Antijüdisches Klischee

Viele Menschen erklären die Politik Israels gegen die Palästinenser mit typisch jüdischer Rachsucht – und sitzen damit einem christlich inspirierten Vorurteil auf. Denn in der Thora ist „Auge für Auge“ zu lesen, nie „Auge um Auge“. Ein Essay zur Klärung einer Differenz

von DAVID BOLLAG

Eines der hartnäckigsten antijüdischen Vorurteile drückt sich in den Worten „Auge um Auge“ aus. Mit dieser angeblich aus der Thora stammenden Formel wird Juden bis heute vorgeworfen, Rache sei das Prinzip ihres Verständnisses von Gerechtigkeit, ihr Gott sei – im Unterschied zum „christlichen“ Gott – ein grausamer und rachsüchtiger Gott und Frieden mit dem Volk und Staat Israel deshalb niemals möglich.

Die Übersetzung „ajin tachat ajin“ (21:24) als „Auge um Auge“ ist vollkommen falsch. Sie widerspricht dem jüdischen Verständnis der Thora und ist meistens Ausdruck einer antisemitischen Grundeinstellung. Sie widerspiegelt häufig das Rechtsverständnis und die Rachsüchtigkeit der Person, welche die Thora falsch versteht und verurteilt.

„Ajin tachat ajin“ bedeutet „Auge für Auge“ und beinhaltet ein grundlegendes halachisches Prinzip, also des jüdischen Religionsgesetzes. Ein Mensch, der einem anderen Menschen eine Verletzung zugefügt hat, wird von der Thora verpflichtet, die Verletzung finanziell zu entschädigen. Unsere mündliche Thora (der Talmud) erklärt und diskutiert ausführlich (Bawa Kama, Kap. 8), dass diese finanzielle Entschädigung auf fünf Gebieten zu leisten ist: Schadenersatz, Schmerzensgeld, Heilungskosten, Arbeitsausfallersatz und Schamgeld (wenn sich jemand geniert, mit einer körperlichen Verletzung sich öffentlich zu zeigen).

In keiner jüdischen Quelle ist die Rede davon, dass einem Menschen, der einem anderen – mit oder ohne Absicht – ein Auge ausgeschlagen hat, als Strafe dafür sein eigenes Auge ausgeschlagen werden soll.

Die exegetische, also die gesamte interpretierende Literatur zur Thora kennt natürlich das alte Vorurteil von „Auge um Auge“ und wehrt sich mit drei Hauptargumenten dagegen:

1. Tradition und Praxis

Es hat in der ganzen jüdischen Geschichte nie ein Bet Din (rabbinisches Gericht) gegeben, das einem Menschen ein Auge ausgeschlagen hat, als Strafe dafür, dass dieser einem anderen ein Auge ausgeschlagen hat. Seit der Offenbarung am Berg Sinai bis heute ist jedem rabbinischen Gericht klar, was „ajin tachat ajin“ bedeutet: Der Angeklagte muss die Verletzung, die er einem anderen zugefügt hat, finanziell entschädigen (so zum Beispiel der im 12. Jahrhundert lehrende jüdisch-spanische Philosoph Moses Maimonides, genannt Rambam).

Jüdische Tradition und Praxis allein sind Beweis dafür, dass „ajin tachat ajin“ nicht „Auge um Auge“ heißen kann, sondern dass es sich hier um eine finanzielle Entschädigung handelt: Auge für Auge.

2. Sprache

Das Wort „tachat“ in der Formulierung „ajin tachat ajin“ wird bei der falschen Interpretation der Thora als „Auge um Auge“ übersetzt und soll die Basis des alten „biblisch-jüdischen“ Prinzips von „wie du mir, so ich dir“ beinhalten. Diese Interpretation ist Zeugnis mangelnder Kenntnis und eines fehlerhaften Verständnisses des Textes und der Sprache der Thora.

Es finden sich einige Stellen in der Thora, welche das Wort „tachat“ verwenden – sowohl in unmittelbarer Nähe unseres Verses (21:36, 37) als auch an ganz anderer Stelle (3. B. M. 24:18) – welche explizit erklären, dass die Strafe des Täters aus einer finanziellen Entschädigung für den zugefügten Schaden besteht. Dieses Wort findet sich also in der Thora einige Male mit einer Bedeutung, dass ein Schaden finanziell zu begleichen ist (vergleiche den im 13. Jahrhundert lebenden Bibel- und Talmud-Kommentator Nachmanides, genannt Ramban). Das Wort „tachat“ als Beweis anbringen zu wollen, das „Ajin tachat ajin“ als „Auge um Auge“ zu verstehen sei, ist demnach falsch und ist Ausdruck einer offensichtlichen Unkenntnis der Sprache der Thora.

3. Verstand

„Ajin tachat ajin“ als „Auge um Auge“ zu interpretieren, widerspricht jeglicher Vernunft und jeglichem Sinn für Gerechtigkeit. Die der antijüdischen Polemik ausgesetzten jüdischen Exegeten und Denker weisen in ihrer differenzierten Argumentation auf eine Fülle von juristischen Fällen hin, in denen die Sinnlosigkeit und Ungerechtigkeit des Prinzips „Auge um Auge“ offensichtlich wird.

Wenn beispielsweise ein Mensch, der nur auf einem Auge sieht, einem anderen Menschen, der zwei gesunde Augen hat, ein Auge ausschlägt und ihm zur Strafe das eine gesunde Auge ausgeschlagen werden soll, so zeigt sich die Ungerechtigkeit dieses Prinzips. Denn während der eine dem anderen durch das Ausschlagen eines Auges einen schmerzhaften dauernden Schaden zugefügt hat, würde die Strafe in keinem vernünftigen Verhältnis zum zugefügten Leid stehen, da dem Täter das Augenlicht genommen und er somit erblinden würde.

Da für Juden klar ist, dass die Thora keine sinnlosen, jedem Sinn von Gerechtigkeit entgegengesetzten Prinzipien aufstellt, kann mit den Worten „ajin tachat ajin“ nur gemeint sein, dass der Täter seinen Schaden finanziell zu begleichen hat.

Eigentlich wollen und dürfen wir uns keine Illusionen machen, dass es uns mit einigen, wenn auch noch so schlagkräftigen und überzeugenden Argumenten gelingen könnte, einem uralten und tief verwurzelten Vorurteil den Boden unter den Füßen zu nehmen. Für uns wollen wir, erstens, wissen, weshalb „ajin tachat ajin“ „Auge für Auge“ bedeuten muss, und zweitens wird es uns dadurch in kleinen Schritten vielleicht doch eines Tages gelingen, zu beweisen, was die Thora mit den Worten „ajin tachat ajin“ wirklich meint.

Rabbiner DAVID BOLLAG, Jahrgang 1958, lehrt an der Hochschule für jüdische Studien in Heidelberg. Momentan lebt er in Jerusalem. Sein exegetischer Text erschien zunächst in der schweizerischen Zeitschrift Tachles