Ein seltsames Spiel

Totschlag oder die Erfüllung eines tödlichen Wunsches? Weil er seinen schwerbehinderten Schützling in eine Mülltonne legte, steht ein Zivildienstleistender vor Gericht. Die Öffentlichkeit wurde vom Verfahren ausgeschlossen

von ELKE SPANNER

Die Erklärung liegt in seiner Persönlichkeit. Die Antwort auf die Frage, wie er einen schwerbehinderten Mann in den Müll legen konnte, eingewickelt in Tüten und geknebelt mit Klebeband. Jörg R. sagt, er habe damit dessen Wunsch erfüllt. Der Staatsanwalt sagt, er hat einen Totschlag begangen. Seit gestern verhandelt darüber das Hamburger Landgericht. Unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Der heute 22-Jährige war zur Tatzeit Heranwachsender, ist deshalb schutzwürdig: „Seine Persönlichkeit ist eingehend zu erörtern. Sein öffentliches Ansehen könnte dadurch Schaden nehmen“, so der Richter.

Es ist der 21. Februar 2001, als frühmorgens die Leiche von Nils S. in einem Müllcontainer der Zinnendorf-Stiftung in Eppendorf gefunden wird. Schon seit dem vorigen Mittag war der 27-Jährige nicht mehr im Pflegeheim gesehen worden. Doch nach ihm gesucht hatte man zunächst nicht, Nils S. hatte angekündigt, mit seinem Pfleger Jörg R. in die Stadt zu fahren. Daran gezweifelt hat niemand. Jörg R. hatte den Rollstuhl versteckt, nachdem er Nils S. in den Container getragen hatte. Anschließend war der Zivildienstleistende nach Hause gegangen. Als er am nächsten Vormittag zur Arbeit erschien, wartete dort die Polizei auf ihn.

Nils S. ist in dem Container erstickt. Er litt unter Muskelschwund und konnte sich selbständig nicht mehr bewegen. Er war auf ein Beatmungsgerät angewiesen, kann Gutachtern zufolge höchstens noch zwei, drei Stunden gelebt haben, als er im Müllcontainer lag. Nur Jörg R. kann noch erklären, was sich an jenem Donnerstag zugetragen hat. Er gesteht gegenüber der Polizei, Nils S. auf dessen Wunsch in den Container gelegt zu haben. Natürlich habe er das zunächst nicht gewollt, natürlich habe er sich der drängenden Bitte des Mannes zunächst wiedersetzt, ihr dann aber doch nachgegeben. Vielleicht, weil Nils S. ihm weisgemacht habe, dass es für ihn nicht gefährlich sei. Dass er sich schon öfters auf den Müll habe legen lassen, das verschaffe ihm Glücksgefühle, und dass er nach ein paar Stunden dort wieder abgeholt werden würde.

Jörg R. findet das nach eigenem Bekunden ein seltsames Spiel, doch er gibt nach. Er zweifelt nicht daran, dass das Spiel nach geplanter Zeit wieder beendet sein würde. Er fragt aber auch nicht nach, wer Nils S. wieder abholen kommt, weder bei diesem selbst noch bei der Heimleitung oder anderen PflegerInnen. „Ich kann es mir nicht mehr erklären“, sagt er später bei der Polizei auf die Frage nach dem Warum.

Die Heimleitung glaubt Jörg R. Indiz für den frei gewählten Tod: Nils S. ließ sich an einem Donnerstag in den Müll legen, wissend, dass der Container am Freitag geleert werden würde. Mögliches Motiv: „Wir vermuten, dass er sein Leiden nicht mehr ertragen konnte“, sagt der Vorstandsvorsitzende Uwe Schützendübel. „Wir vermuten, dass der schwerbehinderte Mann den Zivildienstleistenden psychisch unter Druck gesetzt hat, ihn zum Sterben in eine Mülltonne zu legen.“

Der Prozess wird fortgesetzt.