Die 18,5-Sekunden-Lücke

Die Geschichte eines technischen Mediums erzählt sich am besten in Verbindung mit den Personen, die es entwickelt haben: Drei Bücher versuchen sich an einer historischen Aufarbeitung des Internets

von SEBASTIAN HANDKE

Es ist erstaunlich, dass über eine so einflussreiche Kulturtechnik wie das Internet bisher wenig historische Aufarbeitung erfolgt ist. Es gibt ausufernde Theoriearbeit, aber nur wenig Historisches. Das mag daran liegen, dass dessen weit verzweigtes Entstehungsdelta schwer darstellbar ist. Das Anekdotische herrscht vor. Mit dem „Lexikon der Internetpioniere“ von Helmut Neumann kann man sich nun auf dem Wege der Enzyklopädie ein systematischeres Bild machen: eine kleine Heldengalerie jener Personen und Firmen, „die das Internet zu dem gemacht haben, was es heute ist“.

Die meisten der Dotcom-Ritter sind inzwischen geschasst. Hier aber kann man über Thomas Middelhoff, Ron Sommer oder Kim Schmitz noch Vorteilhaftes lesen. Neumann hat sich außerdem die Mühe gemacht und das kursierende Anekdotenwissen nachrecherchiert, und es kommt ihm offensichtlich auch darauf an, die vergessenen Gestalten zu rehabilitieren – beispielsweise Phil Salin, der bereits in den 80er-Jahren das „eCommerce“ erfand oder Bill von Meisters, den eigentlichen Firmengründer von AOL. Dabei, so scheint es, hat er sich hin und wieder auf recht vage Quellen gestützt, und wer auf seine E-Mails nicht antwortete, den hat Neumann einfach ausgespart.

Die Geschichte eines technischen Mediums lässt sich offensichtlich am besten erzählen, wenn man sie an jene Personen koppelt, welche die Entwicklung geprägt haben. Wem Neumanns Buch zu lexikalisch ist, der kann zu dem bereits in zweiter Auflage erscheinenden „Arpa Kadabra“ oder dem ganz frischen „Die Wiege des Web“ greifen. Hier wird das Entstehen des Netzes erzählerisch dargestellt, im Stil einer Kriminalgeschichte oder als Heldenepos der freien Wissenschaft.

„Arpa Kadabra“ von Katie Haffner und Matthew Lyon bezieht sich im Titel auf die Vorform des Internets, ein militärisch finanziertes Vernetzungsexperiment der Advanced Research Projects Agency (ARPA) in den USA. Erzählt wird hier also die Frühgeschichte, in der Computer so groß waren, dass sie Korridore für die Wartungstechniker hatten, und man auf die Frage „Was willst du denn damit?“ noch mit „Ich weiß es nicht“ antworten konnte und der 25.000-Dollar-Rechner dennoch angeschafft wurde.

Die „Wiege des Web“ von James Gillies und Robert Cailliau schließt dort an, wo „Arpa Kadabra“ endet: am Übergang von den Vernetzungsprojekten der US-amerikanischen Universitäten, bei dem es hauptsächlich um gemeinsame Nutzung von Rechnerressourcen ging, zu einem offenen Netz für den Austausch von Informationen. Cailliau ist neben dem ungleich prominenteren Tim Berners-Lee der geistige Vater jenes Internetdienstes, der heute am populärsten ist: dem World Wide Web. Die Geschichten umweht also der Hauch direkter Zeugenschaft.

Zusammengenommen finden sich in den beiden Büchern insgesamt 750 Seiten über die Historie des Internets, hinsichtlich der Ausführlichkeit bleiben also keine Wünsche offen. Wer hätte beispielsweise gedacht, dass die Firma Bolt, Beranek and Newman, die für den Aufbau des so genannten IMP-Subnetzes, also der ersten so genannten Router zuständig war, im Zuge des Watergate-Skandals auch die berühmten Nixon-Tonbänder untersuchte und die so genannte 18,5-Sekunden-Lücke als absichtliche Löschung entlarvte? Oder dass jene Frau, die Mark Andreessen die Programmierung des ersten erfolgreichen Browsers ermöglichte, zur selben Zeit an den Morphing-Effekten für „Terminator II“ arbeitete? Sogar einen Abschnitt über die Glaubensrichtung der Unitarier-Universalisten fehlt nicht.

Leider muss ein gewisses Maß an Heiligenverehrung ertragen werden (… er konnte schon als Sechsjähriger das Telefonbuch auswendig usw.), und auch analytischen Tiefgang darf man nicht erwarten. Dafür glückt den Autoren hier jene typische angelsächsische Verbindung von Kurzweil und Fachwissen, die es den technisch weniger Versierten ermöglicht, über Details hinwegzulesen. Beide Bücher zeichnen exzellent ein Bild davon, wie Ideen reifen, sich ausbreiten und schließlich in Realität umgesetzt werden – und wie Europa ein ums andere Mal die eigenen Ideen verschläft.

Helmut Neumann: „Das Lexikon der Internetpioniere“. Schwarzkopf & Schwarzkopf, Berlin 2002. 448 Seiten, 17,90 €.Katie Hafner/Matthew Lyon: „Arpa Kadabra oder die Geschichte des Internet“. dpunkt-Verlag, 2. korr. Aufl., Heidelberg 2000. 351 Seiten, 25,05 James Gillies/Robert Cailliau: „Die Wiege des Web: die spannende Geschichte des WWW“. dpunkt-Verlag, Heidelberg 2002. 410 Seiten, 29 €.