Angela Merkel bei Anne Will: Optimismus ist ein Holunderbonbon

Mehr Gerechtigkeit – ist das zu schaffen? Die Kanzlerin gibt sich optimistisch und steht zu ihren humanistischen Überzeugungen. Wie irritierend.

Eine dunkelhaarige Frau sitzt in einem Sessel, neben ihr auf einem Sessel Angela Merkel

„Wir schaffen das. Da bin ich ganz fest von überzeugt“, sagte Merkel auch wieder bei Anne Will. Foto: Michael Kappeler/dpa

Fast hätte die Autorin dieses Textes den Beginn der Supermerkel-Krisentalkshow verpasst. Auf ihrem Heimweg nämlich hatte sie in der S-Bahn eine Gruppe Flüchtlinge getroffen: drei Erwachsene, die mit sauber bestempelten Papieren und ihren sechs Kindern durch Berlin geirrt waren. Zu später Stunde stapfte also die Autorin mit der kleinen Karawane durch Brandenburg, um sie am Ende in einer ehemaligen Kaserne einem zweifellos netten, aber völlig überforderten Sicherheitsmann zu übergeben.

Er sprach zwar kein Wort Englisch, war sich aber andererseits ganz sicher, dass mit diesen sechs erschöpften Kindern, der hochschwangeren Frau und den beiden bartschattigen Männern gerade ein Riesenproblem vor ihm aufgetaucht war. „Die kommen alle in die Turnhalle, sagen Sie denen das!“ Und dass er gerade gar nicht wisse, ob noch Bettwäsche vorrätig sei.

Es dauerte deshalb also alles ein bisschen länger, bis die Autorin hin und her übersetzt hatte, bis sie für die übermüdeten Kinder ein paar Holunderbonbons aus der Tasche gekramt und bis sie dem Sicherheitsmann das feste Versprechen abgenommen hatte, diese Leute auf keinen Fall wieder wegzuschicken. Ansonsten: hier meine Telefonnummer. Sie schaffen das doch, oder? „Klar, ich schick doch die kleenen Dinger nicht in die Nacht.“

Um Punkt Viertel vor zehn also sank die Autorin in ihren Fernsehsessel, auf den Knien ihren Laptop, neben sich ein Glas Wein, in sich ein ganz maues Gefühl. Das Thema, zu dem sich die Kanzlerin bei Anne Will jetzt gleich äußern würde, die Frage der Unterbringung von Hunderttausenden Flüchtlingen – ist dieses Problem überhaupt zu bewältigen?

Schwangerschaftsyoga und dunkle Turnhallen

Die neun Menschen, die jetzt gerade hoffentlich ihre Bettdecken bezogen, hatten wenigstens ein festes Dach über dem Kopf. Aber war das menschenwürdig? Für eine Schwangere? Für kleine Kinder, die Platz und Licht brauchen? In einem Land, in dem Frauen Schwangerschaftsyoga machen und Kinder in ökologisch sanierte Kitas gehen? Mehr Gerechtigkeit – ist so was zu schaffen?

Angela Merkel war dann deutlich optimistischer. „Wir schaffen das. Da bin ich ganz fest von überzeugt“, sagte die Kanzlerin. „Stellen Sie sich vor, wir sagen, wir schaffen das nicht“, stellte sie Anne Will die Gegenfrage. „Und dann? Optimismus und innere Gewissheit – so gehe ich da ran.“ Man spürte: Das meinte sie tatsächlich so. Angela Merkel kommt nicht umsonst aus einem Pfarrershaus. Ihre Sätze hatten zweifellos etwas Bekenntnishaftes. Macht mit mir, was ihr wollt – ich kann nicht anders.

So erfreulich es ist, dieser Regierungschefin dabei zuzusehen, wie sie vor einem Millionenpublikum zu ihren humanistischen Überzeugungen steht – so irritierend ist das auch. Noch nie, das spürt man, war die Kanzlerin so weit entfernt von ihrer Partei. Von deren zwar christlichen, gleichwohl im nun eingetretenen Bewährungsfall kühl besitzstandswahrenden Grundsätzen: Hilfe gern, aber nur solange sich nichts an unserem Leben ändert. Das kann Angela Merkel nicht mehr versprechen.

Entfremdung und der endgültige Bruch

Und genau das könnte zu Entfremdung und zum endgültigen Bruch führen. Man kennt das. Nachdem der SPD-Kanzler Gerhard Schröder 2003 mit der Agenda 2010 Maßnahmen fernab vom sozialdemokratischen Selbstverständnis verkündet hatte, kündigte ihm seine Partei die Gefolgschaft. Zwei Jahre später war Angela Merkel Regierungschefin.

Als Anne Will Merkel also fragt, ob sie ihre Kanzlerschaft mit der Flüchtlingsfrage verknüpfe, antwortete sie: „Ich werbe für meinen Weg.“ Und dass sie bereit ist, für die Lösung des Flüchtlingsproblems zu kämpfen, „wie ich es nur kann“. Flüchtlinge, jeder einzelne von ihnen, sind für sie „Menschen, die ihre Heimat bestimmt nicht leichtfertig verlassen haben“.

Am Morgen nach der Supermerkel-Krisentalkshow wachen sechs Kinder in einer Brandenburger Sporthalle auf. Mehr ist gerade nicht drin. Aber es ist: ein Anfang.

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