Wunder gibt es immer wieder

Aber warum? Die beiden Wissenschaftshistorikerinnen Lorraine Daston und Katherine Park erzählen in ihrer großen Studie „Wunder und die Ordnung der Natur“ eine Kulturgeschichte des Abnormen

von SEBASTIAN HANDKE

Die Scharfsichtigkeit der Delfine und die Anziehungskraft des Magneten, das Schweißtuch der Veronika und der Geschenkschrank Gustav Adolphs, die Zwillingsgeburt von Tettnang und das Monstrum von Ravenna – was haben all diese Dinge nur gemeinsam?

Überbordend ist die Fülle jener Phänomene, die Menschen seit jeher schaudern oder staunen ließ. Fast scheint es unmöglich, Struktur in das reiche Tableau des Abnormalen zu bringen. Die Wissenschaftshistorikerinnen Lorraine Daston und Katherine Park nahmen das Wagnis auf sich, und es ist ihnen prächtig gelungen; bald zwanzig Jahre Arbeit stecken in ihrem Buch „Wunder und die Ordnung der Natur“. In neun reich bebilderten Kapiteln wird eine Kulturgeschichte des Wunders und des Wunderns aufgefächert – nicht als simple Fortschrittsgeschichte, sondern in thematischer Gruppierung, die eher nebenbei auch eine chronologische Reihung ergibt.

So erzählt das erste Kapitel von den Wundern des Früh- und Hochmittelalters, das vierte von der Bedeutung des Staunens für Intellektuelle im Kontext der Verstädterung des 15. Jahrhunderts; Kapitel sieben beschreibt die Infragestellung des Gegensatzes von Natur und Kultur in den Wunderkammern des 17. Jahrhunderts, während am Schluss die Klage angestimmt wird über die Marginalisierung des Staunens in der neuzeitlichen Wissenschaft.

Loblieder des Fremden

Schon im Hochmittelalter mochte man sich nicht so recht entscheiden, ob das Exotische denn nun etwas zum Fürchten sei oder Anlass zur Bewunderung. Die Berichte des venezianischen Kaufmanns Marco Polo von seinen Asienreisen Ende des 13. Jahrhunderts waren typisch für eine neue Reiseliteratur, die sich in geradezu ekstatischen Schilderungen von Naturwundern erging. Die „Wunder des Ostens“, jene Neuigkeiten vom Ende der Welt, die Abenteurer und Handelsreisende in ihren Reiseberichten schilderten, waren durchaus positiv besetzt, gerade wegen ihrer geografischen Entfernung – sie waren weniger bedrohlich als jene unmittelbare Andersartigkeit, die von ortsansässigen Juden repräsentiert wurde. Das Lob des Fremden blühte, als der mongolische Frieden die Öffnung der Handlungsrouten möglich machte.

Dadurch gewann aber auch die arabische und griechische Naturphilosophie an Einfluss. Zur Lehre des Augustinus, in der die Natur als Ausdruck göttlichen Willens – als das zweite Buch Gottes – angesehen wird, trat eine aristotelische Vorstellung hinzu, die Natur als eine in sich ruhende Ordnung beschrieb. Sie bildete die Grundlage für eine folgenschwere Unterscheidung: zwischen der bewundernswerten exotischen Spezies einerseits, die ein Teil der natürlichen Ordnung war (wenn auch ein sonderbarer); und unheilschwangeren, individuellen Abnormitäten andererseits, die als „wider die Natur“ klassifiziert wurden – contra naturam. Der alte Reflex gegenüber dem Andersartigen verschaffte sich so, quasi durch die Hintertür, wieder Zutritt zum Gedankengut des Hoch- und Spätmittelalters – nur viel beunruhigender.

Denn nun war das Monströse von den Rändern ins Zentrum der christlichen Gesellschaft gerückt. Die individuelle Anomalie wurde zum Kündzeichen Gottes, der das Widernatürliche in die Welt setzte, um vor drohendem Unheil zu warnen. Hier liegt auch die Wurzel des Wortes Monster, das auf das lateinische monstrare (zeigen) zurückgeht. Also machten sich Gelehrte wie Gerald von Wales oder Guibert von Nogent an die Analyse: die Erscheinung des Halleyschen Kometen, so viel schien ihnen klar, kündigte König Harold im Jahre 1066 seine Niederlage gegen Wilhelm den Eroberer an; die Geburt eines Kindes, „das bis zu den Hinterbacken verdoppelt war“, tat das gleiche mit dem Aufstand von Laon von 1116.

Die Konkurrenz der Naturbilder von Aristoteles und Augustinus bestimmte die Rezeption des Wunders. Wenn Gott die Natur beherrschte, konnte es nichts Widernatürliches geben. Wenn sie aber eine autonome Ordnung war, musste das Abnormale getilgt oder doch wenigstens getauft werden. Dieser Widerstreit schlug sich auch in den Leidenschaften nieder, die als angemessen galten. Wie sollte man dem doppelten Hundskopf begegnen, mit anerkennendem Staunen oder ablehnendem Schrecken?

Gespräche mit Monstern

Im 16. Jahrhundert wurde das Monströse gar Anlass zum Vergnügen: „Ich muss zugeben, das war ein seltsamer Anblick für mich, und einer, der mir großes Vergnügen machte“, schrieb ein Engländer in sein Tagebuch, nachdem er eine Freak Show in London besucht hatte. Konversationslehren gaben Regeln an für die gepflegte Monster-Unterhaltung, die besser ohne Frauen stattzufinden habe, weil deren allzeit gefährdete Einbildungskraft selbst Missgeburten zur Folge haben könnte.

Solche Gespräche galten sogar als neue, offene und antiintellektuelle Form der Geselligkeit, weil sie die moralinsauren Warnrufe aussparten, zu denen die Kleriker sich angesichts des Außernatürlichen berufen fühlten. Aber auch Gelehrte sahen nur das Schöne im Monströsen, erfreuten sich an den Scherzen der Natur und nahmen das Abnorme als anschauliches Exempel für deren Freude an der Vielfalt.

Von der Vorstellung der Natur als Buch Gottes hatte man sich weit entfernt. „Hierin sehe ich Natur und Kunst konvergieren“, schrieb der Paduaner Arzt Liceti im Jahre 1616, „weil die eine wie die andere, wenn sie nicht machen kann, was sie machen will, wenigstens macht, was sie kann.“

Schließlich fand die Wissenschaft aber doch noch ihren dritten Weg zwischen Staunen und Schrecken: über die Verbannung der Leidenschaft. Als sein Neffe sich darüber wunderte, dass es leichter ist, etwas Helles zu sehen, wenn das eigene Auge im Dunkeln liegt, als umgekehrt, bemerkte Adelardus von Bath trocken und vielleicht eine Spur herablassend: „Ich erstaune nicht über dein Staunen, denn so spricht der Blinde vom Licht.“ Und ein Kalb, dass ohne Gesicht und Hirn geboren wurde, war für den Nüchternen nur noch der Beweis, dass Föten nicht über den Mund, sondern über die Nabelschnur ernährt werden.

Ende der Leidenschaft

Die heitere Zeit des Monströsen war vorbei. Was ein Monstrum sei, bestimmte sich nunmehr vor allem danach, ob dessen Erscheinung Grauen erweckt. „Sie war ein Monstrum“, schreibt Voltaire über eine Frau mit vier Brüsten und einem Kuhschwanz dazwischen, „unschwer zu sehen, wenn sie ihren Busen anschauen ließ, wenn sie dies jedoch nicht tat, war sie ein ganz erfreulicher Anblick.“ Die Abscheu vor den Monstern war zu einem ästhetischen Urteil geworden: Sie verletzten nicht mehr die Ordnung der Natur, sondern die guten Sitten.

Katherine Park und Lorraine Daston haben mit ihrem Buch eine pralle Wunderkammer aufgesperrt, die man entweder durch das Hauptportal oder durch die zahlreichen Seiteneingänge betreten kann. Natürlich bleiben noch Fragen offen – vor allem nach den Institutionen, die die Diskurse des Wider- und Außernatürlichen kontrollierten. Wer aber das Staunen liebt, dem sei dieses Buch empfohlen, von dem man sagen kann, dass es selbst ein kleines Wunder ist.

Lorraine Daston, Katharine Park: „Wunder und die Ordnung der Natur“, Eichborn Verlag, Frankfurt a. M. 2002. 560 Seiten, 29,90 €