Falsche Freunde

Die westliche Protestgemeinde zieht gegen die Grüne Gentechnik zu Felde. Und sabotiert damit die Zukunft von Dritte-Welt-Ländern

von DIRK MAXEINER und MICHAEL MIERSCH

Fortschritt ist eine messbare Tatsache. Er bemisst sich an der Lebenserwartung, der Kindersterblichkeit, dem Alphabetisierungsgrad, den Nahrungskalorien pro Kopf, dem Durchschnittseinkommen und anderen Indikatoren. Welchen davon man auch nimmt, insgesamt sah es vor 25, fünfzig oder hundert Jahren schlechter aus als heute. Die Welt ist, entgegen allen Prognosen der Kulturpessimisten, besser geworden, und sie kann in Zukunft noch viel besser werden, denn es gibt nach wie vor eine Menge zu tun.

Im Jahr 2001 stellte die UN-Entwicklungsorganisation fest: Ein Drittel der Menschheit benötigt dringend billige und robuste Technik: Klärwerke und Computer, Solaranlagen und Impfstoffe, ertragreichere Getreidesorten und abgasärmere, billige Transportmittel. Anstatt aber dafür zu kämpfen, dass technischer Fortschritt und ökonomisches Wachstum auch in den Entwicklungsländern Einzug halten, empfehlen viele westliche Intellektuelle den Armen weiterhin, ein Leben hinter dem Ochsenpflug zu verbringen.

Zum Glück gibt es ein paar Ausnahmen. Die findet man aber eher bei den Naturwissenschaftlern als bei den Geistesgrößen des Kulturbetriebs. Zum Beispiel die beiden Genforscher Peter Beyer und Ingo Potrykus. Sie entwickelten eine neue Vitamin-A-reiche Reissorte, die unterernährten Menschen und Kleinbauern in armen Ländern zugute käme. Weltweit leiden über hundert Millionen Kinder an Vitamin-A-Mangel, bis zwei Millionen sterben jährlich daran, viele bekommen schwere Sehstörungen. Die neue Reissorte, wegen ihrer gelblichen Farbe „goldener Reis“ genannt, kann dieses Elend lindern.

Im Januar 2000 verschenkten die beiden deutschen Wissenschaftler in einem symbolischen Akt im internationalen Reisforschungsinstitut auf den Philippinen ihre Erfindung an die Kleinbauern der Entwicklungsländer. Zuvor war es ihnen gelungen, sechs Weltkonzerne, darunter Bayer und Monsanto, zur Patentfreigabe der entscheidenden biotechnischen Verfahren zu bewegen.

Ein einmaliger Coup in der Ökonomiegeschichte. Deutsche Politiker, die sich sonst gerne im moralischen Glanz anderer sonnen, blieben jedoch merkwürdig stumm. Von Seiten der Gentechnikgegner wurde den Wissenschaftlern hingegen nur der Vorwurf gemacht, ein gefährliches Trojanisches Pferd der Agroindustrie zu sein.

Es wird Zeit, die Debatte um grüne Gentechnik neu zu führen. Bei genauerer Betrachtung ist es keinesfalls so, dass Gentechnikgegner die Moral für sich gepachtet haben. Nicht weil ohne Gentechnik die Menschheit verhungern würde, wie es aus den Propagandaabteilungen der Agrarkonzerne tönt. Das trifft – zurzeit – nicht zu. Ein Stopp der grünen Gentechnik blockiert vielmehr ökologische Zukunftsoptionen.

Noch sind die Fortschritte der Gentechniker im Agrarbereich nicht besonders spektakulär. Aber manche Projekte – vom dürre- oder salztoleranten Getreide bis zu wiederkehrenden Reissorten – könnten drängende Umwelt- und Menschheitsprobleme lösen. Der „goldene Reis“ ist nur ein Beispiel unter vielen. Doch viele Politiker und Intellektuelle in den westlichen Ländern beziehen ihr Weltbild statt aus Tatsachen lieber von den Fortschrittsfeinden der Umweltverbände und Kirchen. Die wiederum schaffen es mit viel Geschick, ihre Gesinnungsfreunde aus den sich entwickelnden Ländern als Kronzeugen und Anwälte der Armen aufzubauen.

So wurde Vandana Shiva zur vielleicht bekanntesten Inderin in Europa und Nordamerika (dicht gefolgt von ihrer Gesinnungsfreundin Arundhati Roy). Seit Jahren darf die „Ökofeministin“ auf keinem Podium fehlen, vom taz-Kongress bis zum Weltwirtschaftsforum in Davos. Dort verdammt sie den „goldenen Reis“ und empfiehlt ihren Landsleuten, sie sollten besser mehr Fleisch, Eigelb und Spinat essen. Was sagte vor über zweihundert Jahren Marie Antoinette dem hungernden französischen Volk? „Wenn das Volk kein Brot hat, soll es doch Kuchen essen.“

In ihrem Heimatland wurde Frau Shiva dadurch bekannt, dass sie mit Hilfe einer Truppe aus einigen hundert bäuerlichen Aktivisten und einigen tausend städtischen Sympathisanten die Felder von Bauern verwüsten ließ, die gentechnisch verbesserte Pflanzen anbauen. Ende 1999 protestierte sie mit großer Resonanz im Westen dagegen, dass die Opfer einer Flutkatastrophe von der „US-Regierung als Versuchskaninchen in einem gentechnischen Experiment“ missbraucht worden seien.

Was war geschehen? Ein Wirbelsturm hatte im Herbst 1999 mehrere tausend Menschen im indischen Bundesstaat Orissa getötet, Millionen obdachlos gemacht und eine weltweite Hilfsaktion ausgelöst. Die USA schickten Güter im Wert von 6,5 Millionen Dollar, darunter Mehl aus gentechnisch verändertem Soja und Mais. Frau Shiva befand, dies sei „absolut unmoralisch“. Die Opfer einer Naturkatastrophe würden „zum zweiten Mal zu Opfern“.

Dass die Art von Lebensmitteln, die gespendet wurden, seit Jahren von Millionen Nordamerikanern ohne Schaden verspeist werden, sagte sie jedoch nicht. „Die Gentechnik“, so Vandana Shiva, „stellt jede Form des Kolonialismus, die wir bislang kannten, in den Schatten.“ In einer Erklärung zum 11. September 2001 bezeichnet sie die Biotechnologie als „strukturellen Terror“, nicht weniger schlimm als die Attentate von New York und Washington.

Solche Bekundungen machen sie bei vielen westliche Bewunderern so beliebt, dass sie in Artikeln, Fernsehsendungen und auf Podien üblicherweise als die Stimme der indischen Bauern vorgestellt wird. Andere Inder halten diesen Ehrentitel indes für ziemlich abwegig. „Shiva spricht für eine städtische, intellektuelle ‚Moralelite‘, die in noblen Vororten wohnt und glaubt, alles über indische Bauern zu wissen“, sagt Yazad Yal vom Centre for a Civil Society in Delhi. Die Tageszeitung The Hindu kritisierte, dass Frau Shiva Indiens Bauern als rückständige, hilflose Kreaturen karikiere, die man vor der Versklavung durch die Technologie retten müsse. „In Wahrheit“, schreibt das Blatt, „ist auch der indische Bauer experimentierfreudig, und er muss es sein, wenn er überleben will.“ Dennoch ist sich Vandana Shiva sicher: Die Gefahren des gentechnischen Fortschritts sind „potenziell grenzenlos“.

Diese Haltung findet der indische Ökonom Deepak Lal „atemberaubend, arrogant und ignorant“. Die Effekte solcher Fortschrittsfeindlichkeit könnten „in vielen Fällen ruinös für arme Länder sein“. Vandana Shiva und Arundhati Roy seien die „Reis-Christen“ von heute, sagt er. „Reis-Christen“ nannten einst die Chinesen ihre Landsleute, die mit den Kolonialisten gemeinsame Sache machten. Und die Kolonialisten von heute sind nach Lals Ansicht die amerikanischen und europäischen Zukunftspessimisten, die Indiens Bauern vor dem Fortschritt bewahren wollen.

Ein Blick in die Vergangenheit zeigt, wie notwendig Fortschrittsoptimismus ist. Ohne die ertragreicheren Reissorten, die im Zuge der „Grünen Revolution“ in den Sechziger- und Siebzigerjahren des 20. Jahrhunderts eingeführt wurden, hätte die schnell wachsende Bevölkerung Indiens nicht ernährt werden können. Trotz dieser historischen Tatsachen gilt die Aufmerksamkeit des Publikums in Nordamerika und Europa Zukunftsfeinden wie Vandana Shiva, die gegen eine dringend notwendige „Zweite Grüne Revolution“ zu Felde zieht. Das Thema ist geschickt gewählt, weil es archaische Vergiftungsängste weckt. Zwar ist in Europa die Gentechnik in der Medizin weitgehend akzeptiert, dennoch grausen sich viele Menschen vor Gensoja und Genmais.

Wenn die Anti-Gentechnik-Lobby erreicht, dass Menschen in Nordamerika und Europa gentechnisch veränderte Lebensmittel ablehnen, ist dies ihr gutes Recht. Wenn sie erreicht, dass gentechnisch veränderte Produkte gekennzeichnet werden müssen, ist das ein begrüßenswerter Beitrag zu mehr Transparenz im Supermarkt. Wenn sie jedoch erreichen, dass Forscher wie Potrykus und Beyer aufgeben, schadet dies den Menschen und der Umwelt. „Den technologischen Durchbruch auf den Feldern der Medizin, der Landwirtschaft und der Information zu ignorieren“, sagte Mark Malloch Brown, der im Jahr 2001 das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen leitete, „würde bedeuten, Chancen zu verpassen, das Leben armer Menschen zu verändern.“

DIRK MAXEINER, 49, und MICHAEL MIERSCH, 46, verfassten mehrere Bücher zu Themen aus Wissenschaft und Politik. Ihren Text entnehmen wir in gekürzter Fasssung ihrem Ende August erscheinenden Buch „Die Zukunft und ihre Feinde. Wie Fortschrittspessimisten unsere Gesellschaft lähmen“ (Eichborn, Frankfurt am Main 2002, 430 Seiten, 19,90 Euro) Mehr Infos: www.maxeiner-miersch.de