sniper, serienkiller, massenmörder etc.
: Der Killer von Washington passt in kein Muster

Dies ist kein Film

Am Tatort des achten Anschlags lag die Tarotkarte für den „Tod“. Sie trug die Aufschrift: „Dear Mr. Policeman. I am God.“ Angeblich war das noch längst nicht alles, was der Täter mitzuteilen hatte. Aber schon die nächsten Worte lauteten: „Do not tell the media about this.“ Eine gezielte Indiskretion führte dazu, dass ein Fernsehsender sehr schnell über die Tarotkarte berichten konnte. Auf CNN wird dieses Vorpreschen mit dem Hinweis auf die Informationspflicht verteidigt. Währenddessen warnen zahlreiche Kriminologen davor, den Täter mit erhöhter Medienaufmerksamkeit zu belohnen und so zu weiteren Taten anzustacheln.

Die Medien umlagern das Montgomery County Polizeirevier in Rockville. Keine Kabelstation, die nicht zumindest einen Reporter vor Ort stationiert hat, jederzeit bereit, die kargen Informationsbrocken aufzupicken und so lange wiederzukäuen, bis es endlich etwas Neues zu berichten gibt. Doch die Ermittlungen geben wenig News her. Die täglichen Pressekonferenzen dienen hauptsächlich dazu, die schlimmsten Gerüchte und Geschichten zu dementieren. Darum greifen Redaktionen bei der Berichterstattung zum bewährten Ersatz für Fakten, Zeugen und Untersuchungsergebnisse: Experten. Die so versammelte Schar von Exsoldaten, Exagenten und Exprofilern, Psychologen, Soziologen und akademischen Würdenträgern weiß natürlich auch nichts. Was sie nicht hindert, in blumigen Worten genau das zu sagen. Wo Fakten fehlen, beginnen die Spekulationen.

Selbst die Bestimmung des Tätertyps bereitet Polizei wie Presse Probleme. Technisch ein Spree Killer, ein Mörder auf Schieß-Tour, entzieht sich der Täter in seinem Vorgehen sowohl dieser als auch den anderen Kategorien, Serial Killer und Mass Murder. Der typische Spree Killer, beispielsweise Versace-Mörder Andrew Cunanan, befindet sich in ständiger Bewegung und tötet zufällig, was ihm über den Weg läuft. Ein Serial Killer mordet in immer kürzeren Intervallen und tendiert zu einem bevorzugten Opfertyp; er tötet viele Menschen, immer der Reihe nach. Der Massenmörder wiederum bringt viele auf einen Schlag um.

Der Killer von Washington passt in keines der gängigen Muster: Seine 11 Anschläge geschahen im Großraum Washington. Er wählte seine Opfer zufällig aus, unabhängig von Ethnie, Alter und Geschlecht. Am 3. Oktober tötet er innerhalb von 2 Stunden vier Menschen, ansonsten nur Einzelpersonen. Zum Spree Killer fehlt ihm die Mobilität; als Serial Killer ist er zu wahllos bei den Opfern, zu gehetzt im Vollzug; und ein Mass Murder ist er trotz der neun Toten auch nicht. „Das ist eine komische Mischung aus Spree und Serial Killings“, behauptet Rober Ressler, einer der ersten Profiler beim FBI. „Ein richtiger Spree Killer hätte in Maryland zugeschlagen und wäre dann weiter nach Süden gezogen. Die haben kein Geld, keine Anstellung. Die bringen dich für ein Stück Mobilität um, für ein Auto. Sie sind auf einer verzweifelten Flucht, deren Ende schon vorherbestimmt erscheint.“

Nachdem in Amerika öffentlich dafür plädiert wurde, den Täter nicht auch noch zu glorifizieren, indem man ihm einen Spitznamen wie Beltway- oder Tarot-Killer gibt, einigten sich plötzlich alle stillschweigend auf den eher technisch anmutenden Begriff Sniper – spätestens seit Bosnien bekannt als Bezeichnung für einen Heckenschützen. Ironischerweise beschreibt der Wortstamm snipe einen Vogel, an den sich die Jäger nur sehr schwer heranschleichen können. Sniper genießen selbst bei ihren Militär- und Polizeikollegen den Ruf von Sonderlingen. Unfreundliche Menschen behaupten, man müsste schon Soziopath sein, um überhaupt erst Sniper werden zu können. Polizei und Militär ermitteln seit letzter Woche in den eigenen Reihen.

Der Sniper spielt ein Spiel, und das heißt: „I am God.“ Ein Spiel mit der Angst. Kaum bemerkte die Polizei, die Schulen wären sicher, schlug der Sniper genau dort zu. Ob vor laufender Kamera gedemütigt oder einfach ignoriert, er wird mit der Waffe reagieren. Wie man es auch macht, es ist verkehrt, das musste selbst der ehemalige Profiler Ressler eingestehen.

Im Vergleich zum amerikanischen Dilemma ist die Situation in Deutschland unbeschwert. Wir können schreiben und senden, was wir wollen, der Sniper bekommt es mit Sicherheit nicht zu Gesicht. Was wäre wohl passiert, wenn er am letzten Samstag die SZ gelesen hätte? Dort durfte sich Fritz Göttler über den „grausigen Einbruch der Fiktion in die Wirklichkeit“ ergehen und Parallelen zu „Dirty Harry“ konstruieren, weil „diese schreckliche Reinheit der Exekution [den Sniper] dem Reich der Massenphantasien, der literarischen und filmischen Fiktionen ganz nahe gebracht hat.“ Was uns diese „schreckliche Reinheit“ – ein Schuss aus einer Distanz, über die echte Sniper verächtlich lachen würden – wirklich näher bringt, ist nur eins: den Tod. Aber wenn die Realität zum Rätsel wird, muss eben wieder die Popkultur ran. Doch was nicht bewiesen werden kann, reicht allemal für eine halbwegs plausible Verschwörungstheorie. Ein paar Namen gibt es auch schon: Anti-Lifer, Postnatal Abortionists und Overpopulation Police. Daraus lässt sich doch was machen, Hauptsache der Sniper bemerkt es nicht und „Dirty Harry“ kann in Hollywood bleiben. Repeat: This is not a movie. LARS BRINKMANN