„Ein Kaleidoskop der Sichtweisen“

„Wir sind alle gar nicht so verschieden, wir haben alle die gleichen Bedürfnisse.“ Ein Gespräch mit Philipp Abresch, freier Journalist und Initiator des Projekts „Imagine“, und Simone Kopfmüller für den Mitorganisator GTZ

taz: Aus den 1.500 Fotos, die Sie von 500 Kindern aus 45 Ländern erhalten haben, wurde eine Ausstellung mit 240 Fotos zusammengestellt. Wer hat die Auswahl getroffen?

Philipp Abresch: Wir haben eine Kinderjury zusammengestellt, die aus 25 Berliner Schulkindern, Kindern von Diplomaten und in Berlin lebenden Flüchtlingskindern bestand. Sie hatten alle dasselbe Alter wie die Kinder, von denen die Fotos stammen (10 bis 16 Jahre). Es war uns wichtig, bei der Auswahl von Fotos, die aus dem Blickwinkel von Kindern und Jugendlichen gemacht worden sind, nicht die Erwachsenenperspektive anzuwenden. Die Kinder wurden in drei Altersgruppen eingeteilt und sollten aus jedem Land eine gewisse Anzahl von Bildern auswählen.

Vor allem die Älteren haben sehr ernsthaft über die Themen der Bilder gesprochen, zum Beispiel waren auf den Bildern aus Südafrika Bettler zu sehen und eine schwarze Haushaltshilfe, die in einem reichen Haushalt arbeitet, das bot Ansätze für eine weitere Auseinandersetzung mit den Themen.

Die Bilder in der Ausstellung sind mit Klammern an einem Bindfaden befestigt. Hat das eine bestimmte Bedeutung?

Simone Kopfmüller: Ja, die 50 Meter lange Wäscheleine soll ein Symbol für die menschliche Beziehung sein, die zwischen den Fotografen entstehen soll. Die Fotos hängen nicht an der Wand, sondern sie bewegen sich im Wind. Das Ganze wirkt etwas improvisiert, das ist Zeichen dafür, dass es keine High-Tech-Ausstellung, sondern eine Ausstellung von Kindern für Kinder ist, die mobil sein und von Berlin aus auf Wanderschaft gehen soll.

Waren die Kinder aufgefordert, ihre eigenen Fotos zu kommentieren?

Philipp Abresch: Die Kinder haben einen zweiseitigen Fragebogen bekommen, auf dem sie beantworten sollten, warum sie das Bild gemacht haben, was auf dem Foto zu sehen und was ihnen daran wichtig ist. Manche Bilder sprechen für sich, da braucht man keinen Text, aber bei vielen Bildern ist der Kommentar eigentlich unerlässlich. Zum Beispiel gibt es ein unscheinbares Bild aus Sambia, ein Familienfoto, auf dem fünf Frauen zu sehen sind.

Die Erklärung des 13-jährigen Mädchens eröffnet eine ganz neue Perspektive. Sie hat geschrieben: „Ich habe dieses Foto gemacht, weil ich anderen die Gelegenheit geben wollte, fünf Generationen von Frauen auf einem Bild zu sehen. Es ist selten in einem Land wie Sambia mit seiner Armut und dem vielen Aids, dass so viele Generationen in einer Familie noch leben.“ Und dann erklärt sie, wer die Frauen sind. Ihre Urgroßmutter, die 102 Jahre ist, ihre Großmutter, die Mutter, ihre Schwester und die Nichte Queen Muhongo, die 7 Jahre alt ist.

Philipp Abresch, Sie hatten die Idee zu dem Fotoprojekt, wo haben Sie den 30. 4. 2002, an dem die Fotos entstanden sind, verbracht?

Philipp Abresch: Ich war in Spanien, dort habe ich am 29. 4. die beiden Kinder porträtiert, die in Spanien bei dem Projekt mitgemacht haben und ihnen die Kameras übergeben. Eins der Kinder ist gleich um Mitternacht losgelaufen, weil es die Kneipe der Eltern fotografieren wollte, die am nächsten Abend geschlossen war. Die Tage davor war ich in Zagora, im Süden von Marokko. Dort haben zwei Mädchen mitgemacht, denen habe ich das Projekt erklärt. Die beiden waren ganz aufgeregt und haben große Augen gemacht, als ich ihnen erklärt habe: „Stellt euch vor, dass zur gleichen Zeit wie ihr ein Eskimo in Grönland seine Lebenswelt fotografieren wird.“ Von Eskimos hatten sie noch nie etwas gehört. Und dann mussten sie die Kameras erklärt bekommen, die beiden hatten noch nie einen Fotoapparat in der Hand, die Familie des einen Mädchens besaß gerade mal ein Familienfoto.

Der Titel der Ausstellung heißt „Imagine – your photos will open my eyes.“ Welche neuen Perspektiven sind Ihnen durch die Ausstellung eröffnet worden?

Simone Kopfmüller: Oh, ganz viele. Allein durch die unglaubliche Vielfalt an Bildern ist so viel Neues dabei. Es gibt Bilder, die alle Klischees über ein Land durchbrechen, und es sind ganz viele Bilder dabei, die einen sofort ganz direkt und unmittelbar ansprechen und die eine Geschichte erzählen.

Philipp Andresch: Für mich sind die Bilder so etwas wie ein Spiegel, ich hab häufig das Gefühl, mich selbst in den Bildern zu erkennen. Zum Beispiel in den Bildern des Jungen aus Afghanistan. Das ist ein Junge, der sich mit seiner Familie und mit seinen Freunden präsentiert, der uns zeigt, wie er wirklich lebt, das sind Bilder aus Afghanistan, die ich in den letzten Monaten ganz selten gesehen habe. Für mich ist ein wunderschönes Kaleidoskop an unterschiedlichen Sichtweisen und Perspektiven herausgekommen, das zeigt, auch wenn das kitschig klingt, dass wir alle Bewohner dieser einen Welt sind. Wir sind alle gar nicht so verschieden, wir haben alle die gleichen Bedürfnisse. Wir wollen eine lebenswerte Zukunft und wir wollen dafür etwas tun. Dieses Ankämpfen gegen Beschränkungen, dieser unglaubliche Wille, etwas gegen den Müll oder gegen schlechte Lebensbedingungen zu unternehmen, der aus den Fotos und den Texten der Kinder deutlich wird, den finde ich richtig toll.

INTERVIEW: KATRIN SCHNEIDER