In Sachen Frau Maja

Wanda Goll war fünf, als ihre deutsch-ukrainische Familie 1943 „heim ins Reich“ geholt wurde. Was folgte, war eine Odyssee durch Thüringen und Hessen, die 1948 mit der Repatriierung in der Sowjetunion endete. Heute wünscht sich Wanda, die Spielkameraden ihrer deutschen Kindheit noch einmal sehen zu können. Auf den Spuren einer doppelten Vertreibung

von KATHARINA BORN

Wera Prokoptschuk sagt, die Seele tut ihr weh, wenn sie daran denkt, was alles hätte sein können in ihrem Leben. Wenn sie in Browary am Stradtrand von Kiew unter dem Kirschbaum die Bohnen putzt oder in der winzigen Küche Marmelade einkocht, dann träumt Wera von Mansbach. Sie denkt an die Zeit, als sie noch Wanda Goll war, die Kleine mit den dicken Zöpfen. Sie ging bei Lehrer Patt und Fräulein Liebich zur Schule und sonntags um elf in die Kirche. Nachmittags spielte sie mit den Nachbarskindern „Himmel und Hölle“. Und abends, wenn sie mit den vier Geschwistern im Bett lag, hörte sie die Eltern noch lange reden – auf Ukrainisch, wie in einer geheimen Sprache, die nur die Golls verstanden.

Heute ist Weras größter Wunsch der Aufnahmebescheid für die ganze Familie nach Deutschland. Ihr zweitgrößter Wunsch wäre, dass ihr Jüngster endlich eine gute Arbeit fände. Fast schämt sie sich, so privat ist ihr dritter Wunsch. Sie wüsste gerne, was aus den Töchtern der Nachbarin geworden ist, für die ihre Mutter in Mansbach den Garten pflegte und die „so gut zu ihr waren“.

Sie habe schon viele Besucher gebeten, ihr bei der Suche zu helfen. Im Begegnungszentrum der Volksdeutschen in Kiew, wo sie als Putzfrau aushilft, kommen ja schon mal Leute vorbei. Bisher sei nie ein Brief aus Deutschland zurückgekommen. Aber sie schreibe gerne noch einmal alles auf. Zwei Fotos hat sie auch noch – von ihren Eltern Friedrich und Maria Goll 1945 in Mansbach mit den fünf Kindern, von dem Haus, in dem sie gewohnt haben, gegenüber der Kirche, gleich bei dem schönen Haus der Spielkameradinnen. Die hießen Marianne, Wiebke und Heide (sie schreibt es kyrillisch, „Gaide“), das erinnert sie. Die Mutter habe Frau Maja geheißen oder Mai, aber vielleicht sei das auch der Nachname gewesen. Ob sie am Leben sind, will sie wissen, und ob sie sich an Wanda Goll erinnern. „Denn ich werde immer an sie denken“, sagt Wera.

Der Schulbus aus Hünfeld kurvt gemächlich über die Hügel, hinter denen weiß die Kaliberge aufragen, durch Eiterfeld, Ufhausen, Soislieden bis zur Endstation Ortsteil Mansbach, Gemeinde Hohenroda in der hessischen Rhön unweit der ehemaligen Zonengrenze. Ein älterer Junge und drei Mädchen laufen schnell in die umliegenden Gassen auseinander. Die Haltestelle liegt gegenüber der Kirche, die beiden Schlösser rechts und links der Buttlarstraße, die das Oberdorf vom Unterdorf trennt. Zwischen den zum Teil verlassenen Fachwerkhöfen haben Neckermann und Otto eine Versandstelle. Zwei Mädchen kurven auf Fahrrädern vor dem Nahkauf herum.

Pfarrer Harald Krüger schreibt die Trauerrede immer in letzter Minute, sagt er. Das geht natürlich an die Nerven. Die winzige Küche des Pfarrhauses hat er in eine Art Empfangsraum umgewandelt, auf dem Sofatisch steht eine Schüssel mit Schokoplätzchen. Mansbach habe große Veränderungen mitgemacht, sagt Krüger und wühlt in einem Papierstapel. Die glorreiche Vergangenheit von Rennpferden, Reiterfesten und dem Remonteamt zur Aufzucht der Jungpferde der Wehrmacht, „da werden die Leute gerne nostalgisch“.

Der Großteil der Flüchtlinge sei bald weitergezogen, sagt Krüger – Ausgebombte, Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene und Ungarndeutsche. Als nach dem Krieg das Militärgestüt nicht mehr gebraucht wurde, gab es ja auch keine Arbeit mehr. Vor allem jüdische Auswanderer suchen heute in Mansbach nach Spuren ihrer Familiengeschichte. Kürzlich habe sogar ein Nachkomme des alten Adelsgeschlechts von Geyso aus Südafrika begeistert die Mansbacher Schlösser besichtigt. Als Pfarrer höre er so seine Geschichten. Aber er könne selten weiterhelfen.

Jetzt blättert er im Taufregister. „Hier ist was“, schnalzt er. „Vater Friedrich Goll, Mutter Maria, geborene Susulja.“ Das sind die Namen von Wandas Eltern. Getauft wurden die Kinder Eduard und Waldemar. Paten waren Friedrichs Bruder August und seine Frau Elisabeth Goll. Am Rand eine Notiz: „Volksdeutsche Familien aus der Ukraine“, könnte das heißen, einigt sich Krüger mit seiner Frau. Ob Wanda Goll denn auch nach Deutschland kommen will, fragt er. Im Vertrauen, er kenne da einige Familien, da frage man sich, ob ihnen das wohl tut, dass sie jetzt hier sind.

Ja, der Name Wanda Goll sagt ihr etwas. „Die ist mit mir in die Schule gegangen“, sagt Margritt Toth, 62, „bei Lehrer Patt.“ Das Haus, in dem sie gewohnt hat, sei abgerissen. Mehr wisse sie beim besten Willen nicht. „Ist ja bald ein Menschenalter“, sagt die Oberwirtin, und spricht das t wie ein d. Dann entschuldigt sie sich und stellt sich wieder hinter die surrende Wurstschneidemaschine.

Die letzten Trauergäste verlassen den Saal. Jetzt können auch Margritt Toth, ihr Mann Lutz, Tochter Heike, Enkel Johannes und die Mutter Else Berk in der Küche zu Abend essen. Vier Generationen, drei Stockwerke, eine eigene Metzgerei mit Verkaufsstelle, Gästezimmer und, seit dem Umbau, zwei große Säle – seit dreihundert Jahren werden im Oberwirtshaus „Zum Löwen“ die Hochzeiten und Todesfälle von Mansbach begangen. Bis zum Ersten Weltkrieg wurden im Saal die Kinder unterrichtet. Hier gab es das erste Telefon. Und schon immer hat der Oberwirt eben zum Oberdorf den Hügel herauf gehört, während der Unterwirt, ein Haus weiter und leider bankrott, eben zum Unterdorf und den alten Schlössern gehört hat.

Und deshalb, sagt Else Berk, 88, erinnert sich ihre Tochter auch nicht mehr an Wanda. „Margritt hat doch immer hinter dem Haus in der Judengasse gespielt.“ Die Kinder vom Unterdorf dagegen seien eben im Unterdorf geblieben. Über das Foto von Wanda und ihrer Familie lacht die alte Oberwirtin. „Genau in so einem Hahnenkamm hat unsere Margritt ihr Haar damals auch getragen.“ Else Berks Mann war an der Front, dafür bekam sie eine Zwangsarbeiterin „aus dem Lager“ zugeteilt – Olga Romanenko. „Die konnte so gut Deutsch, die hat immer den Völkischen Beobachter gelesen.“ Dann brachte der Mann den kleinen Iwan von der Front mit, gerade fünfzehn Jahre alt, ein Überläufer. Keiner wusste, was machen mit dem, da hat er ihn einfach mitgebracht. Und dann war da noch Lewitzky, ein Kriegsgefangener. Der hat später in Breslau seine eigene Metzgerei aufgemacht mit dem Zeugnis des Oberwirts.

„Nach dem Krieg wollten die nur heim“, sagt Else Berk. „Die haben ja auch ständig diese Sonnenblumenkerne gegessen – ukrainische Schokolade haben wir das genannt.“ Olga und Iwan seien bestimmt „nach Sibirien verschafft“ worden. „Sonst hätten die geschrieben.“ Schließlich „hätte denen ja allen ein bisschen Geld gehört“. Und es habe ja auch schöne Zeiten gegeben. Als sie den Mädchen Büstenhalter genäht hat. Oder als Olga in der Küche getanzt hat, nachdem die Amerikaner weg waren.

Johann Kellner, 80, geht bedächtig, die abgewetzte Stoffmütze in der einen, die Schlüssel in der anderen Hand, zur Kirche. Seit zwanzig Jahren ist er für die Glocken zuständig. Von zwei Uhr bis viertel nach lässt er sie zum Begräbnis läuten. Dann stellt er sie wieder ab. Das geht automatisch mit dem Schlüssel. An die Gollbrüder, Fritz und August, erinnert er sich noch gut, sagt er. Schließlich haben die zur gleichen Zeit wie er im Kavaliersschlösschen gewohnt.

Kellner wurde mit dem gesamten Dorf aus Ungarn vertrieben. Als er 1946 nach Mansbach kam, grüßte ihn auf der Buttlarstraße dieser junge Mann, nicht viel älter als er selbst. „Du kommst wohl nicht aus dieser Gegend“, hat Kellner gesagt, das hat er gleich am Dialekt gemerkt. Und der andere, das war Fritz Goll: „Uns hat man alles Mögliche versprochen, wenn wir herkommen.“ Und er: „Und uns hat man aus Bessarabien rausgeworfen.“ Da haben sie gelacht, sagt Kellner. „Jetzt waren wir ja beide Arbeiter, ohne Haus, ohne Acker.“

„Als die Golls nach dem Krieg wieder weg sind aus Mansbach, hab ich noch gesagt, auf was sie sich da einlassen, was sie wohl denken, was ihnen da blüht in Russland.“ Kellner reibt sich den Nacken. „Aber was weiß ich, was gewesen wäre, wenn ich hätte heimkönnen. Wer hat denn damals schon was zu sagen gehabt.“ Später sei er eben sesshaft geworden. Seine Frau war aus Mansbach. Wie hätte er der das erklären sollen.

Wanda war drei, ihre Cousine Anna sieben Jahre alt, als die deutschen Truppen 1941 die Ukraine besetzten und die Familien der beiden Gollbrüder als Volksdeutsche registrierten. „Wir wollten nicht gehen“, sagt Anna Goll, heute Bauer, am Telefon. „Wir hatten gerade neue Häuser gebaut und in der Kolchose gab es viel Arbeit.“ Aber als 1943 die Rote Armee näher rückte, wurden die Bauern aus den Dörfern geprügelt. „Wenn der Russe reinkommt“, sagten die Soldaten den Gollbrüdern, als die Partisanen schon angriffen, „dann schlägt der euch alle tot.“

Die beiden Gollfamilien, so bestätigt ein Mitarbeiter des Berliner Bundesarchivs, erreichten im November 1943 die Einwandererzentralstelle (EWZ), Kommission Waltershausen im Gau Thüringen. Hier wurden die Volksdeutschen „geschleust“, erfasst, untersucht und in allen Instanzen befragt. Denn Himmlers „Heim ins Reich“-Politik sah den Einsatz in Rüstung und Landwirtschaft an der Heimatfront vor.

In der Karteikarte der EWZ Litzmannstadt (heute das polnische Lodz) und in den Stammblättern ist vermerkt, dass Wandas Vater, Friedrich Goll, drei Jahre die russische Volksschule besucht hat, keiner Partei, keinen Vereinen angehört und von 1933 bis 1936 in der Roten Armee gedient hat. Zehn Hektar Acker, drei Pferde, vier Rinder, vier Schweine, die Golls Vater in Wydumka gehörten, seien 1931 von sowjetischen Behörden enteignet worden. Im Einbürgerungsantrag ist dem „Herdvorstand“ die Durchschleusungsnummer 927518 zugewiesen, der Frau die folgende 927519. Der Vater spreche gutes Deutsch, heißt es in den Dokumenten, die Mutter Maria kaum, die Kinder teilweise.

Friedrich Golls Einbürgerungsantrag wurde mit der Abschlussverfügung vom Mai 1944 zurückgestellt. Die Ehefrau des Antragstellers sei ukrainischer Abstammung, die Familie somit ein „Mischfall“ und „ungenügend eingedeutscht“. Laut Stellungnahme des „Volkstumssachverständigen“ gebe es aber keine „erbbiologischen Bedenken“. Im Allgemeinen, so ein Mitarbeiter des Bundesarchivs, sollte sich die Familie in solchen Fällen ein Jahr lang in einem deutschen Gau bewähren und dann vor Ort erneut entschieden werden.

Wandas Vater wurde als Schleifer in der Rüstungsfabrik Henschel Flugzeugmotoren eingesetzt. Die Familie kam in Kassel-Oberzwehren im Wohnlager Mattenberg unter, Baracke 37. Wanda war sechs, als die Bomben der Alliierten auf die Stadt niedergingen. Sie verbrachte die Nächte mit ihren Geschwistern im Keller. „Die konnten gar nicht mehr sprechen vor Angst“, sagt Anna Bauer. Über das Rote Kreuz konnte Friedrich den Bruder in Mansbach ausmachen. Annas Familie war, weil beide Elternteile deutschstämmig waren, längst eingebürgert worden.

Die Oberwirtin sagt, der Erik, an den Wera sich erinnert, das könnte Erich Reineke sein, der Ingenieur mit der Zwillingsschwester Erika. Ursula, das war vielleicht Ursula Schweiger, früher Hoffmann. Hückmanns Bärbel könnte sie meinen aus Oberbreitzbach und Beckers Marianne. Und dann fallen dem Oberwirt doch noch die Meyers ein: Wiebke, Marianne, Heide und der Ältere, Peter. Aus Norddeutschland waren die und haben im Blauen Schloss gewohnt. Ihr Vater war Inspektor im Remonteamt. „Die sind ja alle wieder in die Städte gegangen“, sagt Margritt Toth. Von damals dreißig Schulkameraden seien aus ihrer Klasse nur noch sie und drei Jungen übrig.

Ob es sich bei den Golls um Ansprüche für Zwangsarbeit handle, will die Dame vom Einwohnermeldeamt im Nachbarort Oberbreitzbach wissen. Da gebe es ja nun einige Anfragen für das nahe Lager Friedewald. Vier schwere Papiermappen schafft Frau Schabel heran, mit grauem Faden zusammengebunden: die Meldungen in Mansbach von 1945 bis 1947. „Für ein Dorf von knapp tausend Einwohnern natürlich eine Menge Bewegung“, sagt sie. Das Remonteamt habe viel Hin und Her von außerhalb verursacht. „Und dann kamen ja schon die Flüchtlingsströme.“

Sie habe selten Zeit, solche Mappen durchzugehen, sagt Frau Schnabel. Es sei ja alles durcheinander. Anmeldungen, Abmeldungen, keine Ordnung, und vieles sei kaum noch zu lesen. Doch dann findet sie die Abmeldung einer Frau Meyer, Elise Klara Martha, geborene Breuning, Hausfrau, verwitwet. Tochter Wiebke, Jahrgang 36, Marianne, Jahrgang 38, und Heide, Jahrgang 39, wohnhaft seit 1940 im Schloss. Verzogen nach Lauterbad im Kreis Freudenstadt im September 1947.

Frau Schabel kombiniert: Wenn Frau Meyer verwitwet ist, müsste das irgendwo festgehalten sein. Wenig später findet sie im Regal der Kollegin vom Standesamt die Sterbeurkunde des Oberstabsveterinärs Hans Meyer, Divisionsstab, ab 1940 in Mansbach gemeldet, Todesstunde unbekannt, am 24. April 1945 zwischen Dietersheim und Illertissen in Süddeutschland gefallen.

Das Kindermädchen hieß Hulda“, sagt Wiebke Meyer, die heute Grote heißt, am Telefon. „Und da war ein kleiner Teich zum Schlittschuhlaufen.“ Die Dienstwohnung im Schloss sei schon toll gewesen, sagt Heide Meyer, die heute Basse heißt. „Wir hatten unendlich viel Platz“, und ja, daran erinnert sie sich, sie hätten mit Kindern gespielt „die gar nicht so gut Deutsch konnten“. Wiebke sagt, sie wollte damals immer eine Schürze tragen wie die anderen Mädchen und lange Zöpfe hinter den Ohren. Aber die Meyerschwestern trugen die neueste Mode – Affenschaukeln, kurze Röcke und die passenden Bauschunterhosen. „Wir gehörten zum System“, sagt Peter Meyer. „Eine höhere Charge als meinen Vater gab es in Mansbach nicht.“ Die Position des Oberstabsveterinärs im Mansbacher Remonteamt nahm Hans Meyer nie wahr. Er wurde an der Front gebraucht.

Ganz Hohenroda weiß inzwischen von der Suche nach der verlorenen Kindheit der Wanda Goll. Im Einwohnermeldeamt von Oberbreitzbach laufen alle Fäden zusammen. Frau Schabels junge Kollegin schreibt die Adresse ihrer Großmutter in der Ulsterstraße auf. Käthe Rudolf hat damals im Schloss „die Küche gemacht“. Sie wisse bestimmt noch etwas über die Meyers. Heike Toth vom Oberwirtshaus bietet den Schlüssel für die Heimatstube an. Dort seien all die alten Fotos zu sehen. Der Pfarrer Krüger hat Doris Reim von der Töpferwerkstatt eingeschaltet. Sie rät, im Lokalanzeiger zu inserieren. Und Frau Schabel findet die Anmeldung der Familie Goll.

Friedrich Goll, ab März 1945 in Mansbach, im Behelfsheim untergekommen, heißt es dort. Frau Maria, geboren 1915 in Wydumka, mit den Kindern Lotte, geboren 37, Wanda, geboren 38, und dann im Abstand von zwei Jahren Alexander, Eduard und Waldemar, schon in Thüringen geboren. Die Staatsangehörigkeit ist mal als russisch, mal als deutsch, mal als unbekannt angegeben. An anderer Stelle endlich eine Notiz über die Familie des Bruders August Goll: „Am 28. Februar 1948 zurückgeführte Staatsangehörige Russlands.“

Beim Rübenhacken auf dem Feld hinter Mansbach hätten die Russen plötzlich auf die Brüder geschossen, über die Zonengrenze weg, sagt Anna Bauer. Friedrich und August Goll rannten nach Hause. Aber die amerikanischen Besatzer waren nicht mehr im Ort und die Sowjets kamen mit großen Lastwagen. Als „Predatel“, Verräter, seien sie beschimpft worden, und wenn sie nicht gleich ihre Koffer holten, würden alle erschossen.

Zu Tausenden, sagt der Mitarbeiter des Bundesarchivs, seien die Russlanddeutschen nach dem Krieg in die Sowjetunion abgeschoben worden – auch die eingebürgerten. Im Klartext heiße das, sie wurden von den jeweiligen Besatzern nach dem Abkommen von Teheran an die Sowjetbehörden übergeben, verhört und als Staatsverräter in die Lager nach Sibirien deportiert. Über die von den Sowjets gewollte so genannte Repatriierung, so der Mitarbeiter im Bundesarchiv, habe – gerade in der ehemaligen DDR – Stillschweigen geherrscht. Fairerweise müsse man sagen, die westlichen Alliierten hätten die Menschen ja auch regelrecht ausgeliefert. „Man wusste einfach nicht, wohin mit den vielen Flüchtlingen.“

Sich erinnern ist schön, sagt der Oberwirt. „Arbeitslos, arbeitslos, oh wie ist die Not so groß“, brummt er mit wenig Melodie, und „hab kein Obdach, keine Heimat“. Lutz Toth, 67, trinkt nachmittags in der leeren Gaststube ein Bier, wenn die Frauen noch Mittagsruhe halten. Eigentlich heißt er Ladislaus. Wie Johann Kellner kam er 1946 aus Ungarn, bevor er die Tochter des Oberwirts heiratete. Vierzehn Tage dauerte die Fahrt im Viehwaggon. „Das war ’ne dreckige Zeit.“ Zu siebt hätten sie dann in einer Stube gewohnt im Kavaliersschloss mit dem Kellner-Hans. Da war „Schmalhans Küchenmeister“. Mit Lumpen haben sie einen Fußball gebastelt im Unterdorf und „Ecke Popecke, wo kommste her“ gespielt oder „Luftschutz“.

Plötzlich fällt es ihm ein. „Die mit den vielen Kindern!“, sagt der Oberwirt. „Sascha, Lotte, Wanda und das kleine Wodchen.“ Das seien so „flotte Mädchen“ gewesen, „mit Zöpfen bis zum Hintern“. Da habe er immer geguckt auf dem Flur im Kavaliersschloss, damals als Dreizehnjähriger. Aber dann hat die Mutter sie gleich zurückgepfiffen – auf Ukrainisch.

Anna Bauer sagt, dass ihre und Wandas Familie zurück in die Ukraine kam und nicht nach Sibirien deportiert wurde, war kaum mehr als ein Zufall. Die Waggons seien fehlgeleitet worden. Der Kolchosvorsitzende hat gedroht, sie alle zu erschießen. Aber in Wydumka gab es „viel Arbeit und keine Arbeiter“. Die Brüder Goll seien zwei Monate lang zum Verhör beim NKWD gewesen, aber darüber wurde geschwiegen. Anfangs konnten sie noch das Nötigste aus der Kolchose stehlen, sagt Weras Cousine. „Später haben wir das Schwein verkaufen müssen, und es hieß wieder barfuß gehen“. Ihre Häuser bekamen die Golls nie zurück, Deutsch durften sie nur in der Stube sprechen, in der Schule wurden sie verprügelt, selbst die Kolchosabgaben waren für sie höher als für alle anderen.

Anna Bauer lebt heute mit ihrem Mann und vier erwachsenen Kindern als Spätaussiedlerin in Würzburg. Die Einbürgerungsurkunde, 1944 von Himmler persönlich unterschrieben, hat die Familie von August Goll nach ihrer Rückkehr 1947 in die Ukraine und später in Kasachstan versteckt. Dank des Papiers konnten Anna Bauer und ihre Geschwister Anfang der Neunzigerjahre problemlos in die Bundesrepublik auswandern. „Das Leben in Wydumka war auch vor dem Krieg nicht leicht“, sagt Anna Bauer. „Aber damals waren wir noch Menschen, später nur noch Faschisten.“

Else Berk sagt, als die Amerikaner kamen, wurde das Leben in Mansbach schwer. Erst hätten die sogar auf die Gaststube geschossen. Später haben sie sich mit Schokolade entschuldigt. Die Oberwirtin musste die Betten hergeben für die GIs, die haben sich im Schloss eingerichtet. Der Neffe ist auf den Matratzen rumgehopst, und als einer der Amis ihn you kleiner Nazi nannte, hat er geantwortet: „Ich nich, mein Opa Nazi!“ Else Berk lacht. Niemand sei Nazi gewesen in Mansbach. Nur war das Oberwirtshaus eben das Parteilokal und ihr Mann bei der Waffen-SS. Dabei habe er selbst gelitten in der Partei und sich gefürchtet. „Sag nichts, hat er immer gesagt, die holen dich nachts aus den Betten.“ Wenn Hitler den Krieg gewinnt, hat er gesagt, dann werde man sie alle in den Osten deportieren, so viel sei sicher. Schließlich brauche man dort eine Besatzungsmacht.

„Operettenhaft“, sagt Peter Meyer, so habe er damals das Nazitheater in dem hessischen Dorf empfunden. Der alte Pfarrer Kupferschmidt habe noch für den Sieg der deutschen Waffen gebetet, da waren die GIs schon in Mansbach. Der Ortsgruppenleiter Mannel habe im Oberwirtshaus flammende Kampfappelle verlesen – und war gleich darauf verschwunden. „Niemand hat da was verteidigt.“

Später habe man ihre Kinder in der Schule Nazischweine genannt und dem Bernhardiner einen Backstein an den Kopf geworfen, sagt Else Berk. Aber sie hat sich ihren Stolz nicht nehmen lassen. Sie hat gelernt, für den Ami die Eier beidseitig zu braten, mit Ketchup drauf. Einmal kam der kleine Iwan, den ihr Mann von der Front mitgebracht hatte, plötzlich auf einem Fahrrad an. Als die Oberwirtin ihn fragte, woher er das habe, hat er gesagt, er habe es einem Deutschen abgenommen. „Comme ci, comme ça – mal so, mal so, haben die Russen immer gesagt, als der Krieg verloren war.“

„Es ging mit dem Rucksack über das Feld“, sagt Heide Basse. Als die Amerikaner das Blaue Schloss besetzten, waren die Meyers zunächst beim Hausarzt untergekommen. Aber bald schienen die Mansbacher für jedes Stück Brot gleich Familienschmuck zu erwarten. Und davon war kaum noch etwas übrig. Bei den Verwandten hatten sie wenigstens ein Dach über dem Kopf. „Das war wie eine Weltreise damals nach Freudenstadt“, sagt Wiebke Grote.

Klein, schmächtig, im verwaschenen Kittelkleid, das Gesicht voller Lachfalten, das gefärbte Haar unter dem bunt geblümten Kopftuch – Wera Prokoptschuk ist eine Babuschka, ein Großmütterchen, wie es in der Ukraine Millionen gibt. Sie lebt gemeinsam mit ihren Söhnen, Sascha und Wolodja, deren Frauen, den Enkelkindern Ilja und Elena und der Mutter Maria am Stadtrand von Kiew. Wolodja hat endlich Arbeit als Schuhverkäufer. Ab und zu bringt auch Sascha etwas Geld mit nach Hause. Eine kleine Wirtschaft mit Hühnern, Gänsen, Kartoffeln und Mais hält die Familie über Wasser. Im vorigen Mai haben alle zusammen im Garten Maria Golls 85. Geburtstag gefeiert. Noch heute spricht sie bei solchen Anlässen gerne ein paar Worte Deutsch. Die lassen meine Kinder nicht nach Deutschland, sagt sie dann und wippt den kleinen Ilja auf dem Schoß. Wenn sie jünger wäre, würde sie zur Grenze gehen und denen Bescheid geben, sagt sie.

Frau Meyer starb im Alter von 84 Jahren. Marianne Meyer lebt noch heute in Freudenstadt und arbeitet als Altenpflegerin. Auch der Sohn, Peter Meyer, ist dort geblieben. Als gelernter Jurist ging er „in die Industrie“, vor einem Jahr wurde er Großvater. Wiebke Grote gibt Französischkurse an der Volkshochschule in Eckernförde und hat drei Söhne aus erster Ehe. Die Jüngste, Heide Basse, lebt in Oldenburg. Auch sie hat Sprachen unterrichtet und zwei erwachsene Töchter. Die Geschwister sind wild entschlossen, sagt Wiebke Grote, „sich um die wiederentdeckten Spielkameraden aus der Kindheit zu kümmern“. Einen Brief wollen sie schreiben, als Allererstes, und fragen, womit sie helfen können.

Nachmittags kommen zwei Mädchen die Treppe zum Oberwirt in Mansbach herauf. Margritt Toth unterbricht das Wurstschneiden. „Kann Johannes rauskommen zum Spielen?“, fragen die beiden. „Der macht Hausaufgaben“, sagt sie, und dann ruft sie ihn doch. „Noch halten die zusammen.“ Margritt Toth wischt sich die Hände am Küchenhandtuch ab. „Nächstes Jahr kommen sie auf die weiterführenden Schulen. Dann trennen sich die Wege.“

KATHARINA BORN, 28, arbeitet als freie Journalistin in Paris und Berlin. Wera Prokoptschuk lernte sie während ihrer Arbeit für eine deutsch-ukrainische Zeitung in Kiew kennen