Mehr Mitbestimmung für die Toten

Auf dem Symposium „Die Nation beerdigen“ sprachen Klaus Heinrich, Gregor Gysi und andere über Heiner Müller, Deutschland und den Krieg

Es war Samstag, 9. November, Maueröffnung, Reichspogromnacht, Hitlerputsch – und die „Rosa-Luxemburg-Stiftung“ hatte in Zusammenarbeit mit der „Internationalen Heiner-Müller-Gesellschaft“ (oder auch umgekehrt) zu einem Symposium über Heiner Müllers „GERMANIA 1–3“ geladen: „Die Nation beerdigen …“.

Der Text im Programm zum Symposium klang etwas erratisch: „Nach der Rückkehr in die kapitalistische Realität ist die Losung: Vom Resozismus lernen heißt untergehen lernen. Nächster Untergang ist der der Nationen in globalen Wirtschaften. (…) Die Beerdigung der Nation ist die Voraussetzung der Gattungsutopie. Aber Beerdigung ist eine unendliche Aufgabe: Damit etwas kommt, muss etwas gehen. Programm.“

Im hellen Saal im Jüdischen Museum waren vielleicht 300 Leute, die sich dafür interessierten. Kultursenator Flierl grüßte freundlich. Klaus Theweleit las das „playstation Cordoba. Yugoslavia. Afghanistan etc. Ein Kriegsmodell“ überschriebene Kapitel aus seinem neuen Buch, das vom 11. September handelt. Wie immer war der Freiburger Soziologe ganz in Schwarz gekleidet und schien leicht erkältet wie alle hier. Sein Text ging aus von dem Bazon-Brock’schen „Theorem der erpressten Loyalität“, nach dem „Die Politik der kulturellen Identität“ darin bestehe, „Minoritäten innerhalb von Majoritätsgesellschaften anzustiften, ihre je kulturelle Autonomie zu behaupten, zur Not mit Gewalt. (…) Die Begriffserfindung der kulturellen Identität hat keine reale Entsprechung, sie ist ein Kontrafaktum, eine Konstruktion zur Erpressung der zu ihr gehörigen und zur ausbeuterischen Ausgrenzung aller nicht zu ihr Gehörigen.“ Zwecks der besseren Ausbeutung stiftet der Westen Unfrieden, verbündet sich mit nationalistischen Fundamentalisten in Kroatien, Tschetschenien usw., hetzt die Leute zur Entmischung auf, auf dass sie sich plötzlich als unterdrückte Nation empfinden und aus ihrem vorherigen Staatenverbund ausbrechen wollen.

Das war so die These. Danach klopfte man auf die Tische und ging nachmittags mehr ins Detail und am frühen Abend sprach der Berliner Religionsphilosoph und Mitbegründer der Freien Universität Klaus Heinrich zum Thema „Die Nation beerdigen“. 1987 hatte er ein langes Gespräch mit Heiner Müller geführt, in dem dies Zitat gefallen war.

Wie bei seinen legendären Vorlesungen im Henry-Ford-Bau trug Heinrich einen blauen Anzug mit blauem Schlips. Es war immer noch faszinierend, dem Gelehrten bei einem Denken zuzuschauen, das sich einer thesenhaften Zusammenfassung verweigert: Der Nationenbegriff ist nicht unschuldig, ein ideologisches, blutsaugerisches Konstrukt, die Nation ist Opfergemeinschaft, baut auf Opfern auf, gerade die deutsche, braucht Opfer, was evident ist bis 45, und wie das dann unterirdisch weitergeht. Das Ziel ist es, aus diesem Opferzusammenhang rauszukommen.

Die Toten wirken weiter in ihrer Ambivalenz – mit Blumen und Kränzen werden sie geehrt und mit Steinplatten daran gehindert, aus ihren Gräbern aufzustehen. Vor Freude hätte er in die Hände geklatscht, sagte Heinrich, als er mal ein Transparent sah, auf dem „Mehr Mitbestimmung für die Toten“ gefordert wurde. Heiner Müller, dem er eher kindliche Naivität denn Zynismus zuschrieb, sei der große Dramatiker des verdrängten Unbewussten gewesen.

Das Symposium schloss mit einem Podiumsgespräch, an dem sich Dirk Baecker, Soziologe (Düsseldorf); Gregor Gysi, Jurist (Berlin); Joseph Vogl, Literaturwissenschaftler (Berlin) und der Verleger K. D. Wolff (Frankfurt/M.) beteiligten. Anfangs erzählte jeder von seinen Erinnerungen an die Beerdigung Heiner Müllers. Später glänzten die Beteiligten wie die Musiker einer zusammengewürfelten Band mehr in ihren Soli. Der Nationalkörper ist erregt und benötigt Gruppen, die er ausschließen kann, Staatsfeinde, Volksverräter, Klassenfeinde usw., sagte Joseph Vogl, „das Ende des Nationalen ist die Wiederentdeckung des Alltags“, sagte ein anderer, und Gregor Gysi hatte die Lacher auf seiner Seite, als er sagte, dass Anwälte durchgehend über Dinge sprechen würden, von denen sie nichts verstehen: „Wenn ich Sie in einer Scheidungssache vertrete, muss ich ja auch nicht mit Ihrer Frau zusammengelebt haben.“

DETLEF KUHLBRODT