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Analyse in den BundesländernMehr rechte Gewalt als bekannt

Rechte Gewalt ist auf einem Höchststand in Deutschland. Dabei erkennen die Behörden längst nicht alle Taten, zeigt eine Analyse von Beratungsstellen.

Neonazi-Gruppen wie die „Deutsche Jugend Voran“, hier am Rande des CSD 2025 in Berlin, treten besonders gewalttätig auf Foto: Bernd von Jutrczenka/dpa

Berlin taz | Rechte Gewalt in Deutschland hat bereits offiziell einen besorgniserregenden Höchststand erreicht. Dennoch bildet das bekannte Ausmaß mit einem Anstieg von 17 Prozent auf offiziell 1.500 Gewalttaten im Jahr 2024 nur einen Teil der tatsächlichen Angriffe ab. Das zeigt eine länderspezifische Analyse des Verbands der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt. Demnach erfassen deutsche Behörden rechte Gewalt nur unvollständig. Die Beratungsstellen kritisieren diese systematische Untererfassung und sprechen von einer „Verschleierung“ des wahren Ausmaßes.

Laut einer noch unveröffentlichten Anfrage der Linken verzeichneten die Behörden 2024 die meisten rechtsextremen Gewalttaten pro Einwohner in Mecklenburg-Vorpommern (7,1 Taten pro 100.000 Einwohner), gefolgt von Thüringen (6,3), Hamburg (6,2), Sachsen-Anhalt (5), Brandenburg (4,4), Sachsen (3,1), Bremen (2,6) und Berlin (2,4).

Die Beratungsstellen verglichen die länderspezifischen Angaben des Bundeskriminalamtes und der Landeskriminalämter mit dem eigenen Monitoring und beleuchteten so das Dunkelfeld, also den Teil rechter, rassistischer oder antisemitischer Straftaten, der behördlich nicht als solche erfasst wird.

Aus Sicht der Opferberatungsstellen ergibt sich so ein deutlich anderes Bild: So führe Berlin das traurige Ranking mit rund 10 rechten Gewalttaten pro 100.000 Einwohnern an, gefolgt von Hamburg (9,5), Sachsen-Anhalt (8,3), Mecklenburg-Vorpommern (6,6), Brandenburg (6), Thüringen (5,8) und Sachsen (5,2).

Untererfassung in westdeutschen Flächenländern

Besonders groß sei die Diskrepanz zu den offiziellen Zahlen des Bundeskriminalamtes in den westdeutschen Flächenländern und den Stadtstaaten. In NRW etwa hätte die Polizei 154 rechte Gewalttaten gezählt, die Opferberatungsstellen Rheinland und BackUp hätten hingegen 294 Gewalttaten dokumentiert, darunter vier Tötungsdelikte, vier versuchte Tötungen und 12 Brandanschläge.

In den Polizeistatistiken fehlten etwa der rassistisch motivierte Brandanschlag im März 2024 in Solingen sowie der Angriff eines AfD-Kommunalpolitikers, der bei einem Parteitag in Essen einen Demonstranten in die Wade gebissen hatte. Dass diese Fälle trotz eindeutiger Hinweise auf ein rechtes Tatmotiv nicht in der Polizeistatistik auftauchten, sei „mehr als ein bloßes Erfassungsdefizit“, kritisierte Fabian Reker von der Opferberatung Rheinland. „Für die Betroffenen bedeutet es Unsichtbarkeit und Entwertung ihrer Erfahrungen.“

Auch in Bayern fehlen 45 angezeigte Gewalttaten in der Statistik, darunter ein homofeindlicher Messerangriff, der trotz queerfeindlichem Motiv nicht als rechte Gewalt erfasst wurde.

Thüringen ist wiederum ein Sonderfall – hier hat das BKA sogar mehr Fälle gemeldet, als den Beratungsstellen bekannt sind, wie Franz Zobel vom Verein Ezra sagte: Zu 206 bekannten Fällen kämen noch einmal 79 Fälle hinzu, was natürlich kein Anlass zur Entwarnung ist, im Gegenteil: „Rechte Gewalt entwickelt sich im Freistaat Thüringen zu einem Massenphänomen“, so Zobel.

Einen deutlichen Anstieg verzeichnet auch Hamburg. Die dortige Beratungsstelle Empower teilte mit: „Die Anzahl der rechten Körperverletzungen hat sich 2024 in Hamburg verdoppelt. Diese Taten sind Botschaftstaten, die Verunsicherung und Bedrohung verbreiten.„Das tatsächliche Ausmaß werde durch die offizielle Statistik nur unzureichend abgebildet. Ähnlich sieht das auch die Beratungsstelle Lobbi in Mecklenburg-Vorpommern, die davon spricht, dass rechte Gewalt und rassistischer Alltag unsichtbar gemacht würden, wenn Pressestellen der Polizei sie verschwiegen: „Wir haben noch immer nicht den Eindruck, dass auf der untersten Ebene der Ermittlungsbehörden die Aufnahme von Anhaltspunkten für ein rassistisches Tatmotiv zuverlässig erfolgt.“

Gewaltfaktor Landtagswahl

Die Beratungsstellen fordern entsprechend regelmäßige Fallabgleiche zwischen Ermittlungsbehörden und Opferberatungsstellen. „Das reale Ausmaß rechter Gewalt ist weitaus größer als bislang erfasst. Für Betroffene hat das unmittelbare Folgen für ihr Sicherheitsgefühl – und für die gesamte Gesellschaft bedeutet es, dass Bedrohungen nicht in ihrem vollen Umfang sichtbar werden“, teilt der Dachverband der Beratungsstellen mit.

Besonders mit Blick auf die Landtagswahlen in Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt 2026 warnen die Beratungsstellen vor einem weiteren Anstieg und sprechen von einer „Ausweitung der Gefahrenzone“. Die Zahlen des Superwahljahres 2024 zeigten, dass in Bundesländern mit besonders hohen Zustimmungswerten für die extrem rechte AfD die Angriffe erheblich zugenommen hätten – auf Po­li­ti­ke­r*in­nen demokratischer Parteien, Engagierte, migrantisierte Betroffene und Geflüchtete.

Die Antwort auf die Linken-Anfrage im Bundestag zeigt unterdessen, dass es laut Behördenzahlen nach Bundesländern 2024 vor allem im Osten im Verhältnis zur Einwohnerzahl am häufigsten zu rechten Straftaten kommt, wenn man nicht nur Gewalt, sondern auch Volksverhetzung, Propagandadelikte und Beleidigungen einrechnet. Besonders hoch liegen die offiziellen Zahlen in Brandenburg (142 Taten pro 100.000 Einwohner*innen), Mecklenburg-Vorpommern (139), Sachsen-Anhalt (137), Thüringen (135) und Sachsen (104).

Danach folgen Berlin (76), Hamburg (73), Bremen (57), Saarland (54), Schleswig-Holstein (51), Niedersachsen (45), Hessen (38), Rheinland-Pfalz (36), Baden-Württemberg (33), Nordrhein-Westfalen (31) und Bayern (27). Über die Anfrage hatte auch das Portal t-online bereits berichtet. Insgesamt stiegen die offiziell erfassten rechte Straftaten auf insgesamt 43.000 Taten im Jahr 2024, ein Anstieg von 48 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Demnach erfasst die Polizei alle 12 Minuten eine rechtsextreme Straftat.

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1 Kommentar

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  • Kann es denn sein, dass man die wirklichen Zahlen nicht gar publik machen möchte? Wenn schon die Brandstiftung in einer Flüchtlingsunterkunft eben NICHT als rechtsradikal eingestuft wird, dann wird die folgerichtige Antwort auf diese Frage schon fast zur Gewissheit, zumal viele Indizien im Umfeld der Täter genau dieses Tatmotiv geradezu herausschreien....