva!“ (Hure!) zum Schluss, um das Gejaule zu verstärken. Noch ist alles gut. „Fußball verbindet die Menschen“, sagt Lana im gebrochenen Englisch. „Alkohol auch“, ergänzt Mateusz und holt noch eine Runde Bier für alle.

In der Bar über dem vollem Kinosaal finden sich immer mehr Mittdreißiger ein und Familien mit Kindern. Sie alle wollen das entscheidende Spiel sehen. Bartosz sitzt in der Menge. Er ist Barbesitzer, guckt aber lieber hier das Spiel. Wie viele hier ist auch er kein fanatischer Fußballfan: „Ich musste mal raus aus dem Laden“, sagt er und ordert noch ein Bier bevor das Spiel schließlich beginnt.

Als die Nationalhymne erklingt, erhebt sich hinter Bartosz ein stämmiger Pole mit rot-weißer Perrücke und hält seinen Polska-Schal Richtung der Leinwand. Er grölt die Nationalhymne mit, als ob die Mannschaft in Breslau ihn hören könne, als ob das was helfe.

„Ich will heute patriotisch sein“

Anpfiff. Die erste Halbzeit plätschert ohne große Aufreger dahin. Lana starrt trotzdem gebannt auf den Bildschirm. „Ich will heute patriotisch sein“, sagt die Abiturientin. Die 19-Jährige trägt eine rote Hose und ein weißes Shirt, die Farben der polnische Nationalflagge. Halbzeitpause, Spielstand 0:0, Zeit zu trinken, finden die jungen Zuschauer und stürmen die Bar.

Eine Truppe deutscher Studenten steht ratlos vor dem Kulturzentrum. Drinnen ist es ihnen zu voll und zu laut. Sie suchen einen anderen Ort, um sich die zweite Halbzeit anzugucken. Auf dem Weg zu den anderen Bars werben die kleinen Läden mit ihren Billigangeboten. „Günstige Zigaretten – alle Sorten“, „24 Stunden Alkohol“. Die Straßen sind leer, die Bars sind zu voll. Die Truppe zieht an weiß-rot geschmückten Fenstern vorbei, weiter ins Studentenwohnheim.

Im Gemeinschaftsraum versammelt sich der Pulk vor der Leinwand. Berna, Maren und Martina sind wirklich keine Fußballfans. Aber sie ordnen sich der Euphorie auf der anderen Seite der Grenze bereitwillig unter. Anpfiff zur zweiten Halbzeit. Auch hier lautstarkes Geschrei und Gejubel der Einheimischen. Alkoholisierte Fans versuchen sich lallend an der Nationalhymne „Jeszcze Polska nie zginela!“ („Noch ist Polen nicht verloren!“). Pustekuchen! In der 72. Minute schießt der Tscheche Petr Jiracek das entscheidende Tor. „Kurva!“, tönt es aus allen Ecken. Hinten werfen Zuschauer mit Stühlen. Bier fliegt durch die Luft.

Auch ein Hypnotisieren des Bildschirms bringt nichts. Das Spiel ist vorbei, und Polen ist raus. „Zumindest ein Ausgleich wäre schön gewesen“, sagt die Studentin Martina. „Zwar wäre Polen dann trotzdem nicht weitergekommen, aber zumindest hätten sie das Turnier mit ein bisschen Stolz beendet.“ Es sei schade für das Gastgeberland, findet sie. Der Saal leert sich innerhalb Sekunden. Die Fans sind nicht wütend auf Tschechien. Sie sind enttäuscht von der polnischen Mannschaft.

Frusttrinken und Billard

Die meisten machen sich auf den Weg in andere Bars – Frusttrinken. Berna, Maren und Martina ziehen über die Oder ins nächste Wohnheim nach Frankfurt. Kontrastprogramm. Die Musik ist laut, die Mädchen tanzen in Miniröcken und engen Polska-Shirts. Die Jungs spielen Billard. Sie grölen, lachen, posieren für Fotos. Haben die das Spiel etwa nicht gesehen?

Die tanzenden Studenten kommen aus Argentinien, Spanien, Kroatien. So nah an der Grenze haben sie mit für Polen gefiebert. Genauso haben sie das aber auch für Deutschland getan.

Jetzt ist Fußball nebensächlich. Hauptsache zusammen tanzen und trinken, wenn es sein muss bis zum Morgengrauen. Nur Agnieszka hat keine Lust auf vollen Körpereinsatz. Die Wirtschaftsstudentin sitzt auf einem Tisch und nippt am Dosenbier. Die einzige Gerechtigkeit des Abends für sie: „Zumindest sind die Scheißrussen jetzt auch raus aus dem Turnier.“

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