„Angekommen – Flüchtlinge erzählen“: Heißer Kopf, kaltes Herz

Der erste Satz, den wir auf Deutsch gelernt hatten, war: „Wir sind eine Familie. Wir sind Schwule.“ Das neue Leben, es kommt in kleinen Schritten.

Polizisten halten Menschen gewaltsam fest, sie hocken auf dem Boden

Anders sein in Russland wird nicht goutiert: Eine Schwulenparade wurde 2009 gewaltsam aufgelöst. Foto: dpa

Nachts um drei im Dezember 2014 auf dem leeren Bahnhof von Gießen: Neben mir sitzt mein wichtigster Mensch auf Erden, er ist heiß, wie ein Ofen und kriegt keine Luft. Ich kann ihm nicht helfen. Gerade sind wir aus einem Flüchtlingslager geworfen worden. Mit den Worten: „Nun lebt ihr in Bad Homburg und habt hier nichts mehr zu suchen.“

Kurz davor war ich mit Sascha aus Russland nach Deutschland geflohen. Wir strandeten in Gießen. In einem umzäunten Lager. Wache, Kontrollen, Alkoholverbot. Trotzdem besoffen sich die Insassen allabendlich und grölten nächtelang Lieder.

Das Lager war überfüllt. Mehr als ein Dutzend Menschen übernachteten in einem Zimmer. Die Aufteilung verlief nach religiöser Zugehörigkeit. Sexuelle Orientierung war kein Thema. Der erste Satz, den wir auf Deutsch gelernt hatten, war: „Wir sind eine Familie. Wir sind Schwule.“ Diesmal funktionierte er nicht. Wir wurden in einem Zimmer zusammen mit zwei Flüchtlingen aus Russland untergebracht – Heteros und Muslime. Zum Glück verlief alles friedlich, weil sie genauso wie wir einem Land entflohen waren, wo Menschenrechte nur Luftblasen waren. In solchen Situationen versuchen die Menschen, Gemeinsamkeiten zu entdecken, statt Unterschiede.

Aus Erzählungen wussten wir: Es hätte auch anders kommen können. Viele Homos aus Russland werden in Flüchtlingsheimen überfallen oder sogar vergewaltigt. Es gibt welche, die ihre Orientierung verschweigen. Oft rieten Sozialmitarbeiter, unsere Beziehung nicht zu zeigen. Das war unser erster Kulturschock. Wir hatten ja gerade ein Land verlassen, wo man das auch von uns forderte und viele nach unserem Tod lechzten.

Der Alltag im Heim war kein Zuckerschlecken. Eine Mensa für 5.000 Bewohner mit Schlangestehen, Rangeleien, Zwist. Gleich am ersten Tag versuchte ich ein paar Frechlinge, die sich vorgedrängt hatten, zurechtzuweisen und wurde daraufhin bedroht. Nachts wurden wir regelmäßig von Feuerwehrsirenen geweckt, weil jemand rauchte oder aus Langeweile Alarm auslöste. Hochschrecken, etwas überziehen, raus auf die Straße.

Der Wächter war unnachgiebig

In einer solcher Nacht Anfang Dezember erkältete sich Sascha. Wir hatten gerade die Erlaubnis erhalten, zu einem Anwaltstermin nach Berlin zu fahren, als am Freitag davor, eine halbe Stunde vor Schließung der Verwaltung eine neue Liste ausgehängt von Leuten, die umziehen sollten. Unsere Namen standen darauf. Leider sollte der Transfer an dem Tag sein, wo wir beim Anwalt in Berlin hätten sein sollen. Wir rannten in die Verwaltung. Der Wächter war unnachgiebig. Bis Montag war im Heim alles dicht.

Vor Aufregung schnellte Saschas Fieber hoch. Am Wochenende hatte im Lager kein Arzt Dienst. Uns war klar, wenn Sascha ins Krankenhaus käme, würden wir weder den Anwaltstermin schaffen noch den Transfer nach Bad Homburg, so hieß unser Zielort. Ich holte Medikamente in der Stadt und verbrachte das Wochenende damit, die acht Treppen zwischen unserem Zimmer und der winzigen Küche hin und her zu flitzen. Dort stand der einzige Wasserkocher für 1.500 Bewohner.

Auf der Rückfahrt aus Berlin hatte Sascha hohes Fieber und redete wirr. Mir war klar, dass er zum Arzt sollte, aber auch dass wir unsere medizinische Versichertenkarten erst nach der Transfer nach Bad Homburg bekommen würden.

In einer 16-teiligen Serie haben wir Flüchtlinge gebeten, uns das zu erzählen, was ihnen jetzt gerade wichtig ist. Wie erleben sie Deutschland, worauf hoffen sie, wie sieht ihr Alltag aus? In ihren Ländern waren sie Journalisten, Autoren, Künstler. Sie mussten Syrien verlassen, Russland, Aserbaidschan oder Libyen. Jetzt sind sie in Deutschland. Was sie zu sagen haben, lesen Sie im Oktober täglich auf taz.de. Alle Geschichten gebündelt gibt es in der taz.am wochenende vom 2./3./4. Oktober, erhältlich am eKiosk.

Todmüde kamen wir im Lager an. Auf unseren Betten schnarchte schon jemand anderes. Wir packten unsere Sachen. Ich bat die Wächter, meinem kranken Freund für ein paar Stunden irgendein Bett zur Verfügung zu stellen, er sagte, das Lager sei nicht mehr zuständig für uns.

So landeten wir nachts auf dem Gießener Bahnhof. Um vier bekamen wir Gesellschaft. Eine Frau, die Englisch sprach und uns geduldig zeigte, wie man Tickets am Automaten kauft. Sie bleibt für mich für immer ein Symbol für die offenen und hilfsbereiten Deutschen. Mit jedem Monat unseres Aufenthalts kamen neue solche Menschen hinzu.

Gleich am ersten Tag in Bad Homburg bekamen wir Versichertenkarten. Sascha hatte Bronchitis, aber nach ein paar Tagen Behandlung wurde er wieder fit.

Mittlerweile sind wir bereits ein Jahr in Deutschland. Aber noch immer warten wir auf den Termin, wo man uns nach den Gründen für unseren Asylantrag befragt. Die Ungewissheit geht mit der Einschränkung unserer Rechte auf Arbeit, auf Wohnung oder auch Arztbesuche einher. Aber wir wissen ganz genau, dass diese Schwierigkeiten nicht von Dauer sein werden. Hauptsache, wir sind dabei, in kleinen Schritten ein neues Leben zu erproben. Eines, wo uns keiner mehr sagen kann, dass wir es nicht wert sind zu leben.

Aus dem Russischen übersetzt von Irina Serdyuk

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Die Person: Der 29 jährige TV-Journalist aus St. Peters­burg drehte Reportagen über die eingeschränkten Menschenrechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgender (LGBT) in Russland und wurde Zielscheibe aggressiver Homophober. Ende 2014 beantragte er mit seinem Partner Asyl in Deutschland.

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