strübel & passig
: Die Buddybrooks

Neulich wurde Frau Passig streng. Meine kürzlich an dieser Stelle erschienene kritisch-wissenschaftliche Betrachtung von Weblogs und Reissäcken, die in China umfallen, sagte ihr gar nicht zu. Seither hallt es in meinen Ohren nach: „Menno! Strübel! Immer bist du so kulturpessimistisch! Das fällt doch auch auf mich zurück!“, rügt sie mich. „Los, mach was! Schuld! Sühne!“

 Das hat mich schwer getroffen. Bin ich doch schlimmstenfalls kulturell schlecht gelaunt, keinesfalls aber pessimistisch. Im Gegenteil: Ich gehe grundsätzlich davon aus, dass neuer immer auch besser ist. Und kaufe fast alles, was ein schönes Display und Online-Zugang hat.

 Das aber genügt Frau Passig nicht. Per eigens eingerichtetem Dosentelefon (denn tippen kann sie im Moment nicht, weil ihr Ellbogen sich ein scheußlich destruktives Computervirus zugezogen hat) befahl sie deshalb meinem Unterbewusstsein, ich solle gefälligst etwas Nettes über Weblogs schreiben. Dabei hab ich das ohnehin alles nicht so gemeint. Denn eigentlich lese ich ja ganz gerne Weblogs. Und nicht einmal nur die von Kritikern gelobten. Nein, wenn ich ehrlich bin, lese ich am allerliebsten die, die sonst vermutlich keiner lesen mag: solche von Teenagern, die sich die Welt mittels aus Verzweiflung und Akne komponierter Lyrik erklären.

 Oder von Hausfrauen, in deren Welt längst alles erklärt und hübsch nach Haltbarkeitsdatum sortiert ist. Wohlige Schauer jagen mir über den Rücken, wenn vom geheimen Geheimrezept der Großmutter für Apfelkuchen die Rede ist, das dann auch prompt veröffentlicht, oder – noch schlimmer – zum Behufe der Kalorienersparnis verändert wird. Wenn das die Großmutter wüsste! Oder Lacan! Da werden Familientraditionen gebrochen, da wird der Bann der strengen Großmutter mit grimmigem Groll gesprengt, während diese vermutlich mit Demenz im Altersheim oder an einem noch endgültigeren Ort vor sich hin rottet. Zwischen Kochrezepten und Kinderlyrik spielen sich Dramen ab, wie man sie sonst nur von den alten Griechen oder aus literaturwissenschaftlichen Vorlesungen kennt. Und ich darf zusehen.

 Wirklich, nein, wirklich – diese Weblogs sind gar nicht so verkehrt. Ach, was sag ich, die sind super. Ich will ohne Weblogs gar nicht mehr sein. Weblogs sind der Gott der kleinen Dinge, da helfen weder Stolz noch Vorurteil. Sie sind die Instant-Archäologie des Alltags („Heute hab ich mir bei Tchibo MP3-Player gekauft. Blaues Display! Fühle mich wie ein moderner Mensch“), die emotionale Landkarte des Ortlosen („Seit gestern nehme ich eine höhere Prozac-Dosis. Jetzt kann ich nicht schlafen. Naja, habe ich wenigstens mehr Zeit zum Bloggen“), die Chronik eines angekündigten Modems („Hurra, bald habe ich ***DSL***!“), die Sturmhöhen der Lebenstiefen („***** dieses Arschloch, hat mich heute versetzt!“) die Buddybrooks der Netzkultur – und jetzt schon die Klassiker des 21. Jahrhunderts.

 An dieser Stelle hör ich wohl besser auf. Sonst leg ich mir vor lauter Begeisterung noch selbst ein Weblog zu. Da schreib ich dann rein, dass Frau Passig immer so streng ist und mich zwingt, positiv über Dinge zu schreiben, dass ich ihr aber trotzdem gute Besserung wünsche. Das will ja dann ganz sicher außer ihr wieder keiner lesen.

 Und dann wird Frau Passig sehen, was sie davon hat. IRA STRÜBEL

ira@copysquad.com