Von der Fremde in die Fremde


Gewalt gegen Deutsche – eine „fremdenfeindliche Straftat“

aus Freyenstein HEIKE KLEFFNER

Leuchtend gelbe Rapsfelder, gesprenkelt mit dem Rot des Klatschmohns und dem Blau der Kornblumen. Bauernhäuser, dichter Wald, der auf beiden Seiten der 20 Kilometer langen Landstraße zwischen Wittstock und Freyenstein die Kornfelder unterbricht. Hinter den Traktoren, die die Ernte einfahren, stauen sich nur wenige Autos. Vielleicht hat ein Beamter in Potsdam gedacht, die russlanddeutsche Familie B. würde sich in der ländlichen Idylle im Norden Brandenburgs an die Weiten Kasachstans erinnert fühlen. Und heimisch werden in dem 1.200-Einwohner-Dorf Freyenstein.

Wahrscheinlicher ist aber, dass sich die Beamten in der zuständigen Landesbehörde gar nichts gedacht haben. Dass sie sich auch nicht an jene Zeitungsmeldungen vom vergangenen September erinnert haben. Oder sie nie gelesen haben. Damals wurden zwei junge Russlanddeutsche, zwei Brüder, nach einem Zusammentreffen mit der örtlichen Jugendleitkultur auf dem Marktplatz schwer verletzt. Familie G. aus Kasachstan verließ Freyenstein und zog mit Hilfe des Vereins Opferperspektive e. V. in die 45 Autominuten entfernte Stadt Neuruppin. Nicht ohne die Familie B. zu warnen, die im vergangenen November nach Freyenstein kam.

„Es ist sehr schwer hier für Fremde“, habe Familie G. gesagt, erinnert sich Raissa B. Die 44-jährige Krankenschwester, deren bronzefarbener Teint, ernste, dunkelbraune Augen und dunkle Haare sie in Brandenburg selbst dann zur Fremden machen würden, wenn sie fließend Deutsch spräche, sitzt aufrecht zwischen ihrer Schwester und der aus Kasachstan angereisten Schwiegermutter in ihrem Wohnzimmer. Sie habe versucht, ihre Angst vor den Söhnen Murat und Kajrat und der 14-jährigen Nichte zu verbergen. Denn damals im Winter schien sich für Raissa B. ein Traum erfüllt zu haben. „Endlich nicht mehr als Menschen zweiter Klasse behandelt zu werden.“ So wie in der Republik Kasachstan, wo die Tochter einer russlanddeutschen Mutter und eines kasachischen Vaters nie ganz akzeptiert wurde. „In Russland waren wir die Deutschen, und hier rufen uns die Kinder ‚Scheißrussen!‘ hinterher.“

Eigentlich war es der Traum ihrer Mutter, nach Deutschland zu kommen. Die war als Russlanddeutsche und Bäuerin in der Ukraine in den Zwanzigerjahren dreimal enteignet worden. Zwei Onkel von Raissa B. wurden zur Zeit der stalinistischen Umsiedlungspolitik zum Arbeitsdienst zwangsrekrutiert, die Mutter wurde gegen ihren Willen nach Kasachstan verschickt. „Ein Leben auf Bewährung“, habe die Mutter dort geführt. Als Raissa B.s Mann starb und die beruflichen Perspektiven für die Söhne schlechter wurden, lag es nahe, gemeinsam mit der Mutter, den zwei Söhnen, der Schwester und deren Tochter den Antrag auf Auswanderung nach Deutschland zu stellen. Wo sie in dem Land leben würden, in dem in den ersten drei Jahren die Behörden über ihren Aufenthaltsort als offizielle Staatsbürger entscheiden, schien da zweitrangig. Bei den Verwandten im Westen Deutschlands wäre es schön, sagt Raissa B. Da hätten die Kinder „ganz selbstverständlich“ deutsche Freunde und die Erwachsenen eine Arbeitsstelle. In Freyenstein, sagt der ehrenamtliche Bürgermeister, „gibt es keine Kontakte der Einheimischen zu den Aussiedlern und auch keine Kontaktwünsche“.

Raissa B. spricht Russisch, die Sprache ihres Vaters. Die 600 Stunden Deutschunterricht, die das Sozialamt für Aussiedler finanziert, reichen nicht aus, um die Worte auf Deutsch zu finden, die ihren Alltag in Freyenstein beschreiben könnten. Der wenig zu tun hat mit dem „Land der Gerechtigkeit und Kultur“, von dem ihre Mutter über Jahrzehnte geschwärmt hatte. So übersetzt die Dolmetscherin die Beschreibungen, wie der 19-jährige Murat mit dem Fahrrad auf der Straße zwischen Freyenstein und Wittstock von Auto- und Mopedfahrern gejagt wurde. Oder wie Mitschüler ihrer Nichte in Wittstock nach dem Sportunterricht die Turnschuhe mit Müll vollgestopft haben und ihr ein anderes Mal sagten, sie solle abhauen.

Raissa B. beschreibt Tage, die vom Fahrplan des Busses bestimmt sind: Der bringt die Familie morgens nach Wittstock – zum Deutschunterricht, Einkaufen und zum Sozialamt – und um 16 Uhr zurück nach Freyenstein. Am Wochenende fährt der Bus gar nicht. Familie B. bleibt dann nur das Fahrrad, um Freyenstein zu verlassen. „Wie sollen wir uns hier integrieren?“, fragt Murat. Auch Murats fünf Jahre älterer Bruder Kajrat ist viel Fahrrad gefahren. Wenn Raissa B. von den gemeinsamen Ausflügen der beiden Söhne in die Kleinstädte der Umgebung spricht und davon, dass ihr ältester Sohn Konflikten immer aus dem Weg ging, schaut Murat auf das Schwarzweißfoto seines Bruders im Wohnzimmerregal. Raissa B. spricht gefasst über Kajrats Tod. Nur manchmal lassen ihre Hände den kasachischen Pass und das Flugticket der Schwiegermutter los und wischen Tränen aus dem Gesicht. „Mutmaßliches Tatmotiv: Fremdenfeindlichkeit“, erfährt man bei der Staatsanwaltschaft Neuruppin auf die Frage, warum Kajrat B. sterben musste. Ein 20-jähriger Bundeswehrsoldat, ein 21-jähriger Arbeitsloser und ein 20-jähriger Lehrling sitzen wegen des Verdachts auf gemeinschaftlichen Totschlag in Untersuchungshaft. Sie schweigen zu dem Vorwurf. Einer der drei soll einen 15 Kilogramm schweren Stein auf Kajrat B. geworfen haben, als der neben seinem Fahrrad am Boden lag.

Kajrats Freund, der an jenem Abend des 4. Mai dabei war, hat Raissa B. erzählt, dass die beiden jungen Russlanddeutschen zunächst spätabends zufällig auf eine Technoparty in der Nähe des Aussiedlerheims im Wittstocker Stadtteil Alt-Daber stießen und sich spontan zum Hineingehen entschlossen. Schon beim Kauf von Cola und Bier in dem mit über 100 Jugendlichen gefüllten Raum seien sie feindselig angeguckt worden. „Vielleicht weil sie nur wenig Deutsch sprachen“, vermutet Kajrats Mutter. Kajrat und sein Freund dachten, es sei sicherer, zu warten, bis alle anderen die Party verlassen hätten. Auf die Schläge, die sie trafen, als sie früh um 4 Uhr zu ihren Fahrrädern gingen, waren sie nicht vorbereitet.

Kajrats Freund überlebte. Zunächst schien es, als würden auch Kajrats innere Verletzungen heilen. Seinen Tod am 23. Mai, sagt Raissa B., sah sie zuerst auf dem Monitor der Apparate neben Kajrats Bett. Ein Bild, mit dem Krankenschwestern das Sterben beschreiben. Sie wählt es, um Würde und Fassung zu bewahren.

Der Polizei seien die mutmaßlichen Täter nicht als Rechte bekannt, sagt Steffen Decker. Der 45-Jährige leitet die Sonderkommission „Täterorientierte Maßnahmen gegen extremistische Gewalt“ (Tomek). 115 gewaltbereite und oft rechtsextreme junge Männer in Wittstock, Pritzwalk und dem südlichen Zipfel Mecklenburg-Vorpommerns gehören zur Klientel der 14 SoKo-Beamten. „Die Dunkelziffer ist wesentlich größer“, räumt Decker ein. Nachdem im Zuständigkeitsbereich der Polizei Wittstock rechte Straftaten vergangenes Jahr um über 40 Prozent anstiegen, soll die Sonderkommission nun der Szene „auf den Füßen stehen“, wie Decker es ausdrückt.

Warum ausgerechnet Wittstock zum „Schwerpunkt rechtsextremer Gewalt“ geworden ist, darüber kann Decker nur spekulieren. Er nennt mehrere Faktoren: zunächst einen äußerst aktiven NPD-Kreisvorsitzenden – sechsmal haben die Anhänger der Neonazi-Partei in den letzten neun Monaten in Wittstock demonstriert, zuletzt am 8. Mai, vier Tage nach dem tödlichen Angriff auf Kajrat B. Seitdem erklären NPD-Kader öffentlich, auch Aussiedler seien Deutsche. Beim Trauermarsch für den Toten liefen Köpfe der rechten Szene mit den 200 Wittstockern mit. Initiiert wurde das Gedenken vom „Bündnis für ein Wittstock ohne Gewalt“, das Einwohner der Stadt samt Bürgermeister, Bundeswehrstandortkommandant, Polizei und dem evangelischen Superintendenten ins Leben riefen. Bei öffentlichen Protesten blieben sie bislang meist unter sich.

„In Russland waren wir die Deutschen und hier rufen sie ‚Scheißrussen!‘ “

Decker spricht auch von einem „fehlenden Gegenpol“ unter den Jugendlichen. Der Exodus der anders Aussehenden und Denkenden aus Wittstock begann schon in den 90ern. Als Punks am helllichten Tag auf dem Marktplatz zusammengeschlagen wurden und nachts die Wohnungstüren linker Jugendlicher unter den Stiefeltritten von Naziskins zersplitterten. Weil sich kaum jemand den Rechten entgegenstellte, ging der Terror weiter. Mit zwei Brandanschlägen auf Dönerläden etwa.

Viele Opfer verließen die Stadt. So wie Manuel G., afrodeutscher Sohn eines mosambikanischen Vertragsarbeiters und einer Deutschen. Der 18-Jährige hatte Glück. Als vier Rechte mit den Worten „Wo ist der Neger?“ vor einem Jahr die Wohnung seines Freundes stürmten, konnte er über die Balkone des Plattenbaus entkommen. Den Sturz aus dem 2. Stock in den Vorgarten überstand er fast unversehrt. Wie der Tod von Kajrat B. wird auch die Jagd auf Manuel G. bei den Behörden als „fremdenfeindlich motivierte Straftat“ geführt. Fremd ist man in Wittstock eben auch mit deutschem Pass.

Wenn Steffen Decker erklärt, warum seine Sonderkommission seit Kajrat Bs. Tod auch 40 bis 50 junge Russlanddeutsche im Visier hat, ist ebenfalls von Fremdsein die Rede. Von „gewissen Mentalitäten“, die bei einigen der 400 Aussiedler im Landkreis freigesetzt worden seien. Und von der Festnahme zweier russlanddeutscher Jugendlicher bei einer Auseinandersetzung mit Deutschen Anfang Juni.

Geschichten machen in Wittstock nun die Runde. Zum Beispiel unter „ganz normalen“ Jugendlichen, wie sie sich selbst nennen, die von „den krassen Russen“ erzählen, die jeden Abend durch die Stadt gefahren seien und auf der Suche nach Kajrats Mördern junge Männer mit kurzen Haaren verprügelt hätten. Selbst gesehen hat das keiner unter dem halben Dutzend junger Männer und Frauen.

In der 12.000-Einwohner-Stadt Wittstock gibt es weder einen kommunalen Ansprechpartner für Russlanddeutsche noch einen eigenen Jugendclub für nichtrechte und russlanddeutsche Jugendliche. Das soll sich jetzt ändern. Doch Raissa B. will darauf nicht warten. Wenige Tage vor Kajrats Tod hatte das Sozialamt dem 24-Jährigen eine eigene Wohnung zugeteilt. In Wittstock. Jetzt hofft seine Mutter, dass die Behörden ihrer Familie erlauben, Brandenburg zu verlassen.