Russische Gesundheit

Eine spezifische Krebserkrankung fragt nicht nach der Nationalität des Menschen, den sie befällt. Doch Besonderheiten in der Geschichte von Nationen leisten bestimmten Krankheiten Vorschub. Der soziale Umschwung, welcher den Völkern der ehemaligen Sowjetunion in den Augen des Westens Freiheit und Fortschritt gebracht hat, wirkte sich auf deren Gesundheit katastrophal aus.

Unter den Folgen der Verarmung breiter Schichten hatten besonders die Frauen zu leiden, die nicht selten noch einen Teil ihrer bisher gewohnten Lebensmittel den Kindern abtraten. Die täglichen Probleme bei der Versorgung der Familie fügten noch eine dritte Dimension zu ihrer ohnehin bestehenden Doppelbelastung in Haus und Beruf hinzu.

Seit 1992 sank die Geburtenrate in der Russischen Föderation stetig, nach 1996 überstieg die Zahl der Todesfälle die der Geburten um das 1,6- bis 1,9fache. Dabei erwiesen sich die noch gebärenden Schwangeren als immer kränker.

Die Fälle von Anämie unter ihnen sind in den Neunzigerjahren um das 3,4fache gestiegen, urologische und gynäkologische Erkrankungen um das 3,4fache, Kreislaufstörungen um das 1,8fache und alle Arten von Vergiftungserscheinungen im Organismus treten sogar drei- bis viermal häufiger auf. Deshalb verlaufen nur noch dreißig Prozent der Geburten normal.

Die Brustkrebsrate steigt üblicherweise mit dem Sinken der Geburtenrate. Gebärmutter- oder Brustkrebs bilden zusammen vierzig Prozent aller Krebsneuerkrankungen bei Frauen in der Russischen Föderation, wobei der Brustkrebs weitaus häufiger zum Tode führt. Die genaueste hier zu erhaltende Zahl ist leider sehr ungefähr: 52 Prozent der an Gebärmutter- oder Brustkrebs sterbenden Frauen fallen der Letzteren der beiden Krebsarten zum Opfer.

Eine entscheidende Rolle bei der Brustkrebsentstehung und bei anderen schweren gesundheitlichen Störungen bei Bürgerinnen Russlands spielt die hohe Zahl der Abtreibungen. MedizinerInnen bezeichnen sie als ein besonderes „nationales Problem“. Im Laufe ihres Lebens absolviert eine Frau in diesem Lande bis heute durchschnittlich vier bis fünf Abtreibungen. Mit 1.695 Abtreibungen pro tausend zur Welt gebrachten Kindern liegt Russland weltweit an erster Stelle (in der Europäischen Union sind es 193 Abtreibungen).

Und doch zeigt sich gerade an dieser Statistik, dass hier nicht unbedingt eine Entwicklung vom Besseren zum Schlechteren vor sich geht. Während auf dem Gebiet der heutigen Russischen Föderation zu Sowjetzeiten jährlich noch fünf Millionen Abtreibungen vorgenommen wurden, sind es heute dank wachsender Aufgeklärtheit der Bevölkerung „nur“ noch um die zwei Millionen. Die Tendenz ist sinkend.

Diese und andere positive Veränderungen im Leben der Völker Russlands könnten langfristig ihre Gesundheit wieder verbessern. Vorläufig aber befinden sich die Bürgerinnen dieses Staates noch in einer Übergangsperiode – ein Wort, das sich leicht dahinspricht, aber für einen nicht eben guten Zustand steht.

BARBARA KERNECK