Antje Kosemund über die Ermordung ihrer Schwester: „Ich sehe dieses Kind im Bettchen sitzen“

Am Anfang standen Zweifel am Totenschein des kleinen Mädchens. Dann zeigte sich: Irma war Opfer nationalsozialistischer „Euthanasie“.

"Wenn es heute passiert wäre, könnte Irma in einer betreuten Wohngruppe leben": Antje Kosemund. Bild: Miguel Ferraz

taz: Frau Kosemund, wie oft wurde in der Familie noch von Ihrer Schwester Irma gesprochen, nachdem sie weggebracht worden war?

Antje Kosemund: Selten. Wir waren eine große Familie, meine Mutter ist schon 1941 gestorben, und nach Irma waren noch fünf Kinder geboren. Meine Mutter hatte immer Babys und war immer krank. Das ist etwas, was mich bei meinen Nachforschungen später sehr belastet hat: Irma ist vergessen worden in der Familie. Man darf auch die Zeit nicht vergessen, wir waren in großen wirtschaftlichen Schwierigkeiten.

Wie hat Ihre Familie gelebt?

Mein Vater ist 1933 von der Staatspolizei in Haft genommen worden, nach einer nächtlichen Hausdurchsuchung, das ist eine meiner ersten Erinnerungen als Kleinkind, ich war viereinhalb Jahre alt. Er war Mitglied des antifaschistischen Kampfbundes und ist während der Haftzeit aus seinem Beruf entlassen worden. Er hatte fast drei Jahre praktisch Berufsverbot und das bei neun Kindern.

Was sind Ihre Erinnerungen an Irma?

Sie war fünfzehn Monate jünger als ich. Trotz der Armut wurde in unserer Familie viel musiziert und ich sehe dieses Kind im Bettchen sitzen und mit ihrer Hand den Takt schlagen. Soweit ich das beurteilen kann, hat sie sich in der Familie wohlgefühlt, sie wurde hauptsächlich von meiner zweitältesten Schwester betreut, die damals zwölf Jahre alt war. Ich habe im Laufe meiner Nachforschungen die ganzen Unterlagen von der damaligen Familienfürsorge bekommen und daraus habe ich ersehen können, dass eine Nachbarin uns denunziert und gemeldet hat, dass es in unserer Familie ein Kind gebe, das nicht normal sei.

Konnte man sich wehren?

Das war sehr schwierig. Die Familien wurden sehr unter Druck gesetzt, dazu kam, dass mein Vater unter Beobachtung der Gestapo stand. Es kam eine Fürsorgerin und in den Unterlagen stand: Frau Sperling – das war meine Mutter – weigert sich, das Kind zu zeigen. Das war beim ersten Besuch, also meine Mutter wusste, was los war. Dann musste meine Mutter wieder mal ins Krankenhaus, dann kam wieder die Fürsorgerin, dann musste Irma einem Psychiater vorgestellt werden, der ein furchtbares Gutachten erstellt hat, in dem nicht einmal ihr Äußeres richtig beschrieben war.

85, war mehr als 20 Jahre lang im Landesvorstand Hamburg der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes - Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten. Als Zeitzeugin besucht sie Schulen und Jugendorganisationen und setzt sich für ein würdiges Erinnern an die Opfer der NS-"Euthanasie" ein. Außerdem hält sie Vorlesungen am Hamburger Institut für Geschichte und Ethik der Medizin. 2013 erhielt sie das Bundesverdienstkreuz.

Sie hat die Geschichte ihrer Schwester Irma erforscht, die zunächst in die "Alsterdorfer Anstalten", eine der größten evangelischen Behinderteneinrichtungen Deutschlands, eingewiesen wurde - Befund im August 1933: "Schwachsinn". Später wurde sie in einer psychiatrischen Klinik in Wien ermordet. In Hamburg-Alsterdorf heißt heute eine Straße nach ihr: der Irma-Sperling-Weg.

Irma kam Ende 1933 in die evangelischen „Alsterdorfer Anstalten“. War sie krank?

Ich nehme an – und das bestätigen Ärzte, mit denen ich mich im Laufe der Jahre unterhalten habe –, dass Irma ein Kind war, das in seiner Entwicklung zurückgeblieben war. Meine Mutter hatte während der Schwangerschaft eine Viruserkrankung, und es kann sein, dass Irma dadurch diese Behinderung hatte. Sie hat spät laufen und sprechen gelernt, ist aber in der Klinik, in den Alsterdorfer Anstalten, zunehmend auch widerständig gewesen, hat sich gegen Festhalten gewehrt, dann hieß es, das Kind bekommt Wutanfälle. Ich denke, wenn es heute passiert wäre, könnte Irma in einer betreuten Wohngruppe leben und würde auch bestimmte schulische Leistungen erreichen.

Welche Kinder wurden damals in die Kliniken eingewiesen?

Ich habe mit vielen Überlebenden gesprochen, die zum Teil überhaupt nicht erkrankt waren, sondern aus sozialen Gründen in die Psychiatrie kamen. Das war etwa das siebte oder zehnte Kind einer sozial schwachen Familie, das haben sie nicht in ein Kinderheim gebracht, sondern einfach in die Psychiatrie gesteckt. Ich habe mit einem gesprochen, Wilhelm Roggenthien, der 20 Jahre in der Psychiatrie war, nie krank, erst da ist er reduziert worden auf ein niedriges Bildungs- und Wissensniveau. Ein ganz kluger Mann, dessen Freundin auch nicht krank war, sondern als knapp 16-Jährige ein uneheliches Kind bekam, wahrscheinlich von dem Mann ihrer Herrschaft, und dann auch in die Psychiatrie kam. Diese Frau, Walli, ist mit ihrem Kind mit dem gleichen Transport nach Wien deportiert worden wie Irma, und ihr Freund Wilhelm ist in Alsterdorf ausgerissen, hat sich nach Wien durchgeschlagen und seine Freundin aus der Anstalt herausgeholt.

Wann kam Ihnen zum ersten Mal der Gedanke, dass Irma ermordet worden ist?

Das muss 1982 gewesen sein, mein Vater war 87, 88 Jahre alt. Er wollte sein Haus aufgeben und in eine Senioreneinrichtung ziehen. Dann hat er mich gebeten, alte Familiendokumente zu ordnen und da habe ich zum ersten Mal Irmas Sterbeurkunde gesehen. Irmas Todesdatum war der 8. Januar 1944 und die Urkunde ist am 4. Januar 1945 ausgestellt. Da war mir sehr schnell klar, da stimmt etwas nicht, zumal die Todesursache: Grippe, Lungenentzündung und etwas, was mir sehr merkwürdige vorkam: angeborene zerebrale Kinderlähmung. Das gibt es überhaupt nicht.

Sie hielten diese Sterbeurkunde erst spät in der Hand.

Irma war fast vergessen. Ich hatte versucht, mit meinem Vater darüber zu sprechen, aber der wollte über diese Zeit nicht mehr reden. Und was soll man einen so alten Mann damit quälen? Ich habe dann auf eigene Faust geforscht, bin von einem Freund von der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes unterstützt worden, der gerade eine Ausstellung zur Euthanasie in Hamburg – ich sage: sogenannte Euthanasie – vorbereitet. Da habe ich Irmas Namen auf der Transportliste für die Deportation in eine psychiatrische Klinik in Wien gefunden. Dann habe ich an die Alsterdorfer Anstalten und an die Klinik in Wien geschrieben.

Über das Thema ist sehr lange geschwiegen worden.

Natürlich – solange die Täter noch lebten. Die haben zum größten Teil Karriere gemacht, wie bei den Juristen und Politikern auch. Etwa Dr. Kreyenberg, Oberarzt in Alsterdorf, der geglaubt hat, er kann mit aggressiven Röntgenbestrahlungen geistige Behinderung heilen, und die Menschen damit verbrannt hat. Er gehörte bis ins hohe Alter zur Hamburger Gesellschaft. Oder Dr. Struwe, der im Nazi-Senat Direktor war, der für die Transporte und Durchführung verantwortlich war, nach der Befreiung in die SPD eintrat und wieder Senatsdirektor wurde.

Sind Sie bei Ihren Nachforschungen auf Widerstand gestoßen?

In Alsterdorf überhaupt nicht, dort traf ich Michael Wunder, der die Euthanasie-Geschichte der Anstalt aufgearbeitet hat. Ohne ihn hätte ich es nicht geschafft, ich war damals am Rande einer Depression. Aus der Klinik in Wien bekam ich erst einmal eine Antwort, ja, Irma sei da gewesen, es gebe aber keine Krankenakte mehr und laut Friedhofsordnung sei das Grab nach 20 Jahren aufgelassen worden. Das war alles gelogen, aber ich habe dem Herrn Professor geglaubt – und damit waren die Nachforschungen erst einmal am Ende.

Aber es ging weiter?

Es war einer dieser seltsamen Zufälle: Ich war bei der Familie meiner Tochter in Österreich und sah zufällig eine Sendung, in der ein Professor Neugebauer auftauchte, Leiter des Dokumentationszentrums des österreichischen Widerstandes. Der erzählte, dass es im Keller der Pathologie der früheren Psychiatrischen Klinik „Am Steinhof“, einer der großen Mordstätten während der Nazizeit, einen Gedenkraum gebe. Nun wolle die Anstalt den Gedenkraum umwidmen zu einem Museum. In diesem Kellerraum waren Hunderte Gläser mit Gehirnen und anderen Überresten von Euthanasie-Opfern. Auch das Gehirn meiner Schwester stand in einem dieser Gläser. Für mich war sofort klar: Das kommt nicht infrage. Diese Überreste müssen beerdigt werden.

Das haben Sie schließlich erreicht.

Es war ein sehr langer Kampf. Anfang 1995 habe ich die ersten Briefe geschrieben, es ging lange hin und her mit verschiedenen Stellen. Als mir das alles zu bunt wurde, habe ich an die Ministerin für Gesundheit geschrieben und gefordert, dass das Gehirn meiner Schwester und die Überreste anderer Hamburger Euthanasie-Opfer in Hamburg beerdigt werden. Ich habe den Brief in Kopie an den Bundespräsidenten und den Bundeskanzler geschickt. Da hat sich plötzlich etwas bewegt. Am 8. Mai, dem Tag der Befreiung von Krieg und Faschismus, haben wir zehn Urnen auf dem Ehrenfeld der Geschwister-Scholl-Stiftung auf dem Ohlsdorfer Friedhof beerdigt.

Haben Sie jemals die Spur der Nachbarin verfolgt, die Ihre Familie damals denunziert hat?

Können Sie sich vorstellen, wie viel Kraft diese Arbeit kostet? Mich interessieren die Opfer, nicht die Täter.

Die Ausstellung „’Euthanasie‘. Die Morde an Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen in Hamburg im Nationalsozialismus“ ist noch bis zum 7. Februar im Hamburger Rathaus zu sehen. Begleitprogramm unter
Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.