Der Mann, der Günter Wallraff ist

Vor 25 Jahren deckte er als „Hans Esser“ die Fälschermethoden von „Bild“ auf. Was macht der Reporter eigentlich heute?

von ALEXANDER KÜHN

In diesem Jahr ist seine Meinung gefragt. Kamerateams schauen vorbei, die großen Blätter bitten um Interviews oder Gastbeiträge. Und das nicht erst im Oktober, wenn er sechzig wird und sich zum 25. Mal die Veröffentlichung seines Buchs „Der Aufmacher“ jährt, mit dem er erstmals Einblick in Springers bunte Fälscherwerkstatt gewährte. Sondern bereits in diesen Tagen. Denn am 24. Juni feiert Deutschlands größte Zeitung mit den größten Buchstaben ihren fünfzigsten Geburtstag.

Auch an diesem Sonntagnachmittag, an dem Günter Wallraff in seiner Küche steht, Kaffee kocht, verschiedene Nüsschen aus verschiedenen Tüten in Schälchen schüttet und Aktenordner herbeischleift, redet er über Bild. Wallraff ist ein leidenschaftlicher Erzähler. Nicht weil er sich gern reden hörte, sondern weil alles wieder so in ihm hochkocht, dass er sich für einen Augenblick selbst darüber wundern muss.

Ein Plakat über dem Küchentisch zeigt ihn in verschiedenen Rollen, in die er in den vergangenen Jahrzehnten für seine Untergrundreportagen geschlüpft ist. Agent deutscher Waffenlieferanten war er. Bote beim Gerling-Konzern. Und Ali, der Türke, der für einen Hungerlohn bei McDonald’s malocht und sechzehn Stunden täglich bei Thyssen kruppt. „Ganz klar: Hans Esser“, antwortet Wallraff, noch bevor die Frage zu Ende formuliert ist, welche dieser Maskeraden ihm am meisten abverlangt habe. Nirgends sonst musste er sich derart selbst verleugnen. Er drehte und fälschte Geschichten, behelligte trauernde Angehörige mit der Frage, ob sie nicht irgendein Foto des frisch Verstorbenen herausrücken könnten. Als Wallraff endlich wieder Wallraff sein durfte, lag sein Immunsystem so danieder, dass er zum Aufpäppeln in eine anthroposophische Klinik musste.

Seit 1977, als der Herbst ein heißer war, hat sich vieles geändert in Deutschland. Bild ist gesellschaftsfähig geworden. Sicherlich: Noch immer ist der „Aufmacher“ ein Thema im Deutschunterricht der gymnasialen Mittelstufe. Noch immer fragen die Lehrer, ob denn Wallraffs Einschleichermethoden gerechtfertigt sind. Und noch immer antworten die Schüler entschieden mit ja – weil es dabei doch stets um eine gute Sache gehe. Doch Bild ist nicht mehr bäh. Weder Studenten noch Geschäftsleute scheuen sich heute, in der Öffentlichkeit mit dem Blatt gesehen zu werden. Sie lesen Bild schließlich mit anderen Augen als Bauarbeiter, Hausfrauen und Rentner – sagen sie. Sie wissen ja, wie die bei Springer arbeiten und wie viel Schund in dieser Zeitung steht – sagen sie.

Günter Wallraff ist ein Anachronismus. Er hat sich mit Bild nie versöhnt. Gekauft hat er das Blatt schon lange nicht mehr. „Aus hygienischen Gründen“, lautet seine Erklärung. „Diese Zeitung ist doch pure Umweltverschmutzung. Junk Food fürs Hirn.“ Aber er ist auf dem Laufenden. Nach dem Motto „Wenn das der Wallraff wüsste“ werden ihm noch immer Ausschnitte aus der Postille zugeschickt, die Axel Cäsar Springer in einem seiner klaren Momente einmal sehr treffend seinen „Kampfhund“ genannt hat.

Nach wie vor ekelt es Wallraff an, dass Frauen, wie die englische Sun es vorgemacht hat, aus der Sicht des Luden, das heißt des Zuhälters, zum Luder abgestempelt werden. Dass „Vergewaltigungsdelikte aus der Gefühlswelt des Täters genüsslich nachempfunden werden“. Dass „die letzten Ärsche“ als seriöse Ärzte und Wissenschaftler ausgegeben werden, um Bild-gerechte Ferndiagnosen und Analysen zu liefern.

Es belustigt ihn, dass „die Klatschtante“ (gemeint ist Katja Kessler) „den Chefredakteur, der sich nach außen hin zwar seriös gibt, in Wirklichkeit aber auch Gegenstand des Klatsches, also Täter und Opfer ist“ (Kai Diekmann), heiratet und Helmut Kohl den Trauzeugen macht. Oder dass Gerhard Schröder es nötig hat, „sich einen aus diesem Geschmeiß zum stellvertretenden Regierungssprecher zu machen“ (den früheren Bild-Redakteur und Schröder-Biografen Bela Anda). „Eine feine Gesellschaft“, spottet Günter Wallraff und setzt noch einen Kaffee auf. „Eine Scheinwelt voller Leute, die ohne Bild nirgends stattfänden.“

Vertraut sind Wallraff auch die täglichen Ergüsse des Franz Josef Wagner, die mal an Franz Beckenbauer gerichtet sind, mal an Thomas Gottschalk – und, wenn sonst nichts mehr hilft, auch an den lieben Gott. Mildernde Umstände will Wallraff dieser aus der journalistischen Gosse tönenden selbst ernannten Stimme des Volkes zwar zugestehen, denn „ich habe oft den Eindruck, dass dieser Mann nicht ganz dicht ist“. Aber es dürfe nicht angehen, dass so einer „in Millionen Köpfe ausschütten darf, was er im Delirium erbrochen hat“.

Die einzig positive Äußerung über Bild, zu der Günter Wallraff sich an diesem langen Sonntagnachmittag hinreißen lässt: „Die lügen nicht mehr ganz so dreist wie früher.“ Vorsichtiger seien die Macher geworden, was Wallraff auch den Prozessen zuschreibt, die er damals gegen das Blatt losgetreten hat. „Das war neu für die. Bislang waren die es gewohnt, Berichterstatter und Richter in einer Person zu sein. Jetzt saßen sie plötzlich auf der Anklagebank.“ In mehr als hundert Fällen hat er Gegendarstellungen, Schadenersatz oder Schmerzensgeld rausgeschlagen.

Einige wenige Geschädigte nehmen noch immer Wallraffs Angebot in Anspruch, mit den besten Presseanwälten gegen Bild vorzugehen. Zurzeit kämpft er für den deutschen Geschäftsmann Helmut Hofer, dem 1999 im Iran wegen einer angeblichen sexuellen Beziehung zu einer muslimischen Frau die Todesstrafe drohte. Günter Wallraff hatte damals schon alles geplant. Ein Maskenbildner hätte sein Gesicht so verändert, dass er dem Gefangenen gleicht. Mit einem ordentlichen Trinkgeld hätte er sich Zugang zu Hofers Zelle verschafft. Dort wollten die beiden die Kleider tauschen. Hofer hätte das Gefängnis verlassen, Wallraff wäre zurückgeblieben.

Doch so weit kam es nicht: Hofer kam nach 28 Monaten frei, Wallraff musste die Maskerade nicht riskieren. Aus dem Iran zurück, meldete sich bei Hofer ein „Pressebüro Harz“. Der Geschäftsmann traf sich zum Interview. Wenige Tage später erschien eine Geschichte über ihn – nicht, wie er erwartet hatte, in irgendeiner Regionalklitsche, sondern in Bild. Tenor: Hofer sei pleite und wolle sich nach Indonesien absetzen. „Das mit Indonesien war frei erfunden“, sagt Wallraff. „Hofers Geschäfte kamen nach diesem Artikel wirklich zum Erliegen.“ Jetzt klagt Wallraff für Hofer auf Schadenersatz.

Im vorigen Jahr initiierte die Frankfurter Rundschau ein Gespräch zwischen Wallraff und Hans Hermann Tiedje, der von 1989 bis 1992 Chefredakteur von Bild war. „So einen wie den hätten wir in meiner Zeit bei Bild oft gern gehabt“, sagte Tiedje, und Wallraff hat es nicht als Kompliment empfunden – sondern als „Stich ins Herz“. Geehrt fühlte er sich jedoch durch Wolf Schneider, der anlässlich seines 75. Geburtstags in einem Interview verlauten ließ, er habe allen seinen Gegnern verziehen, bis auf einen: Günter Wallraff.

Bevor er 1979 Chef der neu gegründeten Henri-Nannen-Schule wurde, stand Schneider zu „Aufmacher“-Zeiten noch im Dienste des Axel Springer Verlags. Funktion: z. b. V. – zur besonderen Verwendung. Was konkret bedeutete: Ein Jahr lang reiste der „Sprachwolf“, wie die Berliner Zeitung ihn einmal nannte, dem Einschleicher hinterher, saß bei dessen Buchpräsentationen im Publikum und meldete sich im Namen Axel Cäsars zu Wort. Für viele Journalisten unfehlbarer Richter in Fragen des guten Stils, ist Wolf Schneider für Wallraff schlicht „ein Rassist, wie er im Buche steht“. Und zwar in seinem Buch „Zeugen der Anklage“. Dort versammelte Wallraff einige Schneider-Zitate, die eine Journalistenschülerin mitgeschrieben und an ihn geschickt hatte. Kostprobe: „Die Neger sind nun mal nicht so intelligent wie die Weißen, weil sie nur auf Körperkraft hin gezüchtet worden sind.“ Der ehemaligen Schülerin soll Schneider inzwischen verziehen haben.

Freude erzeugte in Wallraff auch Ernst August von Hannover. Nachdem Bild auf Seite 1 sein Wasserlassen am türkischen Expopavillon breitgetreten hatte, griff der Prinz zum Telefon, wählte die Nummer von Bild Hannover und beschimpfte die Redaktionsleiterin als „alte Fotze“. Was jede Frau mitgenommen hätte, traf Anne-Kathrin Berger um so härter. Sah sie doch schon zu Hans Essers Zeiten ihre Berufung als Hofberichterstatterin der Welfendynastie. Im „Aufmacher“ wurde sie zu einer der Hauptfiguren, weil sie „jeden Furz aus dieser Sippschaft parfümierte“. Genüsslich zerkaut Wallraff ein Nüsschen und meint: „Da hat es wohl mal die Richtige erwischt.“

Als bereits die Nacht hereingebrochen ist über Köln-Ehrenfeld, die Küche, den Kaffee und die Nüsschen, muss noch jene Frage kommen, die dem Stern eine ganze Seite wert ist und die einem jeder als Erstes stellt, wenn man von einer bevorstehenden Verabredung mit Günter Wallraff berichtet: Was macht der eigentlich zurzeit? Also: Ende des Monats wolle er gemeinsam mit Cap-Anamur-Gründer Rupert Neudeck nach Afghanistan reisen, sagt er, und dass es sich um eine Erkundungsreise handle, dass es um Menschenrechte gehe und er noch gar nicht wisse, ob es am Ende für eine Veröffentlichung reiche.

Letzte Frage: Die Zeit der Rollenreportagen ist vorbei, oder? Nein, er bereite gerade eine neue Rolle vor. „Die gesellschaftliche Entwicklung erfordert es.“ Mehr kann er dazu nicht sagen. Die allerletzte Frage erübrigt sich: Für den geplanten Besuch beim Griechen um die Ecke ist es jetzt zu spät geworden.

ALEXANDER KÜHN, 26, war Praktikant bei „Bild“ Berlin, Medienredakteur der taz und drückt ab August die Henri-Nannen-Schulbank