„Besser als die Krücken isser allemal“

Alle Jahre wieder die Geschichte vom Weihnachtsbaum als Krüppeltanne? Nein, diesmal nicht. Eine Rudower Rotfichte mit Familientradition ziert ab heute den Breitscheidplatz – so groß, so grün, so berlinisch, wie man es kaum zu hoffen wagte

von THOMAS GOEBEL

Dieter und Lieselotte Rehfeld stehen vor ihrem kleinen Rudower Bungalow und schauen ein letztes Mal auf den Baum. Stolz sind sie auf ihn, natürlich: Wer hat schon den echten Berliner Weihnachtsbaum im eigenen Vorgarten stehen. Und doch: „Wir bedauern das“, sagt Lieselotte Rehfeld. „Ich hätte ihn gern behalten.“

Ihr Mann nickt, wirft einen prüfenden Blick in die 22 Meter hohe Krone und ergänzt: „Aber was will man machen – er muss halt weg. Schauen Sie mal, wie schief der steht!“ Dieter Rehfeld geht die paar Schritte vor bis zum Jägerzaun an der Straße: „Hier haben die Wurzeln schon die Steine angehoben.“

Rehfelds Baum könnte es dieses Jahr gelingen, ein Drama zu beenden: Das des Berliner Weihnachtsbaums auf dem Breitscheidplatz. So wichtig ist dieser Baum, dass direkt neben der Gedächtniskirche ein tiefes Loch das ganze Jahr über auf ihn wartet. Nur zur Adventszeit wird die schwere Eisenplatte weggeschoben, die Tanne kann kommen. Nur – das Finden eines angemessenen Gewächses geriet in den letzten Jahren zu einer Geschichte nicht endender Leiden, die sich inzwischen mit einem Wort zusammenfassen lässt: „Krüppelfichte“.

Im Jahr 2000 war es die B.Z., die das erste Todesurteil sprach: „Die mickrigste Rotfichte, die wir je hatten.“ Unter dem Jubel der Berliner rückte ein Kettensägenkommando an, der eigens aus den fränkischen Wäldern expedierte Baum wurde noch im November zerlegt und durch eine original Spandauer Fichte ersetzt.

Um eine solche Panne im nächsten Jahr zu vermeiden, machte der Regierende Bürgermeister Eberhard Diepgen (CDU) die Tannensuche zur Chefsache: Während einer CDU-Fraktionsklausur im bayerischen Kloster Banz ging er schon im Mai 2001 selbst auf Fichtensuche. Kurz darauf wurde Diepgen abgewählt. Es handelte sich um bewusste „Krüppelfichte“.

Diese wurde im November von einem schwedischen Baum ersetzt: Sechs Stunden lang durchsuchten die Bewohner des Örtchens Säffle die heimischen Wälder. Doch als der ausgewählte Baum nach langer Fahrt per Fähre und Zug in Berlin angekommen war, hatte die Tanne viele ihrer Äste verloren. „Sie ist schlank“, sagte die Pfarrerin der Gedächtniskirche, doch nicht alle Berliner waren so gnädig: „Zahnstocher“ und „Hungerharke“, so nannten sie den Baum.

Dank Familie Rehfeld kann sich Berlin nun wieder Hoffnung machen, mit einem Baum, so grün, so groß – und so berlinisch, wie man es sich nur wünschen kann. „Besser als diese Krücken in den letzten Jahren ist unser Baum allemal“, sagt auch Lieselotte Rehfeld.

Sie ist mit dem künftigen Berliner Weihnachtsbaum aufgewachsen – obwohl der, wie alle echten Berliner, eigentlich gar nicht aus Berlin kommt: Er ist vor 44 Jahren zugewandert. Großmutter Rehfeld hatte ihn damals aus dem Fichtelgebirge mitgebracht, aus den Ferien. Im Wald hatte sie die dreißig Zentimerter große Rotfichte ausgebuddelt und auf der Wiese vor ihrem Rudower Häuschen wieder eingepflanzt.

Inzwischen überragt sie majestätisch alle anderen Gewächse im Meißner Weg: die Birke gegenüber, und die Vorgartentannen der Nachbarn rechts und links. Lieselotte Rehfeld hätte den Baum nie hergegeben – wäre nicht im Frühjahr dieses Jahres ein Wasserrohr im Vorgarten der Rehfelds gebrochen. Die Handwerker mussten metertief buddeln: Der Baum verlor viel Boden unter den Wurzeln.

Doch Rotfichten sind genügsam und zäh. „Den entscheidenden Stoß hat ihr erst der Sturm versetzt“, sagt Dieter Rehfeld und blickt skeptisch den Stamm entlang. Als Tief „Wiebke“ im Juli über Berlin tobte, knickten tausende von Bäumen um wie dürre Ästchen, auch in Rudow, bei den Nachbarn der Rehfelds. Und auch die Fichte hat „gewackelt, dass wir Angst gekriegt haben“, sagt Lieselotte Rehfeld. Seitdem steht sie schief, neigt sich gefährlich in Richtung Nachbarhaus.

Der Baum muss weg, entschied deshalb im Herbst das Grünflächenamt. Damals fiel Lieselotte Rehfeld die lange Geschichte der Berliner Weihnachtsbaum-Pannen ein. „Wenn unser Baum schon wegmuss, dann wenigstens für einen guten Zweck“, sagte sie sich und rief den Schaustellerverband an, der den Weihnachtsmarkt rund um die Gedächtniskirche organisiert. Außerdem übernahm der die Kosten für das Fällen. Zwei neue Bäumchen haben die Rehfelds aber dafür pflanzen müssen: eine Eibe und eine Scheinzypresse. „Das hat uns 685 Euro gekostet“, sagt Dieter Rehfeld.

Und so stehen die Rehfelds nun zum letzten Mal unter ihrem Baum vor dem kleinen Bungalow in Rudow und sehen dem Sattelschlepper, dem Kran und den Männern mit den Motorsägen entgegen. Und dann geht alles ganz schnell: Anseilen, sägen – und der Baum hat sein 44-jähriges Leben im Vorgarten der Rehfelds beendet. Für einen Moment schwebt er an den Seilen in der Luft, Lieselotte und Dieter Rehfeld fassen noch ein Mal an seinen Stamm – dann liegt die Fichte auf dem Laster. Heute rollt sie in Richtung City-West, dem Weihnachtsmarkt entgegen.

Gegen elf wird der Baum am Breitscheidplatz ankommen. Dann senken die Schausteller die Fichte vorsichtig in das vorgesehene Loch ab und sorgen dafür, dass sie sicher steht. Die Rehfelds werden ein bisschen stolz sein. Und Berlin hat endlich wieder einen richtigen Weihnachtsbaum.