Alte Mütter, neue Männer

Körper, Sex, Markt (3): Heute brauchen besonders Frauen immer länger, bis sie sich entschließen, Kinder zu kriegen. Das kann zu einem Mehr an Menschlichkeit beitragen

Heute haben diejenigen Männer einen Selektionsvorteil, die in den Augen der Frauen zu Vätern taugen

Let’s not talk about sex, let’s talk about babies. Nur in dieser Reihenfolge macht die Diskussion Sinn – denn Sex ist für heute, Babys sind für später. Und weil die meisten Lebewesen nicht für irgendwann später leben, hat die Natur den Sex erfunden, um dem Leben im Hier und Jetzt eine Zukunft unterzujubeln – im allgegenwärtigen Kampf ums Dasein braucht ja auch die Evolution eine Überlebensstrategie.

Vor der Evolution sind alle Lebewesen gleich. Bis auf den Menschen. Es ist ein menschliches Privileg, Sex und Babys voneinander trennen zu können. Und wenn nicht alles täuscht, könnte dieses Privileg tatsächlich dazu führen, dass dadurch unsere Spezies sich von Generation zu Generation weniger wie die Tiere verhält. Menschlicher wird.

Solange Sex und Babys nicht zu trennen waren, war die Weitergabe des genetischen Materials jeweils die Aufgabe der jungen Erwachsenen. Bei den Männchen hatten diejenigen die besten Chancen, sich fortzupflanzen, die am schnellsten, am größten, am kräftigsten, am aggressivsten, kurz: die stärksten Kerle waren. Und das nicht einmal zu Unrecht: Schließlich hatten Kraftpakete in der bisherigen Geschichte der Menschheit die besten Mittel, eine Familie zu ernähren – und aggressive Typen die besten Chancen, ihre Familie erfolgreich gegen die Außenwelt zu verteidigen.

So weit, so tierisch. Und vor allem: Vergangenheit. Denn die sexuelle Revolution hat zum Allgemeingut gemacht, was einige weise Frauen schon vor Jahrtausenden beherrschten: Sex und Babys zu separieren. Diese Demokratisierung der Familienplanung macht die Weitergabe des genetischen Codes zur Aufgabe immer älterer Erwachsener. Die sexuellen Erfahrungen beginnen zwar früher, aber die Babys kommen immer später. 1971 lag hierzulande das Durchschnittsalter einer Erstgebärenden bei 24,3 Jahren, 1998 waren es bereits 28,7 Jahre. Seit Ende der 70er-Jahre hat sich in (West-) Deutschland durchgesetzt, dass Frauen nicht direkt nach der Ausbildung Mütter werden, sondern erst wenn sie mitten im Berufsleben stehen. Und damit ist das Ende der Mütteralterung noch längst nicht erreicht.

Über die Väter existieren zwar weit weniger genaue Statistiken als über die Mütter – schließlich kriegen Männer keine Kinder. Trotzdem ist auch hier der Trend zum älteren Vater deutlich erkennbar: Von den 627.917 im Jahr 1998 ehelich geborenen Kindern hatten 65.448, also 10,4 Prozent, einen über 40-jährigen Papa.

Wieso aber sollen ältere Mütter Jungs zur Welt bringen, die menschlicher agieren als die Testosteronbomber vergangener Jahrtausende? Weil sich durch bewusste Familienplanung die Selektionskriterien ändern. Denn es geht nicht mehr einfach nur um die Partnerwahl – sondern auch um die Wahl des Kindesvaters. Nicht jeder, der im Schlafzimmer eine gute Figur macht, ist auch im Kinderzimmer vorstellbar und umgekehrt. Der genetische Code wird aber nun mal nicht von denen weitergegeben, die besonders viel Sex haben, sondern von denen, die dabei Kinder machen. Daher haben heute diejenigen Männer einen Selektionsvorteil, die über für Väter wünschenswerte Eigenschaften verfügen.

So vielfältig hier die Vorstellungen im Einzelfall sein können, zu den Qualitäten, die einen Mann zum potenziellen Vater machen, dürften Frauen heute eher selten Aggressivität und Imponiergehabe zählen. Also müssten diese so typisch männlichen, typisch tierischen Verhaltensweisen doch innerhalb von wenigen Generationen ausgerottet sein – oder? Reicht es, sie aus dem männlichen Verhalten zu verbannen? Oder entscheiden letztendlich doch die Gene?

Natürlich muss die Evolution das Testosteron nicht gleich ganz abschaffen – aber die heute üblichen Ausschüttungsmengen dieses männlichen Sexualhormons sind eine klare Überdosis, wenn es um das Beeindrucken des anderen Geschlechts geht. Denn die hormonelle Überproduktion war nur so lange gerechtfertigt, wie der Weg zur Vaterschaft über das Besiegen eines Konkurrenten des eigenen Geschlechts führte. Für solche Hahnenkämpfe ist jedes Mikrogramm Testosteron nötig und willkommen. Wenn jedoch nicht die Hähne, sondern die Hennen entscheiden, dann muss das zu einem tendenziellen Fall der Aggressionsrate führen.

Natürlich ist das mit dem tendenziellen Fall so eine Sache – aus dem von Marx prophezeiten tendenziellen Fall der Profitrate ist ja auch nichts geworden. Und die Familienplanung ist schließlich durch die sexuelle Revolution nicht erfunden, sondern nur demokratisiert worden: Zumindest für die Kinder, die als Wunschkinder auf die Welt kamen, muss diese Art der Selektion auch in längst vergangenen Jahrhunderten gegolten haben.

Älteren Müttern geht es nicht mehr nur um die Wahl des Partners, sondern auch um die des Kindesvaters

Doch für die späten Mädchen von heute haben sich die Selektionskriterien noch auf ganz andere Weise, aber in gleicher Richtung geändert. Wer Kinder haben möchte, möchte ihnen nicht zuletzt ein ökonomisch angenehmes Dasein ermöglichen. Solange die dazugehörige Frage hieß: „Wer könnte das Zeug haben, eine ganze Familie zu ernähren?“, war die Kombination von Kampfesmut und breiten Schultern durchaus ein Selektionsvorteil. Je älter jedoch die Beteiligten werden, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit, dass die Frage anders gestellt wird: „Wer hat bereits unter Beweis gestellt, dass er eine Familie ernähren kann?“ Es kommt also nicht mehr auf das Potenzial eines Menschen an, sondern auf bereits erbrachte Leistungen.

Da nun die meisten von uns Heutigen weder Jäger noch Sammler, weder Arbeiter noch Bauern sind, hat sich nicht nur die Frage geändert, sondern auch die bestmögliche Antwort darauf: Durch den Übergang von der Industrie- zur Wissensgesellschaft haben Männer, die nur die stärksten und aggressivsten ihrer Art sind, die besten Chancen nur noch auf Arbeitslosengeld. Heute ist es weit einnahmeträchtiger, den Kopf für sich arbeiten zu lassen. Zumindest tendenziell müsste also Hirnschmalz als Selektionsvorteil an die Stelle der Muskelkraft treten, müsste Kommunikation mehr zählen als Aggression. Nur ein paar Generationen, um das steinzeitliche Relikt des aggressiven Alphatier-Gehabes loszuwerden?

Warum nicht. Die Evolution wirkt zwar wie ein langer, ruhiger Fluss – aber immer dann, wenn sich die Selektionskriterien stark ändern, kann sie auch richtig auf die Tube drücken. Meist sind es Katastrophen, die dazu führen, dass der biologische Umformungsprozess atemberaubende Geschwindigkeiten erreicht: Als vor 70 Millionen Jahren ein Meteorit die Erde rammte und für ein, zwei Jahre den Himmel verdunkelte, kühlte unser Planet so drastisch ab, dass wechselwarme Tiere wie die Dinosaurier nicht überlebten. Die damalige Krone der Schöpfung, für deren Erreichen die Evolution ja auch gut drei Milliarden Jahre gebraucht hatte, wurde in einem einzigen Winter vernichtet. In ebendiesem Winter begann der Siegeszug einer Spezies von Säugetieren, die der Schöpfung schließlich eine neue Krone aufsetzten: der Menschen. Unser Meteoriteneinschlag war die Pille. DETLEF GÜRTLER