Angebliche Einserschwemme beim Abi: Die komplett falsche Debatte
Wieder soll es Abiturient:innen geben, die am Ende ihrer Schulzeit ein leicht verdientes Zeugnis bekommen haben. Das ist so falsch wie fatal.
F ür Schüler:innen ist das Ende des Schuljahrs meist ein Grund zum Feiern – für den Rest der Bevölkerung leider nicht. Daran sind auch die unvermeidlichen Bullshitdebatten schuld, die pünktlich zu den Sommerferien losgetreten werden: etwa wenn sich die nordrhein-westfälische Schulministerin über die unverdienten bajuwarischen Privilegien der späten Ferienzeiten beschwert – aber gleichzeitig das Einstimmigkeitsprinzip in der Kultusministerkonferenz mitträgt, das jede Änderung verhindert.
Gänzlich sinnbefreit ist, wie Lehrer:innenverbände und Unionspolitiker:innen aktuell wieder mal das Ende des Leistungsprinzips beklagen, weil aus ihrer Sicht zu viele Abiturient:innen eine Topnote geschafft haben. Zunächst ein kleiner Faktencheck für die Früher-war-alles-besser-Fraktion: Für eine „Flut an Einser-Abis“, wie sie Stefan Düll, Präsident des Deutschen Lehrerverbands, gerade wieder beklagt, gibt es schlicht keine Datengrundlage. In manchen Ländern wie Bayern oder Hessen gibt es in diesem Jahr zwar wieder mehr 1,0-Schnitte – in anderen wie Sachsen oder Niedersachsen aber nicht. Und wenn mehrere Ministerien öffentlich widersprechen, wäre das eigentlich ein guter Moment, die eigene Argumentationskette zu reflektieren.
Aber selbst wenn Düll recht hätte mit seiner Behauptung, wäre die Aufregung irritierend. Ein Schulsystem, das Jahr um Jahr 50.000 Abbrecher:innen produziert und das Nichtakademikerkinder systematisch gleiche Bildungschancen verwehrt, hat ein ganz anderes Leistungsproblem als das der Benotung guter oder sehr guter Gymnasiast:innen. Es wäre schön, wenn der Verband diese Missstände mit der gleichen Verve anprangerte.

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Dazu gehört auch die Frage, warum sich Deutschland als nahezu einziges westliches Industrieland noch die frühe Verteilung in Gymnasien und andere Schulformen leistet – obwohl längst nachgewiesen ist, wie sehr das die Chancenungleichheit im Land zementiert. Diese Frage ist dringlich. Ob den ohnehin privilegierteren Schüler:innen beim Abitur möglicherweise noch was „geschenkt“ wird, nicht.
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