Architektur und Macht: Karl Marx im Plattenbau

Der kubanische Künstler Carlos Garaicoa nimmt verfallene Bauten als Vorlage für Fantasien, die zurzeit im Kunstverein Braunschweig zu sehen sind.

Ehemalige Propagandatafeln, fantastisch erweitert: Carlos Garaicoa. Bild: Kunstverein Braunschweig

BRRAUNSCHWEIG | taz Architektur, sagt der kubanische Künstler Carlos Garaicoa, ist ein Spiegel der Gesellschaft. Ein Seismograf ihrer permanenten Entwicklung in wechselnden politischen Machtverhältnissen. Und häufig genug, vor allem in den vormals sozialistischen Ländern, ruinöses Zeugnis gescheiterter Utopien.

Architektur ist der Rohstoff der Arbeiten Garaicoas, der 1967 in Havanna geboren wurde und dort sowie in Madrid ein Studio betreibt. Nach Beteiligungen an Gruppenausstellungen wie der Documenta 11 im Jahr 2002 zeigt der Kunstverein Braunschweig nun die erste Garaicoa-Ausstellung in Deutschland.

Verfallene, aufgegebene Bauten unterschiedlichen Alters findet Garaicoa in Kuba, aber auch anderswo. Ihn interessieren die anonymen Orte, nicht die der heroischen Geschichte, und je fragmentarischer ihre baulichen Reste sind, desto mehr scheinen sie ihn aufzufordern, sie zu vollenden.

In einer großformatigen Fotoserie widmet er sich den Tragstrukturen ehemaliger Reklame- oder Propaganda-Tafeln an kubanischen Straßen. Aus ihnen lässt Garaicoa Hallen, geschäftige Krananlagen oder konstruktivistische Megazeichen auferstehen, indem er sie mit computergenerierten Drahtmodellen überlagert. Die Linien werden per Laser in die Aluminium-Trägerplatte der Fotografien gefräst, wodurch metallisch reflektierende Architekturprospekte entstehen.

In einer filigraneren und ungleich mysteriöseren Variante zeichnet Garaicoa mit weißem Nähgarn, gespannt über Stecknadeln an den perspektivischen Eckpunkten, die imaginierten baulichen Vollendungen nach. Oder er notiert mit dieser Technik vollkommen neue, stereometrisch ideale Architekturen und Infrastrukturanlagen wie Windräder auf die leeren Wände im Kunstverein, die Garnlinien werfen kaum wahrnehmbare Schatten auf den hellen Putz.

Der Betrachter wird so angeregt, seinerseits die Nachbilder im Kopf zu einem Ganzen, einer idealen Stadt, zusammenzufügen. In seinen Studios arbeitet Garaicoa seit zehn Jahren mit acht Architekten und Designern, die für die professionelle Plausibilität und die technische Umsetzung der Architekturfantasien sorgen.

Architekturbücher oder historische Architekturdarstellungen verarbeitet Garaicoa in seinen Serien sogenannter Pop-Ups. Zwölf französische Stiche ländlicher Bauten aus dem 19. Jahrhundert, die Garaicoa in Kuba erstand, schnitt er auf und faltete die feinen Gebäudeansichten heraus. Dahinter positionieren sich, wie Scherenschnitte aus schwarzem Karton gefertigt, freie minimalistische Architekturvolumen in utopisch-modernem Habitus. Alt und Neu verzahnen sich in einer Weise, die die Toleranz der Denkmalpflege auf eine harte Probe stellen würde. Eine Reihe kleiner Vitrinen zeigt die zwölf edlen, sehr poetischen Ergebnisse.

Raumgreifend und recht vital hingegen die Installation, in der Monografien aktueller internationaler Stararchitekten einen alten chinesischen Tisch überwuchern. Für Garaicoa Sinnbild, wie sich Architekten weltweit der Macht andienen, vor allem in China. Für eine Ausstellung dort griff er wiederum auf traditionelle chinesische Kunstformen des Papierschnitts zurück. Seine ideale Stadt, die „Bend City (Red)“, entstand 2008 auf städtebaulich strengem Raster. Häuser, Brücken, Monumente entfalten sich in 96 roten Parzellen aus rotem Papier: Stadt und Architektur als fragiles, offenes System – „basic architecture“ in Garaicoas eigenen Worten.

Und dann steht in einem Raum noch eine Art Bücherregal, gefüllt mit der aktuellen spanischen Übersetzung von Karl Marx: „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“. Struktur und Proportionen des Regals reflektieren unmittelbar präfabrizierte Bauformen des Sozialismus – das Regal als der transformierte Prototyp eines beliebigen Plattenbaus.

Seine eigene Desillusionierung durch politische wie baukulturelle Heilsversprechen lässt Garaicoa folglich auch bei Karl Marx nachlesen. Denn dieser formulierte bereits 1852 im ersten Kapitel des Buches: „Hegel bemerkt irgendwo, daß alle großen weltgeschichtlichen Thatsachen und Personen sich so zu sagen zweimal ereignen. Er hat vergessen hinzuzufügen: das eine Mal als große Tragödie, das andre Mal als lumpige Farce.“

Carlos Garaicoa, „a city view from the table of my house“: bis 20. Mai, Kunstverein Braunschweig
Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.