Arbeitnehmerfreizügigkeit in Europa: Duisburg macht Schule

2013 ist die Zahl der rumänischen und bulgarischen Zuwanderer in Duisburg enorm gestiegen. Die klamme Stadt bemüht sich um ihre Integration.

Etwa 700 Menschen, überwiegend Roma, leben derzeit in dem heruntergekommenen Hochhaus in Duisburg. Bild: dpa

DUISBURG taz | „Ich bin das Tor zur Freiheit“ steht an einer Autobahnbrücke kurz vor der Ausfahrt nach Duisburg. Vielleicht ist Ion mit seiner Familie hier durchgefahren, als er vor ein paar Wochen endlich sein Ziel erreichte: das heruntergekommene, deutschlandweit bekannte Hochhaus in Duisburgs bürgerlichem Westen, der Mittelpunkt der polarisierten Zuwanderungsdebatte in Deutschland.

Spitzenkandidaten und Fraktionsvorsitzende sind durch seinen dreckigen Hinterhof gelaufen, Neonazis haben Hakenkreuze an seine Backsteinmauern gesprüht. Pro NRW zieht monatlich vor seine triste Fassade, um sämtliche rechten Feindbilder auf die Menschen hinter diesen Mauern zu projizieren. Ion hat schnell begriffen, dass hier keine Freiheit zu holen ist.

Eineinhalb Stunden spricht der junge Roma über seine Geschichte, über die gefährliche Anfahrt quer durch Osteuropa, die Diskriminierung in Rumänien und seine drei Töchter, denen er ein besseres Leben bieten will. Das Interview ist für den 26-Jährigen eine Tortur. Ständig rutscht er nervös auf seinem Stuhl hin und her, knetet seine Hände. Er hat sich in die Ecke des Raumes gesetzt, die von draußen nicht einzusehen ist. Die Nachbarn würden fragen: Was hast du denen über uns erzählt?

Aber Ion will erzählen. Er will beweisen, dass er ein anständiger Mensch ist. „Ich bin in diesem Land ein Taubstummer“, sagt Ion. „Ich kann nichts verstehen und niemand mich. Warum sollte ich das auf mich nehmen, wenn es mir daheim gut ginge?“

Wem können sie trauen?

Ion ist bei den Roma ein Name wie Paul oder Tim. Hinter dem Namen kann sich der junge Roma verstecken wie hinter den dicken Vorhängen, die vor den Fenstern des Hochhauses in der Straße In den Peschen im Duisburger Stadtteil Rheinhausen-Bergheim hängen. Je mehr Aufmerksamkeit dieses Gebäude zuletzt bekommen hat, desto weiter haben sich die derzeit rund 700 Bewohner in die Immobilie zurückgezogen. Nur wenige haben Zugang zu ihnen. Einer ist Murat Yasar, der aus der Türkei stammt, dessen Familie jedoch in Rumänien lebt. Er sitzt neben Ion im Büro des Vereins für Zukunftsorientierte Förderung, kurz ZOF, dem wichtigsten Brückenbauer vor Ort.

Warum vertrauen die Roma ihm? „Ich bin selbst ein Schwarzkopf“, sagt Yasar und lacht bitter. Nein, das Vertrauen hat er sich hart erarbeitet. Er hat den Einfluss der beiden Klanchefs zurückgedrängt. Wie? Indem er in ihren Gottesdienst gekommen ist und ihnen erzählt hat, dass nur Gott über sie richten darf. Die meisten Roma hier seien gläubige Pfingstler, Yasar ist Muslim.

„Das Schwierigste für die Menschen ist, zu erkennen, wem sie trauen können“, sagt Yasar. Um die rumänischen und bulgarischen Zuwanderer in Duisburg hat sich eine eigene Wirtschaft entwickelt. Ion ist gerade aus der Stadt zurückgekommen. Dort hat man ihm für Kinder- und Wohngeldanträge einige zig Euro abgeknöpft. Wer war das? Ion schüttelt stumm den Kopf. Bulgaren? Rumänen? Deutsche? Er blickt auf seine abgekauten Fingernägel. Keine Antwort.

Die Nutznießer kommen in Kleintransportern, die vor dem Morgengrauen die Arbeiter auf die Baustellen bringen. Sie kommen als skrupellose Vermieter, die für ihre Bruchbuden die Miete bar kassieren. Als zweifelhafte Helfer, die Geld kassieren für Behördengänge und Anträge. Immer wieder muss Murat Yasar Vertreter verscheuchen, die den Roma Strom- und Handyverträge andrehen wollen. „Sie kommen und wedeln mit ihren iPhones“, sagt Yasar.

Aufschrei der Oberbürgermeister

Die Stadt Duisburg hat gegen die informelle Wirtschaft wenig Handhabe. Immerhin: Neuerdings hat Nordrhein-Westfalen ein Wohnungsaufsichtsgesetz, das die Vermietung von Schrottimmobilien erschwert. Dennoch fühlt sich Marijo Terzic oft wie „ein Hamster im Rad“. Einen Moment lang lässt Terzic die Schultern hängen, die ansonsten mit den energischen Bewegungen seiner Arme ständig hoch und runter wippen.

Er hat alle Zahlen parat: Dass 9.045 Rumänen und Bulgaren offiziell, wohl mindestens 10.000 Zuwanderer insgesamt in Duisburg leben. Dass die Zuwanderung seit Beginn 2013 um fast 50 Prozent gestiegen ist. Dass die Arbeitslosigkeit unter den Neu-EU-Bürgern in Duisburg mit fast 27 Prozent fast dreimal so hoch ist wie bundesweit. Dass dennoch nur 800 Zuwanderer Hartz IV beziehen. Terzic ist stellvertretender Leiter des Kommunalen Integrationszentrums – einer Art interdisziplinärer Taskforce für die Integration der Rumänen und Bulgaren.

Sein Chef, Oberbürgermeister Sören Link, hat Mitte November zusammen mit 15 anderen deutschen OBs einen Hilferuf nach Berlin geschickt. Zwar seien bestimmte Regionen besonders betroffen, dennoch „kann die Problemlösung deshalb nicht einfach dorthin delegiert werden“, schreiben die Stadtchefs aus Hannover, Dortmund, Mannheim und Nürnberg.

Die Lasten für die Integration der Zuwanderer sind in Deutschland ungleich verteilt. Während die Rentenkassen die Steuern und Abgaben der jungen Arbeitnehmerschaft einstecken, bleiben die Kommunen auf den Kosten sitzen: auf dem Großteil des Wohngeldes für Hartz-IV-Bezieher und den Kosten für Schulplätze und Willkommensklassen. Außerdem müssen die Städte für die Versorgung von Menschen aufkommen, die keinen festen Wohnsitz und keine Krankenversicherung haben. Städte wie Duisburg, Köln und Berlin trifft das besonders hart.

Mit einem Rechenbeispiel kann Marijo Terzic die Belastung für Duisburg schnell klarmachen. Im Süden der Stadt saniert die städtische Wohnungsbaugesellschaft derzeit vier Wohnungen für Roma-Familien, die aus dem Hochhaus ausziehen wollen. „Sechs Monate werden die Rumänen von Integrationslotsen betreut. Schließlich sollen sie ihre Miete irgendwann selbst bezahlen“, sagt Terzic. 100.000 Euro kostet das Projekt. 28 Menschen kommt es zugute.

Eine Million Euro

Duisburg will nicht nur jammern. Eine Million Euro hat die Stadt bis Ende 2013 in die Integration der EU-Neubürger investiert – die Arbeit von ZOF e.V. wird aus diesem Topf mitfinanziert, außerdem Willkommensklassen, Sprachkurse, Impfaktionen und Runde Tische. Es ist eine große Summe für eine Stadt, deren Budget unter der Kontrolle der kommunalen Finanzaufsicht steht. Es ist nicht mehr als der sprichwörtliche Tropfen auf den heißen Stein, aber „irgendwo muss man anfangen“, sagt Terzic.

Dieses Irgendwo befindet sich in einem Untergeschoss in Duisburg-Hochfeld. Neven Naygenov setzt die Feile an ein kleines „K“ aus Messing. Später wird er es auf ein Stück Holz kleben. „Aksu“ steht dann dort. So heißt Naygenovs sieben Monate alte Tochter. Viel lieber als Schildchen basteln, würde der junge Bulgare arbeiten. Ein Jahr lang war er schon in Lohn und Brot, bei einer Zeitarbeitsfirma für acht Euro die Stunde. Er hat Kartoffeln geerntet, Schrott gesammelt, Müll weggebracht. Dann hatte die Firma keine Arbeit mehr für den 24-Jährigen. Jetzt durchläuft er das Projekt „Profil“ der Gesellschaft für Beschäftigungsförderung, kurz GfB.

Das von der Stadt geförderte Projekt soll den Rumänen und Bulgaren helfen, ein berufliches Profil zu entwickeln. Die GfB-Mitarbeiter erfassen ihre Lebensdaten und beruflichen Stationen. Ein paar Tage lang können sie sich dann im Handwerk, der Pflege oder Kosmetik ausprobieren. Für die Kommune geht es vor allem darum, zu verstehen, mit wem sie es zu tun hat. Eine Viertel Million Euro lässt Duisburg sich das kosten. „Ich habe schon 350 Handynummern“, sagt Dozent Martin Fronczek. Nicht mehr und nicht weniger.

„Viele Teilnehmer sind enttäuscht, dass die GfB sie nicht sofort vermitteln kann“, sagt Fronczek. Im Regelfall haben die Teilnehmer die Grundschule besucht und später in der Landwirtschaft gearbeitet. Ohne Ausbildung haben sie in Deutschland keine Chancen. Noch dazu in Duisburg, wo die Arbeitslosigkeit seit Jahren bei mehr als 13 Prozent liegt. Alle Zuwanderer in den lokalen Arbeitsmarkt zu integrieren, wird nicht möglich sein. Auch deswegen blickt Fronczek mit Sorge auf die Arbeiter-Hostels, die derzeit im Viertel entstehen. Für die Neuankömmlinge, die ab Januar in Duisburg erwartet werden, wenn die Arbeitnehmerfreizügigkeit gilt.

Vom Gegner zum Helfer

Dennoch: Duisburg macht Schule. Gerade wieder lässt sich eine Gruppe auswärtiger Lokalpolitiker im Stadtteil die Integrationsprojekte zeigen. Sogar in Rheinhausen-Bergheim gibt es kleine Hoffnungsschimmer. In der Straße In den Peschen steht Hans-Wilhelm Halle vor seinem Haus und blickt nachdenklich auf die gegenüberliegende Fassade.

Einst war das Haus seine Altersversicherung, nun ist sein Wert gefallen. Um die Hälfte, vielleicht mehr, schätzt er. Halle ist kein Mensch der leisen Töne. Die Roma nennt er „Zigeuner“, sie nennen ihn „Hitler“. Einst war Halle vehementer Gegner der Zuwanderer, heute schellen sie an seiner Tür, wenn in dem Hochhaus eine Wasserleitung gebrochen ist oder eine Frau in den Wehen liegt.

„Gutmenschen brauchen wir hier nicht“, sagt Halle. Er kämpft vor allem gegen eins: dass die Zuwanderer und Anwohner sich selbst überlassen werden. Gerade hat er gehört, dass ganz in der Nähe ein weiteres Haus angekauft worden sein soll. Er ist außer sich. Wenn man ihn fragt, was mit dem Hochhaus passieren soll, sagt er: „abreißen“. Ein Bau mit Luxusappartements sollte entstehen. 50 bis 60 Euro Miete pro Quadratmeter. „Nur für Leute mit viel Geld.“ Er weiß selbst, dass das so nicht läuft.

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