Appell an die EU-Wirtschaftsregierung: Der Weg aus der Krise

Der Euro ist nicht mehr zu retten. Außer mit einer gemeinsamen Wirtschaftsregierung der EU, die demokratisch legitimiert ist. Ein Appell von Romani Prodi, Daniel Cohn-Bendit, Jaques Attali und anderen.

Mit einer gemeinsamen Euro-Regierung nicht mehr nötig: Euro-Rettungsschirme. Bild: kallejipp / photocase.com

Ein weiterer Schritt in Richtung der europäischen Integration ist jetzt notwendig, um zu verhindern, dass die Länder der Eurozone in den kommenden Monaten oder Jahren von einer politischen und sozialen Krise größeren Ausmaßes ergriffen werden.

Die aktuelle Krise der Eurozone hat in Wirklichkeit nicht erst mit der griechischen Krise begonnen, sondern bereits viel früher, und zwar mit der Errichtung einer Währungsunion ohne Wirtschafts-, Fiskal- und Haushaltsunion. Zweifelsohne ist die Staatsverschuldung innerhalb der letzten 30 Jahre regelrecht explodiert, aber die Hauptursache der Probleme ist anderswo zu suchen. Die aktuelle Situation ist das Resultat von Ungleichgewichten zwischen den Ländern der Eurozone.

Auf der einen Seite steht die Gruppe der nördlichen Länder, allen voran Deutschland, die ihre Volkswirtschaften auf Wettbewerbsfähigkeit und Exportorientierung getrimmt haben. Auf der anderen Seite haben wir die Länder der Peripherie, die ihrerseits auf niedrige Zinsen gesetzt haben, um die Binnennachfrage anzukurbeln und deren Wirtschaft auf Gütern basiert, die nicht in den Export gehen und somit wie die Immobilien- und Bauwirtschaft der internationalen Konkurrenz weniger stark ausgesetzt sind.

Initiator: Angestoßen wurde der Appell von Vertretern der Europäischen Bewegung International (EMI). Ihr Präsident ist seit 2011 der deutsche Europaparlamentarier Jo Leinen (SPD). Die bereits kurz nach dem Zweiten Weltkrieg gegründete EMI versteht sich als überparteiliches Netzwerk.

Vorläufer: Nach einem ersten Appell vom März 2012 zur institutionellen Erneuerung Europas in der Krise melden sich jetzt Politiker und Intellektuelle aus Italien, Frankreich, Deutschland, Spanien und anderen Ländern der EU zu Wort, um auch im Gefolge der französischen Präsidentschaftswahlen einen Kurswechsel in der Bekämpfung der Krise in der Eurozone zu fordern.

Der Appell: Das Thesenpapier der EMI erscheint parallel in Le Monde (Frankreich), im Corriere della Sera (Italien) und in der taz.

Die Unterzeichner:

Giuliano Amato (früherer italienischer Ministerpräsident)

Jacques Attali (F, Ökonom, früher Berater des Präsidenten François Mitterrand)

Enrique Baron Crespo (spanischer MdEP und Expräsident des EP)

Emma Bonino (1995–99 EU-Kommissarin, heute Vizepräsidentin des ital. Senats)

Daniel Cohn-Bendit (F/D, Kovorsitzender der Grünen im EP)

Piervirgilio Dastoli (Präsident des ital. Rats der Europäischen Bewegung)

Monica Frassoni (I, 1999–2009 MdEP der Grünen, seit 2009 Kopräsidentin der Europäischen Grünen)

Evelyne Gebhardt (D, MdEP für SPD)

Sandro Gozi (I, Abgeordneter der Demokratischen Partei)

Ulrike Guerot (D, Leiterin des Berliner Büros des European Council on Foreign Relations)

Pascal Lamy (F, Generaldirektor WTO)

Jo Leinen (D, MdEP für SPD, Präsident der Europäischen Bewegung International)

Haris Pamboukis (Griechenland, 2009–2011 Staatsminister im Amt des Ministerpräsidenten)

Romano Prodi (I, Präsident der EU-Kommission 1999–2004, ital. Ministerpräsident 1996–98, 2006–2008)

und über 15 andere.

Strukturelle Herausforderungen

Der Ausbruch der griechischen Krise hat diese strukturellen Herausforderungen offengelegt und damit eine Krise des Vertrauens in die Nachhaltigkeit der öffentlichen Haushalte erzeugt: Die Gläubiger haben die Unhaltbarkeit der Ungleichgewichte in der Eurozone wahrgenommen. Seitdem erreichen die Zinssätze Höchstwerte und rufen mittlerweile sogar Verstärkungseffekte hervor: Liegen sie über der Wachstumsrate des Bruttoinlandsprodukts (BIP), erfährt die Entwicklung der Schulden eine sich selbst erhaltende Dynamik, es sei denn, es gelingt, größere Haushaltsüberschüsse freizusetzen.

Um diese Überschüsse zu realisieren, haben alle Länder drastische Rettungspläne auf die Beine gestellt; zudem hat die Intervention der Europäischen Zentralbank eine Atempause von einigen Monaten verschafft.

Die fehlende Koordination und der Schritt-für-Schritt-Charakter der Rettungspläne erlauben es nicht, die Erfordernisse von Wachstum und Sparsamkeit miteinander vereinbar zu machen. Erschwerend kommt hinzu, dass die Einschnitte bei den Ausgaben, getrieben durch die Suche nach möglichst schnellen Gewinnen, vorrangig auf Sozialausgaben und öffentliche Investitionen abzielen; und dies alles auf Kosten der Zukunft.

Dieses Klima der Unsicherheit bremst die Binnennachfrage, da es die Haushalte vorziehen, in Erwartung steigender Steuern zu sparen. Gleichzeitig schränken die Banken die Kreditvergabe an den privaten Sektor ein, um ihre Bilanzen wieder in den Griff zu bekommen. In dieser Situation kann eine Wiederbelebung der Wirtschaft weder von der Binnennachfrage ausgehen noch von den privaten Investitionen und ebenso wenig von den öffentlichen Aufträgen.

Verurteilt zu geringem Wachstum

Die am höchsten verschuldeten Länder sind zu einem sehr geringen Wachstum verurteilt, was die Last ihrer hohen Schulden noch weiter verstärkt. Ohne einen Wandel in der Denkweise wird Europa nicht aus dieser Krise herauskommen. Sollte sich das aktuelle Szenario fortsetzen, wird der Euro nicht in der Lage sein, sich den drohenden Fliehkräften und der Zunahme populistischer Diskurse zu widersetzen. Sein Verschwinden wird nur noch eine Frage der Zeit sein.

Ein anderer Weg ist jedoch möglich. Er besteht darin, den Lissabon-Vertrag zu bearbeiten, besonders, um die bloße Koordination zwischen den Mitgliedstaaten, die unzureichend geworden ist, zu überwinden. Dieser Weg besteht darin, die Kosten eines Nicht-Europas klar zu benennen, sie zu reduzieren und letztendlich ganz zu beseitigen.

Zu diesem Zweck sind zum einen die Altschulden einzudämmen, indem ein Teil davon vergemeinschaftet wird, wie es unter anderem vom deutschen Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Lage und vom Institut Bruegel vorgeschlagen worden ist. Ein solcher Schritt wird in den verschuldeten Ländern die Zinssätze senken und gleichzeitig Handlungsspielräume zurückgeben.

In diesem Zusammenhang wird es erforderlich sein, die Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Kommission und den nationalen Finanzministerien im Rahmen eines Europäischen Fiskalinstituts auszubauen, die Einrichtung eines Europäischen Finanzministeriums im Blick, ganz nach dem Vorbild des Europäischen Währungsinstituts, welches der Gründung der EZB vorausging. Es würde sich um eine weitere Etappe auf dem Weg zu einer Europäischen Wirtschaftsregierung mit einem föderalen Finanzminister handeln.

Anschließend muss es vor allem darum gehen, die Produktivität über Strukturreformen vor allem im Dienstleistungssektor und über Investitionen in Wachstumsprojekte wieder anzukurbeln. Derartige Projekte existieren in folgenden Bereichen: in der Energieübertragung (smart grid) und der Energieeffizienz, in den Bereichen der sauberen Transporte und der Stadtpolitik, in der Luftfahrt, in der Nanotechnologie, in der Digitalindustrie, in der Kognitionsforschung.

Überall arbeiten Akteure in der Industrie an Projekten von europäischer Tragweite, an deren Finanzierung alle Länder beteiligt sind. Hierfür ist es erforderlich, sogenannte projects bonds zu entwickeln, das heißt gute Schuldverschreibungen, die ausschließlich dem Ziel dienen, Projekte zu fördern, die zukünftige Einkommen generieren. Auf der Basis von Vorschlägen der Europäischen Kommission wird die Europäische Investitionsbank solche Projekte problemlos tragen können.

Investoren werden diese projects bonds nur kaufen, falls die Mittel zu ihrer Rückzahlung nicht aus freiwilligen Zahlungen der Länder der Eurozone stammen, da so ihre nationalen Gesamtschulden erhöht würden. Allein eine wirklich europäische Steuer im Rahmen eines föderalen Budgets kann diesem neuen Werkzeug zur Wachstumsförderung die erforderliche Glaubwürdigkeit verleihen.

Zu seiner Finanzierung könnte man daran denken, einen Prozentpunkt des Mehrwertsteueraufkommens abzutreten, oder an die Einführung einer CO2- oder einer Finanztransaktionssteuer. Auf diesem Wege wird es möglich sein, mit den projects bonds mehr als 1.000 Milliarden Euro zu generieren, um sie in Zukunftsprojekte zu investieren, um wirkliches Wachstum und eine stimulierende Vision von Europa zu schaffen und die Mechanismen zur Auflösung der ursprünglichen Ungleichgewichte zu schaffen.

Parlamentarische Dimension

Keine Steuer kann jedoch ohne demokratische Legitimation eingeführt werden und ohne die Vertrauenskrise unter den Bürger der Europäischen Union aufzulösen, indem man ihnen eine neue Zukunftsperspektive eröffnet. Dies bedeutet, dass man dem Prozess eine parlamentarische Dimension geben muss: der Euro wird ohne bedeutende politische Fortschritte nicht überleben können. Der Föderalismus ist der einzig gangbare Weg, mit dem sich eine größere Krise verhindern lässt, der eine ganze Generation zum Opfer fallen würde.

Die Parlamentarier aus den Ländern der Eurozone müssen ab sofort zusammenkommen, dabei offen sein für die Teilnahme anderer europäischer Parlamentarier, die daran teilnehmen wollen, und den Weg bis zu den kommenden Europawahlen abstecken: Auf Basis ihrer Beschlüsse werden diese europäischen Parlamentarier Tagungen zur Zukunft Europas, ausgehend von der Eurozone, organisieren, an denen sowohl Delegationen des Europaparlaments als auch Mitglieder der nationalen Parlamente teilnehmen werden, so wie dies bereits von François Mitterrand vor dem europäischen Parlament 1989, kurz vor dem Fall der Berliner Mauer, vorgeschlagen worden ist.

Ein solcher notwendiger Föderalismus würde zu einem wirklich politischen und sozialen Europa führen, dessen Institutionen über ein gerechtes Zusammenspiel von Fiskal- und Geldpolitik, über die Stimulation der wirtschaftlichen Aktivität, über Strukturreformen zur Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit und einen stärkeren sozialen Zusammenhalt wachen würden.

Das Überleben des Euro kann nur durch eine gemeinsame Wirtschaftsregierung und ein europäisches Budget zur Förderung des Wachstums gesichert werden. Nur der Föderalismus ist in der Lage, den Zusammenbruch der Eurozone mit all seinen katastrophalen Folgen für unseren aktuellen Lebensstandard zu verhindern. Er würde den Europäern den Weg zu einem gerechten, solidarischen und demokratischen Europa ebnen, das in der Lage ist, seinen Platz in der Welt einzunehmen.

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